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Bekanntmachung einer Stellungnahme der Strahlenschutzkommission (SSK) „Langfristige Sicherung der Kompetenz auf dem Gebiet der Strahlenforschung und -anwendung in Deutschland − Wichtigste wissenschaftliche Disziplinen und Hauptakteure in der Forschung“

geralt (CC0), Pixabay
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Bundesministerium
für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit
und Verbraucherschutz

Bekanntmachung
einer Stellungnahme der Strahlenschutzkommission (SSK)
„Langfristige Sicherung der Kompetenz auf dem Gebiet der Strahlenforschung
und -anwendung in Deutschland − Wichtigste wissenschaftliche Disziplinen
und Hauptakteure in der Forschung“

Vom 11. Januar 2022

Nachfolgend wird die Stellungnahme der Strahlenschutzkommission (SSK), verabschiedet in der 312. Sitzung der Kommission am 9. Juni 2021, bekannt gegeben (Anlage).

Bonn, den 11. Januar 2022

S II 2 – 1702/​004-2022.0001

Bundesministerium
für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit
und Verbraucherschutz

Im Auftrag
Engelhardt

Anlage

Langfristige Sicherung
der Kompetenz auf dem Gebiet
der Strahlenforschung und -anwendung in Deutschland –
Wichtigste wissenschaftliche Disziplinen
und Hauptakteure in der Forschung

Stellungnahme der Strahlenschutzkommission

Verabschiedet in der 312. Sitzung der Strahlenschutzkommission am 9. Juni 2021

Inhalt

1 Einleitung

2 Gesellschaftliche Relevanz der Strahlenforschung

2.1 Beitrag der Strahlenforschung zu aktuell relevanten Forschungsinitiativen

2.2 Beitrag der Strahlenforschung zur Risikokommunikation

3 Ionisierende Strahlung

3.1 Von internationalen Gruppierungen benannte Forschungsfelder

3.1.1 ALLIANCE

3.1.2 CONCERT

3.1.3 EURADOS

3.1.4 EURAMED

3.1.5 EURAMET

3.1.6 ICRP

3.1.7 MELODI

3.1.8 NERIS

3.1.9 SHARE

3.2 Aus Sicht der SSK für Deutschland wichtige Forschungsbereiche und damit verbundene Zukunftsperspektiven

3.2.1 Strahlenbiologie

3.2.2 Strahlenepidemiologie

3.2.3 Strahlenrisikobewertung

3.2.4 Radioökologie

3.2.5 Strahlenmesstechnik

3.2.6 Dosimetrie

3.2.7 Notfallschutz

3.2.8 Medizinische Anwendungen ionisierender Strahlung

3.3 Relevante Forschungseinrichtungen in Deutschland

3.3.1 Vorgehensweise

3.3.2 Identifizierung von aktiven Forschungsakteuren

3.3.3 Die wichtigsten Akteure in den identifizierten Forschungsbereichen

3.4 Diskussion

3.4.1 Die identifizierten Forschungsbereiche

3.4.2 Die identifizierten Forschungsakteure

4 Nichtionisierende Strahlung – Ultraviolette Strahlung

4.1 Von internationalen Organisationen benannte Forschungsfelder

4.2 Aus der Sicht der SSK für Deutschland wichtige Forschungsbereiche

4.2.1 Strahlenbiologie

4.2.2 Strahlenepidemiologie

4.2.3 Strahlenrisikobewertung

4.2.4 Medizinisch-therapeutische Anwendung von UV-Strahlung

4.2.5 Strahlenmesstechnik und Dosimetrie – photobiologische Bewertung

4.3 Relevante Forschungseinrichtungen in Deutschland

4.3.1 Vorgehensweise

4.3.2 Die wichtigsten Forschungsnehmer in den Forschungsbereichen

4.4 Diskussion

4.4.1 Die identifizierten Forschungsbereiche

4.4.2 Die identifizierten Forschungsakteure

5 Nichtionisierende Strahlung – Weitere Elektromagnetische Felder unterhalb des UV-Frequenzbereichs (Bestandsaufnahme)

5.1 Identifizierung wichtiger Forschungsbereiche

5.2 Forschungseinrichtungen in Deutschland

5.2.1 Vorgehensweise

5.2.2 Identifizierung von im Rahmen der Ressortforschung des BMU geförderten Forschungsnehmern

5.3 Diskussion

6 Zusammenfassung und Bewertung

7 Literatur

1 Einleitung

Jedes einzelne Mitglied unserer Gesellschaft ist dauerhaft ionisierender und nichtionisierender Strahlung aus unterschiedlichsten Quellen ausgesetzt. Dies betrifft sowohl das berufliche als auch das private Umfeld, sichtbare und unsichtbare, natürliche und künstlich erzeugte, „nützliche“ und „schädliche“ Strahlung. Seitdem die Wissenschaft im vorletzten Jahrhundert die Existenz von ionisierender Strahlung erkannte, werden deren Nutzen und Risiken erforscht und vielfältig gesellschaftlich diskutiert. Viele wissenschaftliche und technologische Entwicklungen sind mit dem Auftreten von ionisierender Strahlung verbunden oder nutzen ihre gezielte Anwendung (z. B. bei medizinischen Anwendungen, in der Raumfahrt, bei der Nutzung von Beschleunigern, beim Rückbau kerntechnischer Anlagen). Dabei geht es sowohl um diagnostische und analytische Methoden als auch um Verfahren zur gezielten Veränderung bzw. Beeinflussung von Materialeigenschaften und von biologischem Gewebe wie bei der Krebstherapie. Demgegenüber steht das Risiko der strahleninduzierten Entstehung von z. B. Krebs- und Herz-Kreislauferkrankungen. Zunehmend stehen auch Nutzen und Risiken nichtionisierender Strahlung im gesellschaftlichen Diskurs: der schnelle technologische Fortschritt führt zu einer stetig wachsenden Exposition durch nichtionisierende Strahlung, beispielsweise im Bereich der digitalen Vernetzung mittels Mobilfunk und WLAN oder bei niederfrequenteren elektrischen und magnetischen Feldern im Bereich der Energieversorgung oder Entwicklung der Elektromobilität. Zudem erhöht sich auch das Bewusstsein für die privaten und beruflichen Risiken durch Nutzung von Laserstrahlung sowie durch natürliche und künstliche UV-Exposition.

Um eine gesellschaftlich sinnvolle Nutzung von Strahlung sicher zu ermöglichen, und um die damit verbundenen, zum Teil sehr langfristigen Risiken zu erkennen, zu kommunizieren und ihnen zu begegnen, ist eine hohe wissenschaftliche Kompetenz erforderlich. Zur Erlangung, zum Erhalt und zum Ausbau dieser Kompetenz wird eine aktive interdisziplinäre Forschung benötigt. Auf Basis dieser Kompetenz können sinn- und verantwortungsvolle Strahlenanwendungen sowie wissenschaftlich fundierte Strahlenschutzkonzepte entwickelt und umgesetzt werden. Nur so kann die Strahlenforschung in bestmöglicher Weise zum Wohle der Gesellschaft und zur Entwicklung des Forschungs- und Industriestandorts Deutschland beitragen. Unter Strahlenforschung wird in dieser Stellungnahme die Erforschung dessen verstanden, was im Zusammenhang mit dem Vorkommen und dem Einsatz ionisierender und nichtionisierender Strahlung letztlich dem Nutzen und dem Schutz der Gesundheit des Menschen dient. Hierfür ist sowohl Grundlagenforschung als auch angewandte Forschung notwendig.

Bereits in ihrer Empfehlung von 2006 sah die Strahlenschutzkommission (SSK) die Notwendigkeit, in Deutschland insbesondere in Zusammenhang mit der Krebsforschung „die Kompetenz auf allen Gebieten der Strahlenforschung mit besonderer Betonung des Strahlenschutzes zu erhalten und langfristig zu verbessern“. Besonderes Augenmerk legte die SSK dabei auf eine Förderung der Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses, die nur auf der Basis exzellenter Forschung und kompetenter Lehre erfolgen könne. Die SSK identifizierte drei Forschungsschwerpunkte, in denen die Strahlenforschung in Deutschland gefördert werden sollte, und schlug Forschungsprojekte vor zu Themen, für die die SSK „die dringende Notwendigkeit des Kompetenzerhalts“ sah. Im Jahr 2007 wurde dann auf Initiative der Bundesministerien für „Bildung und Forschung“ (BMBF)

und „Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit“ (BMUB) der Kompetenzverbund Strahlenforschung (KVSF) gegründet. Ziel war es, „die Strahlenforschung durch eine Zusammenarbeit von Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen neu zu beleben und damit nachhaltig zu stärken“ (SSK 2006). Gleichzeitig wurde durch das BMBF ein Programm initiiert, im Rahmen dessen bis heute effektiv und kontinuierlich nationale Forschungsprojekte gefördert werden. Mit den Förderbekanntmachungen des BMBF zur nuklearen Sicherheits- und Strahlenforschung konnten bis 2017 rund 140 Forschungsvorhaben gefördert werden (KVSF 2018). Mehr als 150 Stellen für Doktorandinnen und Doktoranden sowie für Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler konnten damit besetzt werden. Die Initiative des KVSF führte zudem in den ersten zehn Jahren ihres Bestehens zu mehr als 80 Abschlüssen für Diplom-, Bachelor- und Masterarbeiten, und die Forschungsergebnisse konnten in mehr als 150 Publikationen in hochrangigen Zeitschriften veröffentlicht werden (KVSF 2018). Durch diese Forschungsprojekte wurde die Zusammenarbeit der in Deutschland tätigen Forschungsgruppen nachhaltig gestärkt.

Durch den Reaktorunfall in Fukushima wurde der Gesellschaft erneut das mit der ionisierenden Strahlung verbundene Risiko bewusst. Obwohl in der Folge in Deutschland der Atomausstieg beschlossen wurde, der gegenwärtig in Umsetzung begriffen ist, ist dennoch klar, dass wegen des fehlenden internationalen Konsenses in dieser Frage und wegen der Langlebigkeit der involvierten Strahlenquellen in Deutschland auch in Zukunft insbesondere auch im Notfallschutz über lange Zeit hohe Kompetenz benötigt wird. Die eingangs dargestellten weiteren Quellen der Strahlenexposition der Bevölkerung, einschließlich des stetig zunehmenden Einsatzes ionisierender Strahlung in der medizinischen Diagnostik und die damit verbundenen Risiken, sind ohnehin davon unberührt und weiterhin gesellschaftlich von Bedeutung. Wegen dieser Betrachtungen beobachtet die SSK mit Sorge, dass innerhalb der deutschen Forschungslandschaft der Strahlenforschung in den letzten Jahren eine zunehmend geringere Relevanz beigemessen wird.

In einem Beratungsauftrag vom 11. November 2020 hat das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU) die SSK gebeten, die im Jahr 2006 formulierte Empfehlung der SSK zum Thema „Langfristige Sicherung des Kompetenzerhaltes auf dem Gebiet der Strahlenforschung in Deutschland“ (SSK 2006) zu überprüfen und gegebenenfalls zu überarbeiten. Dabei sollte die SSK die Frage beantworten, „wer zukünftig in Deutschland noch die Möglichkeit haben wird, Grundlagenforschung im Strahlenschutz zu betreiben, und welche Maßnahmen zur Förderung der Strahlenforschung ergriffen werden können“ mit dem Ziel, einen Maßnahmenkatalog zu erstellen „durch dessen Umsetzung die Forschung im Bereich ionisierender und nichtionisierender Strahlung in Deutschland gestützt und die Kompetenz langfristig gesichert werden kann“. Besonderes Augenmerk sollte die SSK dabei auf eine mögliche Neuausrichtung der institutionellen Forschungsförderung richten. In einem ersten Schritt bat das BMU zeitnah bis Anfang 2021 „um Identifizierung der wichtigsten Kompetenzfelder sowie Akteure zur langfristigen Sicherstellung des Kompetenzerhalts in der Strahlenforschung“.

Die folgende Stellungnahme der SSK beschäftigt sich mit einer Bestandsaufnahme der Strahlenforschung. Dies schließt Ansätze der Grundlagenforschung ebenso wie auch anwendungsorientierte Forschung ein. Einschränkend sei gesagt, dass es z. B. in der Medizin sowohl angewandte Forschung als auch Grundlagenforschung gibt, bei der Ziele der Strahlenforschung zwar mitbetroffen sind, aber das in diesen Bereichen beschäftigte Personal und die bestehenden Strukturen nicht primär den Zielen der Strahlenforschung und des Strahlenschutzes dienen, sondern anderen Zielen wie z. B. der Therapieoptimierung oder der Verminderung von Nebenwirkungen. Aus diesem Grunde findet derartige Forschung in der Bestandsaufnahme keine Berücksichtigung, obwohl sie für die Strahlenforschung potenziell relevant sein kann.

Für diese Bestandsaufnahme sollen die für die Strahlenforschung in Deutschland wichtigsten Forschungsbereiche und in der Forschungslandschaft aktiven Institutionen, im Folgenden auch als Akteure bezeichnet, identifiziert werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Strahlenforschung ein überaus interdisziplinäres Fachgebiet darstellt. Die Beurteilung von Nutzen, Risiken und Schäden durch ionisierende und nichtionisierende Strahlung und somit die Vertretbarkeit ihrer Anwendung im Interesse sowohl einzelner Personen als auch der Gesellschaft ist nur im Zusammenspiel verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen möglich. Wenn in Deutschland die Kompetenz in der Strahlenforschung erhalten bleiben oder gar ausgebaut werden soll, kann dies nicht in einigen wenigen Einrichtungen stattfinden. Vielmehr stellt dies eine Herausforderung dar, der nur durch eine abgestimmte Zusammenarbeit vieler in der Forschungslandschaft aktiven Institutionen begegnet werden kann. Damit die Strahlenforschung im Wettbewerb mit anderen Forschungsfeldern als attraktiver Forschungsbereich wahrgenommen wird, müssen aktuelle Forschungsthemen unter Verwendung moderner wissenschaftlicher Methoden (z. B. aus der Molekularbiologie, durch den Einsatz künstlicher Intelligenz, unter Ausnutzung der Digitalisierung) bearbeitet werden. Forschung wird üblicherweise unter Zuhilfenahme von Parametern wie der Zahl der Publikationen, ihrer Impact-Faktoren oder der Höhe eingeworbener Drittmittel gemessen. Auch in der Strahlenforschung soll dies dazu beitragen, ein hohes wissenschaftliches Niveau zu gewährleisten. Allerdings muss darüber hinaus berücksichtigt werden, dass zur Erhaltung und Erweiterung der Kompetenz in diesem für das Allgemeinwohl wichtigen Gebiet eine langfristige institutionelle und finanzielle Absicherung der Strahlenforschung notwendig ist. Eine derartige Absicherung ist in Deutschland aus Sicht der SSK nur noch eingeschränkt gegeben.

Die Forschungslandschaft in Deutschland besteht im Wesentlichen aus drei Säulen, den Universitäten und Hochschulen, den institutionell geförderten Forschungseinrichtungen und den Ressortforschungseinrichtungen des Bundes, die auch zur Strahlenforschung Beiträge liefern (Abb. 1). Forschungsaktivitäten im Bereich der Industrie konnten in diesem Rahmen nicht berücksichtigt werden.

Abb. 1: Die wichtigsten Säulen der Strahlenforschung in Deutschland. Unter „institutionell geförderte Forschungseinrichtungen“ zählt die SSK z. B. die Fraunhofer-Gesellschaft, die Helmholtz-Gemeinschaft, die Leibniz-Gemeinschaft und die Max-Planck-Gesellschaft. Zu den Ressortforschungseinrichtungen zählen z. B. das Bundesamt für die Sicherheit in der kerntechnischen Entsorgung (BASE), das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS), die Bundesanstalt für Arbeitsmedizin und Arbeitsschutz (BAuA), die Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM), die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) und das Institut für Radiobiologie der Bundeswehr (InstRadBioBw).

Abb. 1: Die wichtigsten Säulen der Strahlenforschung in Deutschland. Unter „institutionell geförderte Forschungseinrichtungen“ zählt die SSK z. B. die Fraunhofer-Gesellschaft, die Helmholtz-Gemeinschaft, die Leibniz-Gemeinschaft und die Max-Planck-Gesellschaft. Zu den Ressortforschungseinrichtungen zählen z. B. das Bundesamt für die Sicherheit in der kerntechnischen Entsorgung (BASE), das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS), die Bundesanstalt für Arbeitsmedizin und Arbeitsschutz (BAuA), die Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM), die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) und das Institut für Radiobiologie der Bundeswehr (InstRadBioBw).

Für die aktuelle Bestandsaufnahme wurden als wichtige Akteure in der grundlagenorientierten Strahlenforschung jene Universitäten und Hochschulen, institutionell geförderte Forschungseinrichtungen und Ressortforschungseinrichtungen des Bundes identifiziert, die seit Gründung des KVSF im Jahr 2007 im Rahmen der Initiative zum Erhalt und dem Ausbau der Kompetenz auf dem Gebiet der Strahlenforschung in Deutschland, im Folgenden KVSF-Initiative genannt, vom BMBF geförderte Forschungsprojekte durchführten bzw. noch durchführen (Stand Ende 2020; insgesamt 159 Projekte). Davon können 150 Projekte dem Bereich der ionisierenden Strahlung und neun dem Bereich der UV-Strahlung zugeordnet werden.

Zudem wurden die Vorhaben, die im Rahmen des Ressortforschungsplans Strahlenschutz des BMU im Zeitraum von 2010 bis 2020 vergeben wurden, ausgewertet. Insgesamt handelt es sich dabei um 205 Projekte. Dabei wurden Vorhaben von der Betrachtung ausgenommen, die nach einer Rahmenvereinbarung über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der kerntechnischen Sicherheit, des Strahlenschutzes und der nuklearen Ver- und Entsorgung zwischen der Bundesregierung Deutschland, vertreten durch das BMU, und der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) gGmbH vergeben wurden. Von den insgesamt 205 Vorhaben/​Projekten aus dem BMU Ressortforschungsplan konnten 158 Vorhaben dem Bereich der ionisierenden Strahlung zugeordnet werden, fünf Vorhaben befassten sich mit dem Themenfeld der UV-Strahlung und 36 Vorhaben wurden im Bereich Elektromagnetischer Felder (EMF) gefördert. Weitere sechs Vorhaben, davon vier aus dem Bereich optische Strahlung, eines aus dem Bereich Ultraschall sowie ein allgemein rechtliches Projekt, werden im folgenden Text nicht weiter betrachtet.

Die Ressortforschung ist u. a. Gegenstand der „Bedarfsanalyse Strahlenschutz“, die von einem Projektteam bestehend aus BMU, Bundesamt für Strahlenschutz (BfS), Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE), Gesellschaft für Zwischenlagerung (BGZ) und Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) erarbeitet wurde und demnächst veröffentlicht wird. Mit ihren Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten dienen die Ressortforschungseinrichtungen „als Ratgeber für politische Entscheidungen und tragen dazu bei, die technische Infrastruktur der Bundesrepublik zu erhalten und weiterzuentwickeln. In dieser wichtigen Funktion greifen die Ressortforschungseinrichtungen aktuelle gesellschaftliche, wissenschaftliche und wirtschaftliche Probleme auf und erarbeiten Handlungsoptionen für staatliche Maßnahmen“ (www.ressortforschung.de).

Der SSK ist dabei bewusst, dass Projekte, die sich im weiteren Sinne mit Strahlenforschung beschäftigen, auch durch andere Einrichtungen (wie z. B. durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die Europäische Kommission, durch Stiftungen wie die Volkswagenstiftung oder die Deutsche Krebshilfe, durch Länderprogramme, durch intra-muros-Programme von Forschungszentren und Ressortforschungseinrichtungen des Bundes, andere von Bundesministerien geförderte Projekte etc.) oder auch durch Forschungsaktivitäten in der Industrie Unterstützung erfahren. Hier war die Datenlage allerdings nicht einheitlich, so dass der Rechercheaufwand für eine adäquate Berücksichtigung zu groß geworden wäre. Die Vielzahl potenzieller Mittelgeber sieht die SSK als Hinweis, dass die Strahlenforschung in Deutschland von einer engeren Vernetzung und verbesserten Koordination der Mittelgeber profitieren könnte. Es ist nicht auszuschließen, dass mit dem von der SSK gewählten Ansatz vereinzelt Forschungsakteure in bestimmten Forschungsbereichen nicht berücksichtigt wurden. Die SSK hält es allerdings für wahrscheinlich, dass große Forschungsinstitutionen im Bereich der Strahlenforschung nur in Einzelfällen alleinig von diesen Einrichtungen gefördert werden und dass die meisten Forschungsinstitutionen in der vorliegenden Stellungnahme daher erfasst werden.

Im Folgenden wird zunächst in Abschnitt 2 die gesellschaftliche Relevanz der Strahlenforschung erläutert. Danach werden in Abschnitt 3 für die ionisierende Strahlung diejenigen Wissenschaftsdisziplinen identifiziert, die aus Sicht der SSK für die Forschung an und mit Strahlung am wichtigsten sind, ausgehend von Forschungsschwerpunkten, die aus Sicht internationaler Organisationen für erforderlich gehalten werden, um den Schutz der Bevölkerung vor den negativen Auswirkungen von Strahlung in einem ganzheitlichen Ansatz sicher zu stellen und langfristig zu verbessern. Diese Wissenschaftsdisziplinen bzw. Forschungsbereiche spiegeln bis zu einem gewissen Grad auch die fachliche Gliederung der SSK in ihre verschiedenen Ausschüsse wider: „Strahlenrisiko“ (A1), „Strahlenschutz in der Medizin“ (A2), „Radioökologie“ (A3), „Strahlenschutztechnik“ (A4), „Notfallschutz“ (A5) und „Angewandter Strahlenschutz und Strahlenschutz bei Anlagen“ (A7). Die Wissenschaftsdisziplinen des im Ausschuss (A6) behandelten Gebietes „Nicht­ionisierende Strahlung“ werden in den Abschnitten 4 und 5 behandelt. Die SSK beschäftigt sich also mit dem Schutz vor beiden Strahlenarten. International hat sich dagegen eine Arbeitsteilung herausgebildet, bei der sich die Internationale Strahlenschutzkommission (International Commission on Radiological Protection, ICRP) mit dem Schutz vor den negativen gesundheitlichen Auswirkungen nach Exposition durch ionisierende Strahlung befasst und die Internationale Kommission zum Schutz vor nichtionisierender Strahlung (International Commission on Non-Ionizing Radiation Protection, ICNIRP) entsprechend den Bereich der nichtionisierenden Strahlung abdeckt.

Den identifizierten Forschungsschwerpunkten werden jeweils die identifizierten Forschungsakteure aus der oben genannten institutionellen Bestandsaufnahme zugeordnet und die Ergebnisse diskutiert. Wegen Ähnlichkeiten zur ionisierenden Strahlung bezüglich Forschungsstruktur und Wissensstand wird dabei in Abschnitt 4 zunächst separat auf den Bereich UV-Strahlung eingegangen. Der folgende Abschnitt 5 präsentiert eine Bestandsaufnahme der komplexen Forschungssituation in den anderen Bereichen der nichtionisierenden Strahlung. Schließlich werden in Abschnitt 6 die Ergebnisse zusammenfassend bewertet.

2 Gesellschaftliche Relevanz der Strahlenforschung

Das Spannungsfeld zwischen Nutzen und Risiken von ionisierender Strahlung für das Individuum und die Gesellschaft wird z. B. in der Medizin besonders deutlich. Durch die Fortschritte in der Röntgendiagnostik und Computertomografie (CT) ist die Erkennung, Behandlung und Heilung vieler Erkrankungen heute eine Selbstverständlichkeit, vom Herzinfarkt über Schlaganfälle oder Frakturen bis zu Krebserkrankungen, bei denen höhere Strahlendosen auch sehr wirkungsvoll zur Behandlung eingesetzt werden. Damit verbunden ist allerdings die Tatsache, dass die medizinische Diagnostik in Deutschland den mit weitem Abstand größten Beitrag künstlicher Quellen an der Strahlenexposition der Bevölkerung darstellt, mit seit vielen Jahren steigender Tendenz. Laut UNSCEAR (United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation) erhöhte sich beispielsweise die globale mittlere effektive Dosis durch diagnostische Verfahren in der Medizin von 0,35 mSv im Jahr 1988 auf 0,62 mSv im Jahr 2008 (UNSCEAR 2010). Dieser Trend setzte sich fort: In Deutschland nahm nach dem Parlamentsbericht 2018 des BMU die mittlere Anzahl von CT-Untersuchungen pro Kopf der Bevölkerung und Jahr von 2007 bis 2016 um gut 45 % zu (BMU 2021). Im Jahr 2018 war die Bevölkerung in Deutschland durch künstliche und natürliche Quellen ionisierender Strahlung im Mittel einer jährlichen effektiven Dosis von knapp 4 mSv ausgesetzt, wovon etwa 50 % auf medizinische Anwendungen zurückgingen (BfS 2019). Der Strahlenschutz in der Medizin ist daher bezüglich der kollektiven Dosis relevant und unterliegt hohen Auflagen. Durch jahrelange Bemühungen im Bereich von Risikokommunikation, Schulung und strahlenschutztechnischer Optimierung ist es heute selbstverständlich, dass besonders strahlungsarme Verfahren, wie die gepulste Durchleuchtung oder die Low-Dose-Computertomografie, zur Routine gehören, der alternative Einsatz anderer Methoden unter Verwendung z. B. nichtionisierender Strahlung angestrebt wird und zugleich die Beschäftigten effektiv geschützt werden. Dadurch wird trotz der zunehmenden Nutzung moderner radiologischer Technologien die kollektive Dosis begrenzt und zudem das Vertrauen der Bevölkerung in die eingesetzten Methoden gestärkt. Zudem ermöglichen neue Entwicklungen in diesem Gebiet gerade auch der deutschen Industrie die Markteinführung neuer oder die Optimierung bestehender Produkte, was zu einer optimalen Gesundheitsversorgung der Bevölkerung und zugleich zu einer besseren Wertschöpfung beiträgt. Dafür unabdingbar ist eine breite Kompetenz im Strahlenschutz.

Darüber hinaus gibt es eine Reihe weiterer Anwendungen ionisierender Strahlung, z. B. in der Materialprüfung, bei der Sterilisation von u. a. Arzneimitteln, medizinischem Zubehör, Kosmetika und Lebensmitteln. Auch beim Rückbau kerntechnischer Anlagen sowie bei der Zwischen- und Endlagerung schwach-, mittel- und hochradioaktiver Abfälle, von denen für die Gesellschaft zumindest einige noch über lange Zeiträume relevant sein werden, kann auf eine State-of-the-Art-Kompetenz im Strahlenschutz nicht verzichtet werden. Die Strahlenforschung hat die Aufgabe, die Grundlagen für die sichere Nutzung der ionisierenden Strahlung bei allen vorgenannten Anwendungen zu erarbeiten.

Die gesellschaftliche Bedeutung der Strahlenforschung für Individuum und Gesellschaft wird auch im Bereich der nichtionisierenden Strahlung z. B. bei den gesundheitlichen Auswirkungen von Expositionen durch UV-Strahlung deutlich. Die Exposition durch UV-Strahlung der Sonne betrifft die gesamte Bevölkerung. UV-Strahlung – solar oder künstlich – ist der Hauptrisikofaktor für die Entstehung von Hautkrebs. Im Jahr 2009 wurde natürliche und künstliche UV-Strahlung von der International Agency of Cancer Research (IARC) als Karzinogen der Klasse 1 („carcinogenic to humans“) eingruppiert (IARC 2009). Wie gesellschaftlich relevant die Auswirkungen der Exposition durch sowohl natürliche als auch künstliche UV-Strahlung in Deutschland sind, zeigt sich an der hohen Anzahl von ca. 276 000 jährlichen Neuerkrankungen an Hautkrebs (Malignes Melanom, Plattenepithelkarzinom und Basalzellkarzinom) (Katalinic 2020) und daran, dass das Plattenepithelkarzinom der Haut seit 2015 bei im Freien Beschäftigten als Berufskrankheit (BK 51031) anerkannt ist. Die Strahlenforschung hat großen Anteil an der Erkennung, Kommunikation und Vermeidung der langfristigen Risiken der Exposition durch UV-Strahlung. Idealerweise resultiert dies, neben der Verhütung individuellen Leids, in einer Reduktion der sozio-ökonomischen Belastung durch den Verlust von Lebensjahren und den Ressourcen-Verbrauch im Gesundheitswesen.

Unterhalb des UV-Frequenzbereiches schließen sich der optische und der infrarote Spektralbereich an, dann folgt der klassische EMF-Spektralbereich hauptsächlich für Funkanwendungen und darunter derjenige für die elektrische Energieübertragung einschließlich der Gleichstromübertragungen (aktuelles Beispiel sind die „Stromautobahnen“ als sogenannte HGÜ-Leitungen für Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung). Im Bereich der Energieübertragung spricht man genau genommen nicht mehr von „Strahlung“, sondern man muss für den Schutz des Menschen das elektrische und das magnetische Feld als zwei voneinander unabhängige physikalische Größen bewerten.

Innovationen durch immer neue elektrotechnische Anwendungen und Entwicklungen lassen häufig auch die Frage aufkommen, ob die damit gegebenen neuen Feldexpositionen für den Menschen mit neuen und/​oder zusätzlichen Risiken verbunden sein könnten. Da jedwede elektrotechnische Anwendung Feldexpositionen zur Folge hat, ist die zusätzlich zu natürlichen Feldquellen bedingte, ubiquitäre Feldexposition durch alle elektrotechnischen Anwendungen also ständigen Änderungen unterworfen. Aktuelle Beispiele hierfür sind die Einführung des 5G-Netzes und der Stromleitungsausbau im Rahmen der Energiewende. Dies betrifft auch das sich in Entwicklung befindende 6G-Netz. Diese Beispiele haben zu umfangreichen gesellschaftlichen Diskussionen über mögliche neue Risiken geführt. Häufig wird dabei auch ein Forschungsdefizit reklamiert, obwohl klare wissenschaftliche Konzepte zu den heutigen, hohen Schutzstandards bei Feldexpositionen geführt haben, die darüber hinaus nicht von der spezifischen Technologie abhängig sind. Für die Aufrechterhaltung der entsprechenden Forschungs-, Beurteilungs- und insbesondere auch Kommunikationskompetenz, d. h. einer angemessenen Breite wissenschaftlicher Aktivitäten wie auch aktiv sich einbringender Personen in Deutschland, sind aber klare Defizite zu konstatieren. Dies kann alleine schon daran abgelesen werden, dass bei entsprechenden Ausschreibungen für wissenschaftliche Forschungsprojekte, z. B. über das BfS im Rahmen der BMU-Ressortforschungspläne, teilweise keine Anträge eingingen.

2.1 Beitrag der Strahlenforschung zu aktuell relevanten Forschungsinitiativen

Im gesellschaftlichen Diskurs werden nach demokratischer Meinungsbildung politische Ziele gesetzt und angegangen. Im Sinne dieser Ziele fördert die Bundesregierung auf der Grundlage von Fach- bzw. Rahmenprogrammen konkrete Forschungs- und Entwicklungsvorhaben (FuE-Vorhaben), die den Wissensstand in für Deutschland wich­tigen Anwendungsbereichen vorantreiben und in vielen Branchen auch als Wachstumsbeschleuniger wirken. So können sich sowohl Unternehmen der gewerblichen Wirtschaft als auch Hochschulen, Forschungszentren und andere FuE-Institutionen an den Forschungsförderprogrammen beteiligen. Viele dieser Anwendungsbereiche berühren Themen, die naturgemäß auch in der Strahlenforschung betrachtet werden. Aktuelle Beispiele für solche Bereiche sind

die „Hightech-Strategie 2025“2 mit Themen wie „Krebs bekämpfen“, „künstliche Intelligenz in die Anwendung bringen“, „Forschung und Versorgung digital vernetzen – für eine intelligente Medizin“,
die „Nationale Dekade gegen Krebs“3 mit dem Ziel, „die Krebsforschung in den Bereichen Prävention, Früherkennung, Diagnostik und innovative Therapien weiter zu stärken und zielgerichtet voranzutreiben“,
die „Nationale Strategie für Künstliche Intelligenz“4 mit Initiativen wie „Nutzbarkeit von KI-Systemen im Gesundheitssektor fördern“ und „KI-Leuchttürme für Umwelt, Klima, Natur und Ressourcen“5 oder
die Strategie der Bundesregierung zur Energiewende6 (mit Themen wie Wasserstoff, Mobilität und Ausstieg aus der Kernenergie).

Die Strahlenforschung kann sich aus Sicht der SSK zu diesen Strategien und Initiativen sehr produktiv einbringen, sofern die Kompetenz in der Strahlenforschung und die von ihr benötigte Forschungsinfrastruktur entsprechend weiterentwickelt werden. Als interdisziplinäres Forschungsgebiet, welches Bezüge zu den Themenbereichen Grundlagenforschung, Medizin, Umwelt und Digitalisierung aufweist, kann sie zur Verfolgung der eben genannten strategischen Ziele der Bundesregierung wichtige Beiträge leisten. Zudem kann die Strahlenforschung als Modell zur Beantwortung von gesellschaftlich wichtigen Fragen dienen, z. B. bei der Erforschung von Mechanismen, die nach Exposition durch DNA-schädigende Agenzien bei der Entstehung von Krankheiten wie Krebs eine Rolle spielen, bei der Bewertung von Risiken oder bei der Entwicklung von Kommunikationsstrategien. Bereits in der Vergangenheit hat die Strahlenforschung zu wichtigen Erkenntnissen der biologischen Grundlagenforschung maßgeblich beigetragen, z. B. in den Bereichen DNA-Reparatur und Zellzykluskontrolle. Langfristig haben diese Erkenntnisse zur Entwicklung von Therapieansätzen und Medikamenten geführt.

Es ist daher aus Sicht der SSK wichtig, die Strahlenforschung in die nationalen Forschungsstrategien nachhaltig zu integrieren. Da die Zuständigkeiten für die Strahlenforschung bei verschiedenen Ressorts und Behörden liegen, ist dies bisher allenfalls nur eingeschränkt gelungen, was eine koordinierte Integration der Strahlenforschung in eine breitere nationale Forschungslandschaft erschwert. Angesichts der absehbaren zukünftigen Herausforderungen für den Wissenschafts- und Innovationsstandort Deutschland ist dies ein klarer Nachteil. Es wirkt sich auf die Konkurrenzfähigkeit deutscher Forschung auf verschiedenen Gebieten aus, wie z. B. dem Einsatz neuer Strahlentherapiemethoden in der Medizin, bei neuen Bildgebungsverfahren für die Diagnostik, dem sachgerechten Rückbau kerntechnischer Anlagen und der Entsorgung radioaktiver Abfälle sowie der Suche nach innovativen Lösungen zum Zwecke des Strahlenschutzes vor natürlichen Strahlungsquellen (UV, Radon). Auch im Hinblick auf die Gestaltung des digitalen Wandels, der insbesondere Datenverarbeitung und Messtechnik im Bereich des stark regulierten Strahlenschutzes berührt, ist eine kooperativ integrierte Strahlenforschung gefragt. Hier gilt es, z. B. Bürokratie abzubauen und das Daten- und Dienstleistungsangebot zu verbessern. Dabei sind auch die Hemmnisse insbesondere in der medizinischen Forschung durch besonders strikte und regional unterschiedliche Regelungen des Datenschutzes zu erwähnen.

Auch bei der Einführung neuer Technologien ist eine integrierte Forschungsstrategie unter Berücksichtigung der ionisierenden und nichtionisierenden Strahlung relevant (z. B. bei der Entwicklung von Ultrakurzpulslasern oder von lasergestützten Protonen- oder Röntgenquellen, der Einführung neuer Modalitäten in der Krebstherapie, der Einführung des 5G- und der Entwicklung des 6G-Netzes etc.). Insbesondere sollte die Strahlenforschung bei der begleitenden Vorlaufforschung bzw. bei Technikfolgenabschätzungen (z. B. bei der Messung von Strahlenfeldern oder der Abschätzung von Strahlenrisiken) stärker berücksichtigt werden.

2.2 Beitrag der Strahlenforschung zur Risikokommunikation

Fachkompetenz ist zudem unabdingbar für eine sachgerechte, zielführende und ethisch kompetente Risikokommunikation. Ohne diese ist auch im Bereich der ionisierenden und nichtionisierenden Strahlung kaum ein Konsens zu erzielen. Die SSK hat die gesellschaftlichen Folgen der Anwendung verschiedener Arten der Risiko- und Krisenkommunikation beim Umgang mit den Reaktorunfällen in Tschernobyl und Fukushima über viele Jahre beobachtet und eingeordnet, und die daraus gezogenen Lehren sind letztlich in den aktuellen Notfallschutzplan des Bundes eingeflossen (SSK 2015). Wie nach den Reaktorunfällen in Tschernobyl und Fukushima wird auch in der gegenwärtigen Pandemiesituation unmittelbar ersichtlich, dass die Kommunikation von Risiken in einer offenen Gesellschaft generell eine wesentliche Rolle spielt – idealerweise kann sie die Basis eines sachgerechten und zielführenden Umgangs der Gesellschaft mit Bedrohungen sein. Die vergleichende Analyse von Alltagsrisiken unterschiedlicher Quellen (durch Chemikalien, Freizeitgewohnheiten, technologische Anwendungen etc.) kann eine Klammer darstellen, die viele wissenschaftliche Gebiete miteinander verbindet, da die Wahrnehmung von Risiken und der Umgang damit eng mit der gesellschaftlichen Akzeptanz verschiedenster privater und beruflicher Aktivitäten verknüpft ist. Jedoch sind bewusst eingegangene Risiken oft mit einem direkten persönlichen Nutzen verbunden, was die Vergleichbarkeit mit Strahlenrisiken in Bereichen wie z. B. der Entsorgung radioaktiver Abfälle erschwert. Hier ist eine enge Zusammenarbeit der Strahlenforschung mit z. B. dem Fachgebiet der Technikfolgenabschätzung sinnvoll.

Das Wissen um die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse allein reicht für eine gelungene Risikokommunikation jedoch nicht aus. Die Kenntnis und sachgerechte Aufarbeitung komplexer Zusammenhänge (z. B. durch allgemeinverständliche Darstellung der oben genannten Vergleiche von Lebensrisiken) sind dabei unabdingbar und können durch die Nutzung herkömmlicher und moderner Kommunikationskanäle (z. B. durch die Nutzung sozialer Medien) unterstützt werden, ersetzen aber nicht die wechselseitige Kommunikation zwischen den Betroffenen und der Wissenschaft. Insbesondere bei Maßnahmen zur primären Prävention, die eine Verhaltensänderung der Bevölkerung zum Ziel haben, sind gezielte, zielgruppenspezifische Kommunikationsstrategien notwendig, die über eine reine Vermittlung von Fakten hinausgehen und diskursbasiert erfolgen sollen. Die SSK sieht es als besonders wichtig an, neue Entwicklungen auf den Gebieten der Kommunikationstechnologien und vor allem der Kommunikationswissenschaften kontinuierlich zu verfolgen und zeitnah für die Kommunikation strahleninduzierter Risiken aber auch der potenziellen Vorteile des Einsatzes von ionisierender und nichtionisierender Strahlung zu nutzen. Dies gilt insbesondere auch für den radiologischen Notfallschutz.

Umgekehrt ist es sinnvoll, die im Bereich der Strahlenforschung gewonnenen Erkenntnisse über Risikokommunikation auch für andere gesellschaftlich relevante Risikofelder nutzbar zu machen. Dies könnte hilfreich sein bei grundsätzlichen Fragen, die die Folgen der Einführung oder des Ausbaus neuer Technologien für eine Gesellschaft betrachten. Was beeinflusst z. B. die Akzeptanz neuartiger Techniken durch die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft? Wie können Interessengruppen in Entscheidungsprozesse eingebunden werden, die von einer neuen Technologie entweder Vor- oder Nachteile erwarten? Welche Risiken ist die Gesellschaft als Ganzes bereit zu tragen? Wann ist es ethisch vertretbar, Einzelnen, Gruppen oder gar zukünftigen Generationen zusätzliche Risiken zuzumuten, ohne dass sie selbst davon profitieren?

Die SSK ist der Ansicht, dass die Beantwortung derartiger Fragen eines engen Austauschs mit allen gesellschaftlich relevanten Gruppen bedarf. Aus Sicht der SSK könnte die Strahlenforschung hier in Zukunft entsprechend ihrer gesellschaftlichen Verantwortung eine Brücke schlagen und im Sinne eines ganzheitlichen Ansatzes die Zusammenarbeit zwischen der Naturwissenschaft und den Geistes- und Sozialwissenschaften intensivieren.

3 Ionisierende Strahlung

Bei internationalen Organisationen besteht Einigkeit, dass es Beiträge aus verschiedenen wissenschaftlichen Diszi­plinen bedarf, um auf der Basis aktueller Strahlenforschung sinn- und verantwortungsvolle Strahlenanwendungen sowie wissenschaftlich fundierte Strahlenschutzkonzepte zu entwickeln und umzusetzen. Dazu zählen sowohl grundlagenorientierte als auch anwendungsorientierte Disziplinen einschließlich naturwissenschaftlicher, medizinischer, technologischer und geisteswissenschaftlicher Fächer.

3.1 Von internationalen Gruppierungen benannte Forschungsfelder

Im Folgenden werden die Forschungsfelder, die von europäischen und internationalen Gruppierungen für die Strahlenforschung als wichtig angesehen werden, kurz beschrieben.

3.1.1 ALLIANCE

ALLIANCE (European Radioecology Alliance) ist ein Verbund von 26 institutionellen Mitgliedern aus 13 europäischen Ländern (davon aus Deutschland (Stand 2021) das Bundesamt für Strahlenschutz, das Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf, das Johann Heinrich von Thünen-Institut und die Leibniz Universität Hannover). Der Verbund hat das Ziel, die Kompetenz und experimentelle Infrastruktur in der Radioökologie in Europa zu erhalten und zu verbessern. Dabei werden wissenschaftliche und die Ausbildung betreffende Fragestellungen berücksichtigt, die für die Einschätzung des Einflusses von radioaktiven Substanzen auf den Menschen und die Umwelt relevant sind.

Im neuesten Positionspapier (Juni 2017) werden kurz- und mittelfristige Forschungsschwerpunkte für die Radioökologie zusammengefasst, die aus Sicht von ALLIANCE bearbeitet werden sollten, um die für den Strahlenschutz von Mensch und Umwelt benötigten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu verbessern und die damit verbundenen Unsicherheiten bei Risikoabschätzungen zu verringern (ALLIANCE 2017). Dazu werden vier Forschungsschwerpunkte benannt.

Zwei der Schwerpunkte haben zum Ziel, die Unsicherheiten bei der Dosisabschätzung für Mensch und Umwelt zu verringern:

1.
Untersuchungen des Verhaltens von Radionukliden in verschiedenen Ökosystemen unter Berücksichtigung physikalischer, chemischer und biologischer Prozesse und die Entwicklung validierter Modelle, um dieses Verhalten zu beschreiben, und
2.
Entwicklung von Verfahren zur Testung derartiger Modelle mit dem Ziel, Maßnahmen zur Dekontamination bei langfristigen Expositionsszenarien zu unterstützen, wie z. B. nach kerntechnischen Unfällen oder bei Vorhandensein von natürlichen radioaktiven Stoffen.

Zwei weitere Schwerpunkte sind hauptsächlich darauf ausgerichtet, bei strahleninduzierten Effekten durch eine Verringerung der Unsicherheiten den Schutz von Flora und Fauna zu verbessern:

3.
Identifizierung von Biomarkern für Strahlenexposition und -effekte in lebenden Organismen mit dem Ziel, bei der chronischen Exposition mit niedrigen Strahlendosen Unterschiede in der Strahlenempfindlichkeit innerhalb einer Art oder zwischen verschiedenen Arten zu bestimmen, und
4.
das Zusammenspiel verschiedener Stressoren und deren Einfluss auf strahleninduzierte Effekte in lebenden Organismen zu verstehen.

3.1.2 CONCERT

Im Rahmen des durch die Europäische Kommission im Rahmenprogramm Horizon 2020 geförderten Projekts CONCERT (European Joint Programme for the Integration of Radiation Protection Research; Partner aus Deutschland: Bundesamt für Strahlenschutz, Helmholtz Zentrum München) wurden auf der Basis der Forschungsagenden der in diesem Abschnitt erwähnten europäischen Forschungsplattformen (MELODI, EURADOS, EURAMED, ALLIANCE, NERIS) die folgenden Herausforderungen („Challenges“) identifiziert (EJP-CONCERT 2020):

1.
Verständnis und Quantifizierung gesundheitlicher Effekte ionisierender Strahlung,
2.
Verbesserung von Dosiskonzepten,
3.
Verständnis der Wirkung ionisierender Strahlung auf Flora und Fauna sowie auf ganze Ökosysteme,
4.
Optimierung der Anwendung ionisierender Strahlung in der Medizin,
5.
Verbesserung des beruflichen Strahlenschutzes,
6.
Entwicklung eines ganzheitlichen Ansatzes zur Risikobewertung nach Umweltkontaminationen,
7.
Optimierung von Notfall- und Sanierungsmaßnahmen und
8.
gesellschaftliche Bedeutung des Strahlenschutzes.

3.1.3 EURADOS

Im Jahr 2014 legte EURADOS (European Radiation Dosimetry Group) eine auf 20 Jahre ausgelegte europäische Forschungsagenda für die Dosimetrie ionisierender Strahlung vor (Rühm et al. 2014, Rühm et al. 2016). EURADOS ist ein Verbund aus 79 (Stand 2020) europäischen Institutionen (Forschungszentren, Universitäten, Kliniken, Dosismessstellen etc.), die sich mit der Dosimetrie ionisierender Strahlung befassen (mit den deutschen Mitgliedern Berthold Industries, Bundesamt für Strahlenschutz, Envinet, Helmholtz Zentrum München, Karlsruher Institut für Technologie, Physikalisch-Technische Bundesanstalt, Technische Universität Dresden). Die Mission von EURADOS ist, die Forschung und Entwicklung in der Dosimetrie europaweit zu koordinieren und voranzutreiben sowie die Harmonisierung von Messtechniken und Messverfahren zu unterstützen.

In der 2020 überarbeiteten Forschungsagenda werden fünf Ziele definiert, die die europäische Forschung in der Dosimetrie ionisierender Strahlung leiten sollen:

1.
Weiterentwicklung grundlegender Dosiskonzepte und -größen,
2.
Verbesserung der Dosimetrie epidemiologischer Kohorten, um daraus abgeleitete Schätzungen des Strahlenrisikos zu verbessern,
3.
Entwicklung effizienter Methoden zur Dosisbestimmung bei radiologischen Notfällen,
4.
Entwicklung von Ansätzen personalisierter Dosimetrie für medizinische Anwendungen und
5.
Verbesserung des Strahlenschutzes von Beschäftigten und der Bevölkerung.

Für jedes dieser Ziele werden wissenschaftliche Herausforderungen („Challenges“) und dafür geeignete Forschungsaktivitäten („Research Lines“) genannt. Voraussetzungen für die Erreichung aller fünf formulierten Ziele sind gemäß der EURADOS-Agenda die europaweite Harmonisierung von Verfahren zur Dosisbestimmung, Engagement in der Aus- und Weiterbildung sowie die Weiterentwicklung von numerischen Methoden in der Dosimetrie (Bottollier-Depois et al. 2020, Harrison et al. 2021).

3.1.4 EURAMED

EURAMED (European Alliance for Medical Radiation Protection Research) ist die Dachorganisation von fünf euro­päischen Fachgesellschaften mit Interesse an der medizinischen Anwendung ionisierender Strahlung – EANM (European Association of Nuclear Medicine), EFOMP (European Federation of Organisations for Medical Physics), EFSR (European Federation of Radiographer Societies), ESR (European Society of Radiology) und ESTRO (European Society for Radiotherapy and Oncology). Als deutsche institutionelle Mitglieder werden die Universitätsmedizin Mainz und das BfS gelistet. EURAMED verfolgt unter anderem das Ziel, die europäische Forschung im Bereich des medizinischen Strahlenschutzes zu koordinieren, gemeinsame und für den medizinischen Strahlenschutz relevante Forschungsthemen zu identifizieren, den Einsatz ionisierender Strahlung in der Medizin zu verbessern und die Anliegen von Interessengruppen vermittelnd zu berücksichtigen.

Im Jahr 2017 legte EURAMED mit Unterstützung aller Mitgliedsorganisationen eine strategische Forschungsagenda vor (EANM et al. 2017). Darin werden im Hinblick auf den Strahlenschutz die folgenden Forschungsthemen als für eine effektive medizinische Versorgung besonders wichtig genannt:

1.
Unterstützung medizinischer Anwendungen ionisierender Strahlung durch Messungen in relevanten Strahlenfeldern und Bestimmung der damit verbundenen Unsicherheiten,
2.
Untersuchung von strahleninduzierten Gewebereaktionen, Erkrankungen (Krebs- und benigne Erkrankungen) und gesundheitlichen Langzeiteffekten unter Berücksichtigung von Dosis, Dosisleistung und individueller Strahlenempfindlichkeit,
3.
Optimierung von Strahlenexpositionen und Harmonisierung der zu deren Bestimmung angewandten Verfahren unter Berücksichtigung moderner technologischer Entwicklungen,
4.
Rechtfertigung der Anwendung ionisierender Strahlung und
5.
Entwicklung von Infrastruktur zur Unterstützung der Qualitätssicherung.

Darüber hinaus wird Aus- und Weiterbildung von sowohl forschendem als auch klinischem Personal als wichtig angesehen.

3.1.5 EURAMET

Die Darstellung und Weitergabe der Einheiten der ionisierenden Strahlung (Bq, Gy und Sv) erfolgt in Europa unter dem Dach von EURAMET (European Association of National Metrology Institutes), der europäischen Metrologie-Organisation (deutsches Mitglied: Physikalisch-Technische Bundesanstalt; assoziierte Mitglieder aus Deutschland: Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung, Umweltbundesamt, Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit). EURAMET koordiniert die Zusammenarbeit der Nationalen Metrologie-Institute (NMI) in Bereichen wie der Forschung in der Metrologie, der Rückführbarkeit von Messungen auf SI-Einheiten und der internationalen Anerkennung von Messungen auf der Basis der nationalen Qualitätsinfrastruktur7.

Im Zusammenhang mit der Planung eines zukünftigen europäischen Metrologie-Förderprogramms wurde in einem ersten Schritt im September 2020 unter Beteiligung von Vertretern und Vertreterinnen 45 nationaler und internationaler Organisationen aus 23 Ländern eine vorläufige Gap-Analyse erarbeitet (EURAMET 2021). In den folgenden Bereichen wurden Defizite identifiziert und Forschungs- und Entwicklungsbedarf gesehen:

1.
Neue Strahlenreferenzfelder (z. B. gepulste Felder an Beschleunigern, Zugang zu 137Cs als Material für Referenzquellen, realistische Neutronenfelder, Referenzfelder für epithermische und hochenergetische Neutronen),
2.
Umgang mit neuen Messgrößen im Strahlenschutz (z. B. Einfluss auf Dosimeter bzgl. Zulassung und Kalibrierung),
3.
Ausbildung und praktisches Training,
4.
Messtechnik aufgrund aktueller Entwicklungen (z. B. ISO 17025 (DIN EN ISO/​IEC 17025:2018-03), intelligente Messtechnik, geprüfte Messtechnik für Radon und Thoron) und des allgemeinen technologischen Wandels (Digitalisierung, gestiegene grundlegende technische Anforderungen an Geräte und Software sowie neue messtechnische Verfahren für den Notfallschutz und die Überwachung im Rahmen des EURATOM-Vertrags (EAG 1959), wie z. B. Ortsdosisleistungsmessung mittels drohnengetragener Systeme oder Alpha-Kontaminationsmessung über optische Methoden),
5.
Aktivitätsstandards (z. B. für neue Radionuklide in der Nuklearmedizin, Verfügbarkeit von Aktivitätsstandards und Referenzmaterialen, Massenspektrometrie für langlebige Alphaemitter in Umweltproben),
6.
Administrative und technische Harmonisierung (z. B. die Vereinheitlichung des Grenzwert- und Unsicherheitskonzepts, neue digitale Datenformate „Digitales-SI“. (Das digitale SI-System wird jeden digitalen Datentransfer berühren, der Daten mit einer SI-Einheit (also auch Bq, Gy, Sv) enthält.)

3.1.6 ICRP

Die 1928 gegründete internationale Strahlenschutzkommission (International Commission on Radiological Protection, ICRP) entwickelt Empfehlungen, wie ohne Behinderung nützlicher Anwendungen sicher mit ionisierender Strahlung umgegangen werden kann. Im Jahr 2017 hat die ICRP zehn Forschungsgegenstände aufgeführt, deren erfolgreiche Bearbeitung aus Sicht der ICRP zu einem besseren Strahlenschutz beitragen würde (ICRP 2017):

1.
Effekte von zeitlich ausgedehnten Strahlenexpositionen bei niedrigen Dosisleistungen,
2.
Mechanismen, die Strahleneffekten nach Exposition mit niedrigen Dosen zugrunde liegen sowie die zugehörigen Dosiswirkungsmodelle,
3.
die organspezifische Strahlenempfindlichkeit in Abhängigkeit von Alter und Geschlecht,
4.
der Beitrag genetischer Faktoren zur Strahlenempfindlichkeit,
5.
weitere nachteilige Strahleneffekte (außer Krebserkrankungen und genetische Effekte) und ihr Beitrag zum Strahlendetriment,
6.
die Bedeutung von Strahlenexpositionen, -dosen und -effekten für die Lebensfähigkeit von Flora und Fauna,
7.
die Zuverlässigkeit von Dosisbestimmungen,
8.
Methoden der Dosimetrie und des Strahlenschutzes in der Medizin,
9.
ethische und soziale Dimensionen des Strahlenschutzsystems und
10.
Mechanismen zur Einbeziehung von Interessengruppen.

3.1.7 MELODI

MELODI (Multidisciplinary European Low-Dose Initiative) ist eine europäische Vereinigung von 44 institutionellen Mitgliedern (mit den deutschen Mitgliedern (Stand 2019) Bundesamt für Strahlenschutz, Helmholtz Zentrum München, Karlsruher Institut für Technologie, KVSF, Universität Rostock), die sich mit der Erforschung von biologischen Wirkungen und gesundheitlichen Effekten niedriger Strahlendosen beschäftigen. Seit 2010 benennt und beschreibt MELODI jährlich Forschungsschwerpunkte, deren Bearbeitung zu einem verbesserten Verständnis der Wirkungen und Effekte niedriger Dosen ionisierender Strahlung auf den Menschen beitragen kann. Weitere Aktivitäten der Vereinigung betreffen die Einbeziehung von Interessengruppen bei der Identifizierung von Forschungsbedarf und den Austausch mit internationalen Partnern. In der letzten Aktualisierung von 2019 nannte MELODI zwei Forschungsschwerpunkte und zwei schwerpunktübergreifende Themen:

Forschungsschwerpunkte:

1.
Dosis- und Dosisleistungsabhängigkeit des Krebsrisikos,
2.
Dosis- und Dosisleistungsabhängigkeit der Risiken für Nicht-Krebserkrankungen.

Schwerpunktübergreifende Themen:

3.
Individuelle Unterschiede bei der Strahlenempfindlichkeit,
4.
Einfluss von räumlichen und zeitlichen Dosisänderungen auf das Erkrankungsrisiko.

Jede dieser Kernfragen wird in der Forschungsagenda unter zwei Gesichtspunkten diskutiert:

Forschung zum besseren Verständnis der Mechanismen, die zu strahleninduzierten Erkrankungen nach Exposition bei niedrigen Dosen und Dosisleistungen beitragen,
Epidemiologische Forschung, die, wo möglich und informativ, biologische Ansätze integriert, um die Bewertung von Gesundheitsrisiken zu verbessern (MELODI 2019).

3.1.8 NERIS

NERIS (European Platform on Preparedness for Nuclear and Radiological Emergency Response and Recovery) bietet ein Forum für Dialog und methodische Entwicklungen im europäischen Notfallschutz. Mitglieder sind Organisationen, die sich mit möglichen Schutzmaßnahmen im Fall kerntechnischer und radiologischer Notfälle sowie mit Maßnahmen im Nachgang derartiger Ereignisse befassen. Zum Stand 2020 waren 67 Organisationen als Mitglieder gemeldet (davon aus Deutschland Bundesamt für Strahlenschutz, Karlsruher Institut für Technologie, Institut für Strahlenbiologie der Bundeswehr, Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit, Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Verkehr Baden-Württemberg).

Aus der Sicht von NERIS besteht in den folgenden Bereichen Forschungsbedarf (NERIS 2019):

1.
Verbesserung von hydrologischen Modellen einschließlich Modellierung städtischer und mariner Umgebung,
2.
Anwendung von Nahrungskettenmodellen auf lokaler Ebene zur Entwicklung von radiologischen Gegenmaß­nahmen,
3.
Verbesserung von Dosisvorhersagen unter Berücksichtigung von Umgebungsmessungen und Personendosen,
4.
Verbesserung der Dosisüberwachung durch Einbeziehung von Messungen interessierter Mitglieder der Bevölkerung, durch den Einsatz von Drohnen sowie durch europaweite Harmonisierung der dafür verwendeten Instrumente und Methoden,
5.
Entwicklung von Messmethoden zur Unterstützung praktischer Gegenmaßnahmen,
6.
Erarbeitung von Empfehlungen für Entscheidungsträger,
7.
Entwicklung von Strategien zur Aufhebung von Gegenmaßnahmen,
8.
Verbesserung der Einbeziehung von Interessengruppen,
9.
Entwicklung von Handlungsempfehlungen nach einem radiologischen Unfall (z. B. für Evakuierung, Entschädigung etc.) und
10.
Entwicklung von Ansätzen zur medizinischen Überwachung, Dosisrekonstruktion und Berücksichtigung psychologischer und ökonomischer Aspekte medizinischer Nachsorge.

3.1.9 SHARE

SHARE (Social Sciences and Humanities in Ionising Radiation Research) ist eine europäische Vereinigung von 30 Mitgliedern (25 Institutionen, davon aus Deutschland (Stand Oktober 2020) das Bundesamt für Strahlenschutz und die gemeinnützige Gesellschaft für Kommunikations- und Kooperationsforschung mbH DIALOGIK sowie fünf Einzelpersonen), die sich mit dem Ziel zusammengeschlossen haben, die Integration von Sozial- und Geisteswissenschaften in allen Belangen voranzutreiben, die ionisierende Strahlung betreffen (Forschung, Anwendung, Politik).

In ihrer kürzlich veröffentlichten Forschungsagenda identifizierte SHARE sechs übergreifende wissenschaftliche Themen (Perko et al. 2019; SHARE 2020):

1.
Soziale, politische und psychologische Aspekte, die Wahrnehmungen, Erwartungen, Verhaltensweisen und Anwendungen in Bezug auf ionisierende Strahlung beeinflussen,
2.
ganzheitliche Ansätze zur Lenkung von Strahlenexpositionssituationen,
3.
Verantwortung bei der Forschung und Entwicklung im Bereich ionisierender Strahlung,
4.
Einbeziehung von Interessengruppen bei der Anwendung ionisierender Strahlung,
5.
Risiko- und Gesundheitskommunikation und
6.
Strahlenschutzkultur.

3.2 Aus Sicht der SSK für Deutschland wichtige Forschungsbereiche und damit verbundene Zukunftsperspektiven

Ausgehend von den Forschungsfeldern, die aus Sicht der oben aufgeführten internationalen Gruppierungen zum Erhalt und zur Verbesserung des Schutzes vor ionisierender Strahlung eine zentrale Rolle spielen, hat die SSK die für Deutschland wichtigen Forschungsbereiche identifiziert. Wegen des interdisziplinären Charakters des Fachgebiets „Strahlenschutz“ ist es offensichtlich, dass die folgenden identifizierten Forschungsbereiche für alle Ausschüsse der SSK direkt oder indirekt relevant sind. Dabei spiegeln die gelisteten Forschungsbereiche die Themen der Ausschüsse wider. Die Reihenfolge stellt jedoch keine Priorisierung entsprechend der Bedeutung dieser Forschungsbereiche dar.

3.2.1 Strahlenbiologie

Die Strahlenbiologie untersucht die Mechanismen der Entstehung von Gesundheitseffekten nach Strahlenexposition (z. B. Krebs, Herz-Kreislauferkrankungen, neurologische und kognitive Störungen) und identifiziert Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens beeinflussen (z. B. genetische Faktoren, Lebensstil oder Medikation). Damit bildet die Strahlenbiologie eine wichtige Grundlage für die Bewertung gesundheitlicher Risiken durch ionisierende Strahlung und daher auch für die Strahlenmedizin und alle weiteren Gebiete, die sich mit den gesundheitlichen Auswirkungen von Strahlung beschäftigen. Wichtige Fragestellungen für die Zukunft betreffen mechanistische Unterschiede in Abhängigkeit von zeitlicher und räumlicher Variation der Exposition, das Zusammenwirken von Strahlung mit anderen Risikofaktoren und die Möglichkeit zur Intervention, systemische Effekte (z. B. Modulation des Immunsystems), mögliche Biomarker für Strahleneffekte sowie die Grundlagen der individuellen Strahlensensitivität. Für den medizinischen Notfallschutz sind Erkenntnisse zu akuten aber auch chronischen Strahlenschäden und deren Weiterentwicklung unter Anwendung innovativer grundlagennaher Methoden äußerst wichtig.

Grundlegende neue Erkenntnisse in der Strahlenbiologie können erwartet werden von modernen Modellsystemen (z. B. Organoiden, orthotopen und syngenen Mausmodellen), High-Throughput-Analysen von kurzfristigen und längerfristigen strahleninduzierten Veränderungen (z. B. in Genom, Epigenom, Transkriptom, Proteom, Sekretom, Meta­bolom) sowie der systembiologischen Evaluierung und Verknüpfung von biologischen mit klinischen oder epidemiologischen Daten. Zudem legt die Strahlenbiologie den Grundstein für eine Weiterentwicklung strahlentherapeutischer Methoden hin zur Präzisionsmedizin. Eine intensive Auseinandersetzung mit mechanistischen Grundlagen ermöglicht Einsichten in Zusammenhänge, Voraussagen sowie schnelles Reagieren auf künftige, sich schnell ändernde Anforderungen im Strahlenschutz. Letztlich stellt die Strahlenbiologie ein wichtiges Bindeglied der Grundlagenforschung mit der angewandten Forschung dar.

Kompetenz in der Strahlenbiologie ist zur Untersuchung strahleninduzierter Veränderungen in biologischen Systemen deswegen in Deutschland auch in Zukunft unabdingbar. Angesichts neuester Entwicklungen, die auf einen Abbau der Forschungsaktivitäten in diesem Bereich in Deutschland hinauslaufen, sowie einer zunehmenden Konzentration auf anwendungsorientierte Forschung im Bereich der Strahlentherapie, betont die SSK, dass die breite Kompetenz in der Strahlenbiologie nur durch weiterhin aktiv betriebene Grundlagenforschung auf international führendem Niveau erhalten bzw. weiter aufgebaut werden kann.

3.2.2 Strahlenepidemiologie

In strahlenepidemiologischen Studien wird der Zusammenhang zwischen ionisierender Strahlung und verschiedenen Erkrankungen beim Menschen direkt untersucht. Strahlenepidemiologie ermöglicht die Quantifizierung der Höhe des Risikos und ist damit ein wesentlicher Bestandteil der Risikobewertung. Dabei ist für die Bevölkerung insbesondere das mögliche Auftreten von soliden Tumoren und Leukämien relevant und von großem Interesse. Hier kann man bei Dosen oberhalb von etwa 50 mGy bis 100 mGy Aussagen treffen. Wichtige Erkenntnisse sind weiterhin zu Nicht-Krebserkrankungen sowie zu Faktoren, die das Strahlenrisiko beeinflussen (Alter, Geschlecht, Lebensstil, andere Risikofaktoren, Strahlenqualität etc.), zu erwarten.

Momentan stellt die Studie an den Atombombenüberlebenden von Hiroshima und Nagasaki noch unsere wichtigste Wissensquelle zu den gesundheitlichen Spätfolgen einer Strahlenexposition dar. Für die Zukunft sind allerdings aus einer ganzen Reihe weiterer epidemiologischer Studien wichtige Beiträge zu erwarten, darunter insbesondere Studien an geheilten ehemaligen Krebspatientinnen und -patienten, die eine Strahlentherapie erhalten haben, sowie Studien an Kindern, die mit Hilfe von Computertomografie untersucht wurden. Mit der Kohorte der Uranbergarbeiter der Wismut-AG steht in Deutschland die weltweit größte Kohorte zur Untersuchung von strahleninduziertem Lungenkrebs zur Verfügung. Zudem erlaubt diese große berufliche Kohorte die Analyse einer Vielzahl weiterer strahlenepidemiologischer Fragestellungen. Auch gegenwärtig kontrovers diskutierte Themen wie das Auftreten von Leukämie bei Kindern durch Hintergrundstrahlung oder Radon erfordern Expertise im Bereich Strahlenepidemiologie. Neuere Ansätze wie molekularepidemiologische Studien oder die Einbeziehung strahlenbiologischer Erkenntnisse in die Epidemiologie sowie die Identifizierung von Subgruppen mit individueller Strahlenempfindlichkeit versprechen wichtige neue Erkenntnisse für den Strahlenschutz.

Die SSK erachtet es daher als wichtig, dass epidemiologische Untersuchungen zu gesundheitlichen Folgen ionisierender Strahlung nicht nur auf internationaler Ebene, sondern auch auf nationaler Ebene durchgeführt werden, damit auch Forscherinnen und Forscher in Deutschland die dafür nötige Expertise erwerben und anwenden können und Risiken für die deutschen Gegebenheiten bestimmt werden. Dies ist von besonderer Bedeutung, da gerade die Strahlenepidemiologie diejenigen strahleninduzierten gesundheitlichen Effekte beim Menschen untersucht, die für den Strahlenschutz besonders wichtig sind (Krebs, Leukämie, Herz-Kreislauferkrankungen etc.) und die auf keinem anderen Weg erfasst werden können.

3.2.3 Strahlenrisikobewertung

Die Bewertung des Risikos für strahleninduzierte gesundheitliche Schäden wie Krebs und Nicht-Krebserkrankungen fußt auf der Gesamtschau von Zellstudien, Tier- und Humanexperimenten sowie epidemiologischen Studien. Das Strahlenrisiko wird in der Gesellschaft unterschiedlich eingeschätzt. Für eine nüchterne und auf die Vor- und Nachteile der Anwendung ionisierender Strahlung fokussierte Diskussion ist eine möglichst genaue Bestimmung und Bewertung strahleninduzierter Risiken unabdingbar. Dies gilt besonders für Strahlendosen unterhalb etwa 100 mGy für Krebs und unterhalb von 500 mGy für Nicht-Krebserkrankungen. Dabei kann auch eine vergleichende Analyse der Wirkung anderer kanzerogener Stoffe (chemischer Noxen) hilfreich sein. Es wird erwartet, dass die Integration strahlenbiologischer Erkenntnisse und epidemiologischer Daten mithilfe molekularepidemiologischer Studien oder neuer, auf strahlenbiologischen Erkenntnissen basierender mechanistischer Modelle in Zukunft Risikoabschätzungen im Bereich niedriger Strahlendosen oder für besonders strahlenempfindliche Personen oder Personengruppen deutlich verbessern wird. Kompetenz auf diesem Gebiet ist wichtig, um auf die berechtigten Fragen der Bevölkerung zum Nutzen bzw. Risiko ionisierender Strahlung zufriedenstellend antworten zu können und insbesondere auch die Risiken genau erfassen zu können, die mit der immer breiteren diagnostischen Anwendung in der Medizin verbunden sind.

3.2.4 Radioökologie

Radioökologie ist die Wissenschaft vom Vorkommen und der Verteilung von Radionukliden in der Umwelt. Sie beschreibt die Wege der Radionuklide von der Umwelt zu und in Pflanzen, Tieren und Menschen bis hin zur resultierenden Strahlenexposition. Die Radioökologie zielt auf ein umfassendes Verständnis der zugrunde liegenden Prozesse unter Berücksichtigung der chemischen Form und der Wechselwirkung mit Mikroorganismen. Die Forschung erfolgt dabei sowohl auf makroskopischer als auch mit modernen analytischen Methoden auf mikroskopischer Ebene. Schwerpunkte der deutschen radioökologischen Forschung sind die Untersuchung des Einflusses von Emissionen aus kerntechnischen Anlagen und ehemaligen Uranabbaugebieten, z. B. in Sachsen, auf die Strahlenexposition der Bevölkerung, aber auch die Folgen der Reaktorunfälle in Tschernobyl und Fukushima. Nach dem Abschalten der Leistungsreaktoren in Deutschland wird die Radioökologie weiterhin benötigt, um die Emissionen aus deren Rückbau und die langfristige Vorhersage potenzieller Freisetzungen langlebiger Radionuklide durch geplante Endlager für schwach-, mittel- und hochradioaktiven Abfall über Zeiträume von bis zu einer Million Jahre zu modellieren. Ebenso sind die hiervon unabhängigen Emissionen aus der Herstellung von Radioisotopen und radioaktiven Quellen von Interesse, genauso wie das Verhalten kurzlebiger Radionuklide, die üblicherweise bei medizinischen Therapie- und Diagnoseverfahren in erheblichen Mengen in die Umwelt gelangen (z. B. 99mTc, 131I). Ein weiteres Arbeitsgebiet ist die Strahlenexposition durch natürlich vorkommendes Uran und Thorium und deren Zerfallsprodukte, insbesondere Radon-Isotope und deren Folgeprodukte, die den größten Anteil an der natürlichen Strahlenexposition der Bevölkerung ausmachen. Auch die erhöhte Strahlenexposition durch technologisch verstärkte natürlich vorkommende Radionuklide (NORM = Naturally Occurring Radioactive Materials) ist ein relevantes Forschungsthema, z. B. die Anreicherung der natürlichen Radioaktivität durch die Nutzung von Erdwärme in Geothermieanlagen oder durch die Anwendung von Fracking.

Um auf Fragen der Bevölkerung zu den Konsequenzen von Freisetzungen von radioaktiven Stoffen in die Umwelt auch in Zukunft kompetent und überzeugend antworten zu können – etwa bei radiologischen oder kerntechnischen Notfällen oder zur Sicherheit von Zwischen- und Endlagern radioaktiver Stoffe –, bedarf es Forschungsgruppen mit radioökologischer Expertise. Ein Anstieg der Förderung in diesem Forschungsbereich ist wichtig, da nach Kenntnis der SSK die institutionelle Unterstützung der radioökologischen Forschung in Deutschland nur noch am Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf erfolgt. Die SSK weist darauf hin, dass eine ausreichende Kompetenz im Bereich der Radioökologie auch für eine adäquate Reaktion von Regierung und Behörden auf einen radiologischen oder kerntechnischen Notfall unabdingbar ist.

3.2.5 Strahlenmesstechnik

Ionisierende Strahlung umfasst eine Vielzahl höchst unterschiedlicher Strahlenarten. Wichtig sind dabei die Strahlenenergie, die räumliche Verteilung der Ionisationsereignisse im betrachteten Material und die zeitliche Verteilung. Entsprechend bedarf es unterschiedlicher Infrastrukturen, um die für die Quantifizierung dieser Strahlenarten benötigten Messgeräte zu prüfen, zu kalibrieren und zu validieren. Die nationalen gesetzlichen Vorgaben dazu unterscheiden sich aufgrund der Strahlenart und sind nicht risikobasiert. Daneben gibt es im Rahmen von IEC8, ISO9 und DIN10 Normen für Referenzfelder, Verfahren und Messgeräte sowie Erläuterungen im Rahmen der Technical Reports Series der IAEA11 und Empfehlungen von ICRU12 und ICRP.

Die Entwicklung von Messtechnik unterliegt einer Fülle von gesetzlichen und qualitativen Vorgaben, die den Zugang von entsprechenden Anbietern zum kleinen deutschen Markt erschweren. Dies birgt die Gefahr eines Modernisierungsstaus, der bedauerlich wäre, da neue technologische Entwicklungen (neuartige Detektormaterialien, innovative Verfahren der Dosisbestimmung, Digitalisierung) auch neue Möglichkeiten in der Forschung eröffnen. Häufig sind für bestimmte Strahlenanwendungen geeignete Messgeräte noch gar nicht entwickelt und die benötigte Infrastruktur (zur Prüfung oder Kalibrierung) nicht vorhanden (z. B. für die gepulsten Strahlenfelder an medizinischen Beschleunigeranlagen oder an Ultrakurzpulslasern in der Industrie). Damit in Deutschland eigene neue technologische Entwicklungen, die auch das Auftreten von Feldern ionisierender Strahlung z. B. mit höheren Energien beinhalten, unterstützt werden können, sind kontinuierlich begleitende und abschließende Entwicklungen in der Strahlenmesstechnik erforderlich – möglichst in enger Zusammenarbeit mit der medizinischen Physik und der Industrie. Dabei müssen die Vergabe- und Kooperationsverfahren so gestaltet sein, dass es für die Industrie attraktiv ist, als Forschungsnehmer aufzutreten und Produkte zu entwickeln, die den nationalen gesetzlichen Regelungen genügen. Dies ist in den letzten Jahren immer weniger der Fall, so dass über den Verdrängungsprozess des Marktes in Deutschland eine Monopolbildung durch einige wenige Firmen eingesetzt hat. Die Folge ist, dass bereits einige gesetzliche Vorgaben nicht länger aufrechterhalten werden können und gesetzliche Ausnahmetatbestände geschaffen werden, z. B. wegen des Mangels an baumustergeprüfter Messtechnik.

Grundsätzlich berührt die Eignung einer bestimmten Messtechnik immer die Frage nach der Einhaltung eines Grenzwertes bzw. Referenzwertes. Somit ist auch der Umgang mit der Nachweis- und Erkennungsgrenze sowie der Messunsicherheit, die im Fall des Strahlenschutzes häufig erheblich ist, von fundamentaler Bedeutung: Wann ist ein Grenzwert sicher eingehalten?

Zusammenfassend ist die SSK der Ansicht, dass auch in Zukunft kontinuierliche Entwicklungen in der Strahlenmesstechnik – möglichst in enger und fachübergreifender Zusammenarbeit mit der Industrie – erforderlich sind, damit Deutschland bei den zu beobachtenden schnellen technologischen Entwicklungen nicht den Anschluss verliert.

3.2.6 Dosimetrie

Generell sind die Berechnung und Messung von Strahlendosen die Voraussetzung für die quantitative Bestimmung und Kommunikation strahleninduzierter Gesundheitseffekte und Risiken. Man unterscheidet Orts- und Personendosimetrie, wobei Dosimeter in der Strahlentherapie einen Sonderfall darstellen. Die gesetzlichen Anforderungen an die Messgeräte unterscheiden sich in der Qualität sehr stark. Somit ist die Qualität und die Belastbarkeit der Ergebnisse abhängig von der Strahlenart13, nicht nur von der Höhe der Exposition.

Die Ausgabe von amtlichen Dosimetern für den beruflichen Strahlenschutz und ihre Auswertung erfolgt über Messstellen, die ihre Ergebnisse an das Strahlenschutzregister weitergeben. In diesem Zusammenhang ist die Entwicklung von smarten vernetzten Messgeräten technologisch unausweichlich. Dabei kommt der Weitergabe von zertifizierten Daten, wie z. B. individuellen Strahlenexpositionen, eine zunehmende Bedeutung zu. Der digitale Wandel benötigt geeignete Datenformate, die im Rahmen des Metadatenformats des digitalen SI entwickelt werden. Die sichere Datenerhebung und der sichere Datentransfer von Expositionsinformationen muss dabei neu gedacht werden. Entsprechende Konzepte gibt es im gesetzlichen Messwesen, aber die Implementation ist für den Strahlenschutz bisher nicht vorgesehen. Ähnliche Auswirkungen der digitalen Transformation sind auch im Bereich der Überwachung der Ortsdosisleistung und der Radioaktivität in der Umwelt nach der Verordnung über die Zuständigkeiten von Bundesbehörden im integrierten Mess- und Informationssystem für die Überwachung der Umweltradioaktivität nach dem Strahlenschutzgesetz (IMIS-ZustV 2017) zu erwarten. Diese Transformation sollte vorangetrieben werden, um technologisch für radiologische Ereignisse gerüstet zu sein und die Beteiligten personell zu entlasten.

Die Weiterentwicklung von Dosimetern ist eng mit dem Bereich „Messtechnik“ verknüpft. Ergänzend werden auch Monte-Carlo-Methoden zur Berechnung von Strahlendosen eingesetzt. Für derartige Berechnungen sind validierte Eingangsdaten die Grundlage. Die experimentelle Bestimmung derartiger Daten und deren Qualitätssicherung ist zwar sehr aufwendig und teuer, aber dennoch unverzichtbar.

Auch für die Weiterentwicklung der Strahlentherapie ist die genaue Bestimmung der applizierten Dosis zur Implementierung einer personalisierten Strahlentherapie von großer Bedeutung. Ähnliches gilt für eine für den individuellen Patienten oder die individuelle Patientin optimierte Diagnostik bzw. minimalinvasive Therapie unter Bildgebung mit ionisierender Strahlung. Hierbei ist es wichtig, dass tatsächlich Organdosiswerte der einzelnen Patienten oder Patientinnen bei jeder Maßnahme bestimmt werden.

In jüngster Zeit haben zudem die Umweltüberwachung im Rahmen des EURATOM-Vertrags (EAG 1959) und die notwendige europaweite Datenzusammenführung an wissenschaftlicher Bedeutung gewonnen. Die Verwendung neuartiger Detektoren kann die Umweltüberwachung und den Notfallschutz mittels nuklidspezifischer Informationen (Einsatz von Spektrometern als Umweltdosimeter) verbessern, Schnittstelle für die Klimabeobachtung sein und beim digitalen Wandel den Strahlenschutz auch auf der europäischen Ebene sichtbarer machen.

Die Dosisbestimmung nach externer und interner Exposition durch ionisierende Strahlung ist grundlegend für die Interpretation strahlenbiologischer Effekte und die Vorhersage möglicher gesundheitlicher Auswirkungen auf den Menschen und die Umwelt. Dosimetrie ist zudem unverzichtbar bei medizinischen Anwendungen ionisierender Strahlung (sowohl in der medizinischen Diagnostik als auch in der Strahlentherapie) und zentral für viele Fragestellungen im Notfallschutz. Als fachübergreifendes Gebiet, das sowohl apparative Entwicklungen als auch computergestützte Simulationen einschließt, ist sie für die Strahlenforschung und den Strahlenschutz existentiell und eine Sicherstellung der Kompetenz auf diesem Gebiet daher aus Sicht der SSK auch in Zukunft unverzichtbar.

3.2.7 Notfallschutz

Bund und Länder betreiben Vorsorge für eine ganze Reihe von Notfallszenarien mit dem Auftreten ionisierender Strahlung, die die Bevölkerung in ihrer Gesamtheit betreffen können (wie z. B. ein Unfall in einem Kernkraftwerk, terroristische Angriffe mit offenen radioaktiven Stoffen und mit explosiven Materialien). Schließlich sind auch Unfälle denkbar, bei denen eine vergleichsweise kleine Anzahl von Personen betroffen ist, z. B. beim Umgang mit in der Industrie oder Medizin verwendeten radioaktiven Quellen. Gesundheitliche Schäden durch ionisierende Strahlung weisen sowohl in der zu leistenden Diagnostik, dem klinischen Verlauf und den Erfordernissen für eine, dem aktuellen Wissenstand angemessene, individuelle medizinische Therapie zahlreiche Besonderheiten auf, die sie von anderen Notfällen stark unterscheiden. Um auf derartige Szenarien und Krankheitsbilder vorbereitet zu sein, ist die Kompetenz insbesondere im medizinischen Notfallschutz und der medizinischen Versorgung von entscheidender Bedeutung. Darüber hinaus sind bei einem radiologischen oder nuklearen Notfall Kompetenzen in allen hier explizit aufgeführten wissenschaftlichen Bereichen notwendig. Insgesamt soll in diesem Zusammenhang betont werden, dass es sich beim medizinischen Notfallschutz um ein eigenes Fachgebiet handelt, das zwar Überschneidungen mit dem Strahlenschutz in der medizinischen Diagnostik und Therapie hat, aber z. B. bezüglich der erforderlichen Kenntnisse in Strahlenbiologie und Technik inhaltlich einen anderen Fokus haben kann. Akute Strahlenschäden erfordern von den behandelnden Ärztinnen und Ärzten in den Kliniken Spezialkenntnisse und modifizierte Therapieschemata, die nicht allgemeiner Standard in der täglichen Routine sind. Das Wissen um diese für Deutschland seltenen Strahlenschäden kann nur durch internationalen Austausch aufrechterhalten werden. Dieser Austausch erfordert auch in Deutschland wissenschaftlich tätige Partner mit fundierten klinischen Kenntnissen. Da der medizinische Notfallschutz nicht in einem für den klinischen Alltag relevanten Fachgebiet in der notwendigen Tiefe „gelernt“ werden kann, steht qualifiziertes Personal hierfür zudem in ausreichender Breite nur dann zur Verfügung, wenn über lange Zeit ausreichend interessierte Personen und adäquate Schulungs-Kapazitäten und -Konzepte vorhanden sind.

Forschungen zur Weiterentwicklung des medizinischen Notfallschutzes in den Bereichen klinische Diagnostik, Therapie auch unter Einbeziehung des Einsatzes von innovativen Verfahren, wie der Nutzung von Stammzellen oder modellbasierter Verletzungsanalysen, der Neuentwicklung von Medikamenten oder der Versorgungsforschung, finden in Deutschland derzeit nur in sehr geringem Umfang statt.

Die SSK hat bereits vor kurzem in einer Empfehlung darauf hingewiesen, dass in der Versorgung in radiologischen und nuklearen Notfallszenarien in Deutschland deutliche Lücken existieren, und hat relevante Themenbereiche benannt, in denen die Forschung intensiviert werden sollte (SSK 2017a). Eine enge Verknüpfung der wenigen forschenden biologischen und medizinischen Einrichtungen mit klinisch tätigen Medizinerinnen und Medizinern ist dabei äußerst wichtig, um ein Minimalmaß an Kompetenz zu sichern. Für eine angemessene fachliche Expertise sind dabei Investitionen in die Forschungsbereiche, aber auch die Anbindung an mögliche Versorgungsstrukturen Voraussetzung.

Zu der physikalischen Dosimetrie kommen im Notfallschutz die klinische und die biologische Dosimetrie. Das breite Feld der biologischen Dosimetrie integriert für den Menschen nicht nur sehr verschiedenartige Expositionen, sondern wird möglicherweise auch durch die individuelle Reaktion des Individuums beeinflusst. Zur Untersuchung dieses Einflusses sind moderne Analysemethoden nötig. Forschungsbedarf besteht unter anderem in der Weiterentwicklung von diagnostischen, biologischen und klinischen Verfahren, die sowohl eine Sensitivität in Dosisbereichen deutlich unter 100 mSv bieten, als auch direkte klinische Steuerung (Effektprädiktion) ermöglichen. Hier zeigen sowohl klassische Verfahren der retrospektiven Dosimetrie wie auch Omics-Ansätze gerade in Verbindung mit modernen biostatistischen Verfahren, inklusive künstlicher Intelligenz, neue Ansatzmöglichkeiten. Zudem ist die Wiederbelebung grundlagennaher Forschung für neue Therapiekonzepte inklusive der Entwicklung von Medikamenten wichtig, damit sie nicht nur außereuropäischen Institutionen überlassen werden muss.

3.2.8 Medizinische Anwendungen ionisierender Strahlung

Die besondere Rolle ionisierender Strahlung in der Medizin zeigt sich daran, dass die meisten Bereiche der Strahlenforschung, die die SSK für Deutschland als wichtig ansieht, auch für medizinische Anwendungen (in der Radiologie, Strahlentherapie und Nuklearmedizin) relevant sind. So haben sich auch in der Medizin neben der rein praktischen Optimierung von Diagnostik und Therapie umfangreiche Forschungsaktivitäten und Kompetenzen zur Anwendung und biologischen Wirkung ionisierender Strahlung etabliert. Erkenntnisse der Strahlenbiologie zu Wirkmechanismen ionisierender Strahlung auf lebende Organismen (Zellen, Gewebe, Mensch) erstrecken sich über einen breiten Dosisbereich und verschiedene Strahlenqualitäten und sind daher in der Medizin sowohl für die Diagnostik als auch für die Therapie relevant. Zugleich liegen in der therapeutischen Nuklearmedizin und der Strahlentherapie umfangreiche klinische Erfahrungen mit der Prophylaxe und Therapie von Strahlenschäden nach hochdosierter Exposition vor. Es ist daher nicht verwunderlich, dass eine Reihe von strahlenbiologischen Forschungsinstituten an medizinischen Fakultäten angesiedelt ist, und dass aus derartigen Instituten in der Vergangenheit international konkurrenzfähige Beiträge zu wissenschaftlich hoch kompetitiven Themengebieten der Zell- und Tumorforschung hervorgegangen sind.

Radioökologische Verfahren zur Beschreibung des Verhaltens von Radionukliden in abgeschlossenen Systemen können auf die Biokinetik von Radiopharmazeutika im Menschen übertragen werden. Dies ist in der nuklearmedizinischen Diagnostik und Therapie wichtig. Zudem ermöglicht die nuklearmedizinische Bildgebung ein besseres Verständnis der Biodistribution von Radionukliden.

Strahlenmesstechnik und Dosimetrie sind nicht nur im Rahmen radiologischer Interventionen für den Patientenschutz unverzichtbar, sondern auch bei der therapeutischen Strahlenanwendung, wobei die für die Behandlung optimalen Tumordosen und die gleichzeitige Schonung von gesundem Gewebe sichergestellt werden müssen.

Forschung auf dem Gebiet der Strahlenepidemiologie und des Strahlenrisikos ist für die Abwägung von Schaden und Nutzen bei der Anwendung ionisierender Strahlung in der Medizin unabdingbar. Die Medizin verfügt über reiche Erfahrung in der Kommunikation von Nutzen und Risiken der Strahlenanwendung; in der obligaten Aufklärung von Patientinnen und Patienten stellt sie eine tägliche Routine dar und setzt eingehendes Fachwissen über die Wirkung von sehr kleinen und relativ hohen Strahlendosen voraus. Dies, zusammen mit dem „Amtsbonus“ der Medizin in der Risikokommunikation bei Unfällen, macht ihre Kompetenz für den Notfallschutz unverzichtbar. Für den Notfallschutz sind auch die oben genannten Kenntnisse von radiologisch erfahrenen Medizinerinnen und Medizinern sowie Medizinphysikerinnen und -physikern im praktischen Umgang mit Strahlenfolgen hochrelevant. Die Verbindung universitärer medizinischer Forschung mit grundlagenorientiert arbeitenden Forschungsinstituten bietet Chancen, weit über die klinische Tätigkeit hinausgehende Erkenntnisse für die nationale Gefahrenabwehr nach akzidenteller Strahlenexposition auch für mögliche Großschadensereignisse und terroristische Bedrohungen zu gewinnen. In diesem Zusammenhang ist die Entwicklung von innovativen diagnostischen und therapeutischen Strategien für den Umgang mit akuten und chronischen Strahlenschäden von besonderer Bedeutung.

In der Medizin erfolgt Strahlenforschung im Bereich der klinischen Anwendung von Strahlung in Diagnostik und Therapie, z. B. durch Evaluation und Weiterentwicklung bestehender Methoden sowie in der biologischen Grundlagenforschung. Strahlenforschung in der Medizin erfolgt hierbei in der Regel interdisziplinär in Zusammenarbeit mit Strahlenbiologie, medizinischer Physik, Radiopharmazie, Medizintechnik und/​oder Bildverarbeitung. Vielfach schließt sie auch eine Kooperation mit der medizintechnischen Industrie ein, die für eine Weiterentwicklung ihrer Technologie auf die Rückmeldung der Anwender angewiesen ist. Trotz der technologischen und eigenen Forschungskapazitäten der Industrie findet ein beträchtlicher Teil der Forschung in nicht-industriellen Forschungseinrichtungen statt, insbesondere die Grundlagenforschung sowie die klinische Evaluation. Aktuellen Entwicklungen in der Diagnostik, wie z. B. in der Spektral-Computertomografie sowie bei neuen Bildrekonstruktionstechniken, wobei teilweise Methoden der künstlichen Intelligenz Anwendung finden, ist eine langjährige Forschung an universitären und nicht-universitären Einrichtungen vorausgegangen. Dies gilt auch für moderne Entwicklungen in der Strahlentherapie, die vor allem auf eine Verbesserung der Konformität im Interesse einer Dosiserhöhung im klinischen Zielvolumen und Schonung des Normalgewebes zielen. Derartige Entwicklungen stellen jedoch, wie z. B. in der Therapie an MRT-Linac-Hybridgeräten oder der Partikeltherapie, völlig neue Anforderungen an die Immobilisation der Patientinnen und Patienten, die Zielvolumenberechnung und die Dosimetrie. Teilweise müssen für den klinischen Einsatz neuer technischer oder konzeptioneller Entwicklungen, wie z. B. die Hochpräzisions- oder Partikel-Bestrahlung, FLASH-Therapien oder die Kombination von Strahlentherapien und Systemtherapien, auch neue experimentelle Modelle entwickelt und beforscht werden. Die dafür nötige Expertise ist außer im Bereich Medizin in den Bereichen Strahlenbiologie und -physik und klinischer Strahlenbiologie angesiedelt. Die in der medizinischen Strahlenforschung gewonnenen Erkenntnisse haben in aller Regel Relevanz für die Wissensbasis im Strahlenschutz auch außerhalb der Heilkunde. Ein wesentlicher Aspekt aktueller Entwicklungen in therapeutischer wie diagnostischer Anwendung ionisierender Strahlung sind die zunehmenden Bestrebungen, die strahlenbasierte Medizin für den einzelnen Patienten bzw. die einzelne Patientin zu optimieren und so eine personalisierte Medizin anzubieten. Dabei spielt die strahlenbiologische Forschung genauso eine bedeutende Rolle wie Methoden der künstlichen Intelligenz und technologische Weiterentwicklungen der Strahlentherapie und der diagnostischen bildgebenden Systeme. Insbesondere in diesem Zusammenhang muss auch auf die Bedeutung der Sozialwissenschaften zur Einordnung der personalisierten Ansätze und beim Einsatz künstlicher Intelligenz hingewiesen werden.

Trotz moderner Entwicklungen zur Dosiseinsparung trägt die medizinische Strahlendiagnostik mit weiterhin ansteigender Tendenz zu einem wesentlichen Anteil der mittleren Strahlendosis in der Bevölkerung bei. Die Realität in Kliniken mit Zeit- und Kostendruck macht es trotz Fachkunde unrealistisch, dass kritisch abwägende Ärztinnen und Ärzte angeforderte Untersuchungen mit ionisierender Strahlung durch andere geeignete Verfahren, die ohne ionisierende Strahlung auskommen, ersetzen. Auf den ambulanten Sektor trifft dies in ähnlicher Weise zu. Folglich kommt es entscheidend auf Strahlenschutzkenntnisse bereits bei jener Person an, die eine Untersuchung anfordert. Ein gutes Wissen über die Risiken ionisierender Strahlung sowie Stärken und Schwächen alternativer bildgebender Verfahren, wie z. B. Ultraschall oder MRT, muss folglich bereits während des Studiums erworben werden. Hierauf hat die SSK bereits 2003 hingewiesen (SSK 2003). Der 2015 veröffentlichte Nationale Kompetenzbasierte Lernzielkatalog (NKLM 2015) führt Kenntnisse im Strahlenschutz lediglich als Lernziel auf.

Zusammenfassend ist die SSK der Ansicht, dass für die medizinische Versorgung der Bevölkerung eine Weiterentwicklung entsprechender Anwendungen ionisierender Strahlung in Diagnostik und Therapie einen wesentlichen Baustein darstellt. Aus dem weiter oben Gesagten ergibt sich zwingend, dass dann die verschiedenen zu diesem Prozess beitragenden Forschungsbereiche auch in Zukunft gefördert werden müssen.

3.3 Relevante Forschungseinrichtungen in Deutschland

3.3.1 Vorgehensweise

Zur Identifizierung von Einrichtungen, die in Deutschland in der grundlagen- und anwendungsorientierten Strahlenforschung aktiv sind, standen die folgenden Informationen zur Verfügung:

a)
eine Liste mit Forschungseinrichtungen, die im Rahmen der KVSF-Initiative ab 2008 Zuwendungen über die Förderbekanntmachungen des BMBF zur nuklearen Sicherheits- und Strahlenforschung (Grundlagenforschung) erhielten bzw. noch erhalten14,
b)
eine Liste der Auftrags- und Forschungsnehmenden, die von 2010 bis 2020 bei Ausschreibungen im Rahmen des Ressortforschungsplans Strahlenschutz des BMU erfolgreich waren.

Ziel einer vergleichenden Auswertung dieser Informationen war es, die in der Strahlenforschung in Deutschland im Bereich ionisierender Strahlung aktiven Akteure zu identifizieren, insbesondere unter Berücksichtigung der im Abschnitt 3.2 aufgeführten und von der SSK für Deutschland als wichtig identifizierten Forschungsbereiche. Dazu wurden 150 im Rahmen der KVSF-Initiative vom BMBF geförderte Forschungsvorhaben im Bereich ionisierender Strahlung ausgewertet. Die Fördervolumina der einzelnen Projekte und die Anzahl der an den einzelnen Projekten beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler konnten jedoch nicht berücksichtigt werden. Zudem wurden 158 Vorhaben aus dem Bereich ionisierender Strahlung ausgewertet, die im Rahmen des Ressortforschungsplans Strahlenschutz 2010 bis 2020 durch das BMU gefördert wurden bzw. noch werden. Dabei wurden Unterstützungsvorhaben nicht berücksichtigt, sondern der Schwerpunkt der Auswertung auf anwendungsorientierte Forschungsvorhaben gelegt.

An dieser Stelle sei betont, dass die erfolgreiche Einwerbung internationaler Drittmittel (z. B. bei Mitarbeit an EU-Projekten) in die Bewertung nicht mit einfließen konnte. Die SSK geht jedoch davon aus, dass international erfolgreiche deutsche Institutionen auch national aktiv waren bzw. noch sind, und diese daher größtenteils bereits in den Listen der im Rahmen der KVSF-Initiative vom BMBF bzw. im Rahmen des Ressortforschungsplans durch das BMU geförderten Institutionen erfasst sind. Allerdings ist der SSK bewusst, dass es in Deutschland auch Forschungseinrichtungen gibt, die aufgrund ihrer finanziellen Ausstattung weniger auf die Einwerbung von Drittmitteln angewiesen sind. Dies trifft z. B. auf das Institut für Radiobiologie der Bundeswehr zu.

3.3.2 Identifizierung von aktiven Forschungsakteuren

a)
Vom BMBF im Rahmen der KVSF-Initiative geförderte Forschungsvorhaben
Die der SSK vorliegende Liste umfasste 150 im Rahmen der KVSF-Initiative nach den Förderbekanntmachungen des BMBF zur Sicherheits- und Entsorgungsforschung aus den Jahren 2008 (BMBF 2008) und 2011 (BMBF 2011) sowie zur nuklearen Sicherheits- und Strahlenforschung aus dem Jahr 2019 (BMBF 2019) geförderte Projekte (Stand Ende 2020). Insgesamt konnten etwa 40 Institutionen mindestens eines der geförderten Forschungsprojekte einwerben.
Etwa die Hälfte der Projekte wurde von acht Institutionen bearbeitet (Helmholtz Zentrum München, Department of Radiation Sciences; Technische Universität Darmstadt, Fachbereich Biologie; Uniklinikum Hamburg-Eppendorf, Labor für Strahlenbiologie; GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung, Abteilung Biophysik; Universitäts­klinikum Essen, Medizinische Strahlenbiologie; Technische Universität Dresden, Bereich Medizin, Bereich Mathematik und Naturwissenschaften; Universitätsmedizin Mainz, Institut für Medizinische Biometrie, Epidemiologie und Informatik; Universitätsklinikum LMU München, Klinik für Strahlentherapie). Etwa ein Drittel der Projekte wurde von nur vier Institutionen bearbeitet (Helmholtz Zentrum München, Department of Radiation Sciences; Technische Universität Darmstadt, Fachbereich Biologie; Uniklinikum Hamburg-Eppendorf, Labor für Strahlenbiologie; GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung, Abteilung Biophysik).
Die Tatsache, dass die Hälfte der hier ausgewerteten durch das BMBF geförderten Projekte von nur acht Institutionen durchgeführt wurde bzw. noch wird, bedeutet im Umkehrschluss, dass 50 % der Projekte von vielen weiteren Forschungsnehmern bearbeitet wurden bzw. noch bearbeitet werden.
b)
Durch das BMU im Rahmen der Ressortforschung geförderte Forschungsvorhaben
Eine Forschungsförderung im Bereich angewandter Strahlenforschung im Rahmen der Ressortforschung des BMU erhielten 2010 bis 2020 insgesamt 158 Projekte zur ionisierenden Strahlung (ohne Unterstützungsprojekte und ohne Projekte, die ohne Ausschreibung vergeben wurden). Es fällt auf, dass unter den beteiligten Institutionen eine beträchtliche Anzahl an privatwirtschaftlichen Gutachterbüros zu finden ist. Elf Institutionen erhielten vier oder mehr Förderungen (Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) gGmbH; Helmholtz Zentrum München, Department of Radiation Sciences; Brenk Systemplanung GmbH; TÜV Nord AG und TÜV Süd AG; DIN Deutsches Institut für Normung e. V., Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie – BIPS GmbH, Städtisches Klinikum Braunschweig GmbH; Universitätsklinikum Düsseldorf; Stiftung Risiko Dialog; Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Westfälische Wilhelms-Universität Münster). Etwa die Hälfte der Projekte wurde von elf Institutionen bearbeitet, etwa ein Drittel der Projekte von nur sechs Institutionen, wobei die GRS als gemeinnützige technisch-wissenschaftliche Forschungs- und Sachverständigenorganisation, die zu 46 % der Bundesrepublik Deutschland gehört, hier eine Sonderrolle einnimmt. Das BMU lässt sich in den Bereichen der nuklearen Sicherheit und des Strahlenschutzes gutachtlich von der GRS beraten, wofür ein bestimmter Teil der Forschungsmittel des BMU vorgesehen ist – weitere Details zur Zusammenarbeit zwischen BMU und GRS regelt die Rahmenvereinbarung vom 10. August 2017.

3.3.3 Die wichtigsten Akteure in den identifizierten Forschungsbereichen

Die nachfolgenden Kategorisierungen sind als grobe Einteilung zu verstehen, da es – wie bereits erwähnt – wegen des interdisziplinären Charakters der Strahlenforschung häufig schwierig ist, ein Projekt einem bestimmten Forschungsbereich zuzuordnen. Beispielsweise wurden Dosisbestimmungen bei medizinischen Kohorten der Dosimetrie zugeordnet und nicht der Medizin, obwohl ein derartiges Projekt auch einen klaren medizinischen Bezug hat. Auch war die Zuordnung von Projekten zu den Bereichen Strahlenrisiko oder Strahlenepidemiologie oft nicht eindeutig. Zudem sind in bestimmten Forschungsbereichen vereinzelt weitere Forschungsakteure aktiv, die nicht im Rahmen des Ressortforschungsplans oder der KVSF-Initiative, sondern im Rahmen anderer Programme gefördert wurden oder werden (z. B. Institutionen, die Strahlenforschung im weiteren Sinne im Bereich Radioökologie betreiben und durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) im Zusammenhang mit der Endlagerforschung gefördert wurden oder werden).

a)
Durch das BMBF im Rahmen der KVSF-Initiative geförderte Forschungsvorhaben

Eine genauere Auswertung der der SSK vorliegenden Liste von 150 Projekten, die im Rahmen der KVSF-Initiative mit Mitteln des BMBF zum Thema ionisierende Strahlung gefördert wurden beziehungsweise noch gefördert werden, ermöglichte es zudem, die Institutionen zu identifizieren, die in den von der SSK als wichtig erachteten Forschungsbereichen (Abschnitt 3.2) Projekte eingeworben hatten. Allerdings stellte es sich oft als schwierig heraus, Projekte nur einem einzelnen Forschungsbereich zuzuordnen, da es wegen des interdisziplinären Charakters der Strahlenforschung häufig zu fachlichen Überschneidungen kam. Dennoch ermöglicht die Auswertung einen groben Überblick, welche und wie viele Akteure in den identifizierten Themenbereichen aktiv waren bzw. noch sind. Um auf einem bestimmten Forschungsgebiet die wichtigsten Akteure einzugrenzen, wurde untersucht, welche Institutionen die meisten Projekte im jeweiligen Themenbereich durchgeführt hatten:

Etwa 60 % der Projekte hatten einen strahlenbiologischen Bezug. Damit stellte der Themenbereich „Strahlenbiologie“ den mit Abstand am häufigsten geförderten Bereich dar. Dabei sei betont, dass Strahlenbiologie die Grundlagenforschung für viele Teilbereiche, die sich mit den gesundheitlichen Folgen von Strahlenexposition beschäftigen, durchführt. Insgesamt waren an den Projekten 28 Institutionen beteiligt, aber etwas mehr als die Hälfte der Projekte wurde von nur fünf Institutionen bearbeitet (Technische Universität Darmstadt, Universität Hamburg-Eppendorf, GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung, Helmholtz Zentrum München, Universitätsklinikum Essen). In zwei dieser fünf Institutionen wurden kürzlich Institute, die im Bereich Strahlenbiologie arbeiten, geschlossen (Institut für Strahlenbiologie, Helmholtz Zentrum München; Institut für Medizinische Strahlenbiologie, Universitätsklinikum Essen).
Der Themenbereich „Radioökologie“ stellte 15 % der geförderten Projekte, wovon etwa die Hälfte von vier Institutionen ausgeführt wurden (Karlsruher Institut für Technologie, Helmholtz Zentrum München, Universität Jena, Leibniz Universität Hannover). Die Radioökologie am Helmholtz Zentrum München wurde mittlerweile eingestellt, am Karlsruher Institut für Technologie werden Arbeiten, die sich im weitesten Rahmen in diesem Bereich bewegen, reduziert und die zukünftige Entwicklung ist unklar.
In der Kategorie „Strahlenmesstechnik und Dosimetrie“ fanden sich nur wenige Projekte (1 %), die von der Technischen Universität Dresden und der Universität Oldenburg bearbeitet wurden. Allerdings muss dabei beachtet werden, dass Messtechnik und Dosimetrie Themenbereiche darstellen, die übergreifend in vielen der anderen identifizierten Bereiche eine wichtige Rolle spielen und daher auch in viele der anderen Themenbereiche mit einfließen.
Aus dem Bereich „Strahlenepidemiologie“ wurden insgesamt etwa 10 % der Projekte gefördert, die größtenteils von zwei Einrichtungen bearbeitet wurden (Universität Mainz, Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie − BIPS GmbH). In Mainz wird die Strahlenepidemiologie nicht mehr durch eine Professur vertreten und hat dadurch eine geringere Sichtbarkeit sowie einen niedrigeren Grad der Institutionalisierung.
In der Kategorie „Strahlenrisiko“ fand sich kein einziges Projekt, das sich explizit diesem Thema widmete. Einige Unterprojekte, die sich mit dem Thema Strahlenrisiko beschäftigten, waren jedoch in Projekten aus den Bereichen „Strahlenepidemiologie“ und „Strahlenbiologie“ zu finden. Nach Kenntnis der SSK wird Forschung im Bereich „Strahlenrisiko“ in Deutschland nur an wenigen Stellen durchgeführt, unter anderem am Helmholtz Zentrum München, dort mittlerweile allerdings nur noch in reduziertem Umfang.
Im Themenbereich „Notfallschutz“ fanden sich 3 % der Projekte; diese wurden von fünf Institutionen bearbeitet (Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf, Technische Universität Dresden, Universität Hannover, VKTA – Strahlenschutz, Analytik und Entsorgung Rossendorf e. V. und Karlsruher Institut für Technologie).
Unter der Rubrik „Medizinische Anwendungen“ wurden etwa 11 % der Projekte gefördert und von elf Institu­tionen bearbeitet, die Hälfte der Projekte wurde von drei Institutionen durchgeführt (Universität Heidelberg, Helmholtz Zentrum München, Technische Universität München).
Es gab keine Projekte zur „Risikokommunikation“.

Neben den namentlich genannten sind der SSK weitere gefährdete Institutionen bekannt, die in den identifizierten Themenbereichen Beiträge liefern.

b)
Durch das BMU im Rahmen der Ressortforschung geförderte Forschungsvorhaben

Die durch das BMU im Rahmen der Ressortforschung geförderten Forschungsvorhaben (ohne die bereits oben erwähnten Unterstützungsprojekte und Vergaben ohne Ausschreibung) können grob den folgenden Forschungsbereichen zugeordnet werden:

Strahlenbiologie – 11 % der Projekte, davon etwa ein Drittel bearbeitet von der Universität Göttingen, dem Helmholtz Zentrum München und dem Universitätsklinikum Düsseldorf,
Radioökologie – 13 % der Projekte, davon etwa ein Drittel bearbeitet von der Brenk Systemplanung GmbH und zwei von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit gGmbH,
Strahlenmesstechnik und Dosimetrie – 28 % der Projekte, davon vier bearbeitet von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit gGmbH und jeweils zwei von der IAF Radioökologie GmbH, der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung und dem Städtischen Klinikum Braunschweig GmbH,
Strahlenepidemiologie – 12 % der Projekte, die von acht verschiedenen Institutionen bearbeitet wurden,
Strahlenrisiko – 4 % der Projekte, davon drei bearbeitet vom Helmholtz Zentrum München,
Notfallschutz – 11 % der Projekte, davon vier von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit gGmbH,
Risikokommunikation – 8 % der Projekte, davon drei bearbeitet von der Stiftung Risiko-Dialog,
Strahlenanwendungen in der Medizin – keine Projekte; mehrere Projekte zum Strahlenschutz in der Medizin sind jedoch unter den anderen Themenbereichen aufgeführt,
Sonstiges – 14 % der Projekte, davon fast ein Drittel vom DIN Deutsches Institut für Normung e. V. sowie jeweils 10 % bearbeitet vom VDE Verband der Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik, vom Dr. Joachim Kemski Sachverständigenbüro, vom Städtischen Klinikum Braunschweig und von Technischen Überwachungsvereinen (TÜV Nord AG und TÜV Süd AG).

3.4 Diskussion

3.4.1 Die identifizierten Forschungsbereiche

Die im Abschnitt 3.2 identifizierten Forschungsbereiche sind, wie weiter oben bereits ausgeführt, aus Sicht der SSK für die Strahlenforschung in Deutschland von zentraler Bedeutung. In diesem Abschnitt wird untersucht, in welchem Umfang diese Forschungsbereiche von 2007 bis 2021 im Rahmen der KVSF-Initiative oder von 2010 bis 2021 im Rahmen des Ressortforschungsplans gefördert wurden oder noch gefördert werden.

Die Auswertung der geförderten Forschungsprojekte zeigte, dass im Rahmen der von der SSK als wichtig eingestuften Forschungsbereiche bei der Förderung durch das BMBF (KVSF-Initiative) und das BMU (Ressortforschungsplan) zum Teil unterschiedliche und sich häufig ergänzende Schwerpunkte gesetzt wurden. Während das BMBF-Programm z. B. Grundlagenforschung mit strahlenbiologischem

Bezug (61 % der Projekte) förderte, gefolgt von Projekten in der Radioökologie (15 %), medizinischen Strahlenanwendungen (11 %) und Strahlenepidemiologie (9 %), erfuhren Projekte in den Bereichen Notfallschutz (3 %), Strahlenmesstechnik und Dosimetrie (1 %), Strahlenrisiko (0 %) und Risikokommunikation (0 %) nur eine geringe Förderung.

Anders stellt sich die Situation bei vom BMU (Ressortforschungsplan) unterstützten Projekten dar. Hier wurden gerade diejenigen Forschungsbereiche, die durch das BMBF (KVSF-Initiative) nur selten gefördert wurden, deutlich häufiger unterstützt (Strahlenmesstechnik und Dosimetrie (28 %), Notfallschutz (11 %), Risikokommunikation (8 %), Strahlenrisiko (4 %)). Im Gegensatz dazu wurden Projekte in der Strahlenbiologie, die den mit Abstand größten Anteil bei den vom BMBF (KVSF-Initiative) geförderten Projekten ausmachten, nur zu einem deutlich geringeren Anteil (11 %) gefördert.

Diese Unterschiede in der Forschungsförderung können unter anderem durch die unterschiedliche Zielrichtung der vom BMBF und BMU betreuten Forschungsprogramme erklärt werden (BMBF-Forschung: eher grundlagenorientiert und zur Ausbildung von Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern gedacht; BMU-Forschung: eher anwendungsorientiert und als Ratgeber für politische Entscheidungen gedacht, um eine wichtige Brücke zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft zu bilden [www.ressortforschung.de]). Die beobachteten Unterschiede zeigen jedoch auch, dass sich beide Programme zumindest teilweise ergänzen und zu einer breiten Unterstützung der Strahlenforschung wichtige Beiträge leisten.

3.4.2 Die identifizierten Forschungsakteure

In diesem Abschnitt wird untersucht, welche Akteure in den identifizierten Forschungsbereichen jeweils die meisten Projekte bearbeitet haben bzw. noch bearbeiten und daher als Hauptakteure in den entsprechenden Forschungsbereichen angesehen werden können.

Die gemeinsame Auswertung aller Forschungsprojekte ergab, dass von 150 im Rahmen der KVSF-Initiative durch das BMBF geförderten Forschungsprojekten ein gutes Drittel von nur fünf Institutionen durchgeführt wurde (Helmholtz Zentrum München, Department of Radiation Sciences; Technische Universität Darmstadt, FB Biologie; Uniklinikum Hamburg-Eppendorf, Labor für Strahlenbiologie; GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung, Abteilung Biophysik; Universitätsklinikum Essen, Institut für Medizinische Strahlenbiologie und Institut für Zellbiologie). Entsprechend ihrer Ausrichtung beschäftigen sich die Technische Universität Darmstadt, das Uniklinikum Hamburg-Eppendorf, die erwähnten Institute des Universitätsklinikums Essen und das GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung im Wesentlichen mit Grundlagenforschung zu biologischen bzw. physikalischen Aspekten der Strahlenforschung. Das GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung beschäftigt sich insbesondere mit der Weiterentwicklung und neuen Anwendungen von Partikeltherapie, daneben auch mit Fragen des Strahlenschutzes im Weltraum, biologischer Radonwirkung und Dosimetrie. Das Helmholtz Zentrum München bearbeitete die meisten der in Abschnitt 3.2 als wichtig eingestuften Forschungsbereiche.

Von den im Rahmen der Ressortforschung durch das BMU geförderten Forschungsvorhaben wurden knapp 30 % wiederum von nur vier Institutionen durchgeführt (GRS Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit gGmbH; Helmholtz Zentrum München; Brenk Systemplanung GmbH; TÜV Nord AG und TÜV Süd AG). Von diesen vier Institutionen bearbeitete nur das Helmholtz Zentrum München auch Projekte, die im Rahmen der KVSF-Initiative eine Forschungsförderung erhielten.

Die Erforschung und Bewertung von Strahlenrisiken erfolgt in internationalen Kooperationen (internationale Forschungskonsortien und Gremien wie ICRP und UNSCEAR). Eine deutsche Beteiligung an diesen Diskussionen ist nur möglich bei entsprechender Kompetenz auf dem Gebiet der Quantifizierung strahleninduzierter Risiken. Die weiter oben beschriebene Auswertung der vorhandenen Daten zeigte, dass in Deutschland im Forschungsbereich Strahlenrisiko nur sehr wenige Gruppen aktiv sind. In diesem Bereich droht die Kompetenz in Deutschland verloren zu gehen. Einen ähnlichen Befund ergab die Analyse der geförderten Forschungsvorhaben zur Strahlenepidemiologie. Auch in diesem Forschungsbereich sind in Deutschland kaum mehr Forschungsgruppen aktiv, und die notwendige kritische Masse ist aus Sicht der SSK nicht mehr vorhanden.

Forschungsgruppen, die sich mit radioökologischen Fragestellungen beschäftigen, sind in Deutschland selten. Eher angewandte Fragestellungen werden hauptsächlich von der GRS oder von Ingenieurbüros (hauptsächlich Brenk Systemplanung GmbH) bearbeitet, grundlagenorientierte Fragestellungen dagegen von einigen wenigen Gruppen an Helmholtz-Zentren oder an Universitäten. Wegen des gegenwärtig beobachteten oder drohenden Rückgangs der radioökologischen Forschung insbesondere in der Helmholtz-Gemeinschaft (Helmholtz Zentrum München, Karlsruher Institut für Technologie, Forschungszentrum Jülich) besteht aus Sicht der SSK die Gefahr, dass in absehbarer Zeit in Deutschland keine ausreichende Kompetenz auf dem Gebiet der Radioökologie mehr vorhanden sein wird, die bei einem radiologischen oder kerntechnischen Notfall dringend benötigt wird.

In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass die SSK bereits vor kurzem auf den Kompetenzverlust bei einem radiologischen und nuklearen Notfall hingewiesen hat. Dabei hat sie insbesondere auch ausreichende medizinische Kapazitäten angemahnt, relevante Forschungsthemen benannt (SSK 2017a) und auch zur notwendigen Qualifizierung des benötigten, im medizinischen Bereich des Notfalls tätigen Personals Empfehlungen abgegeben (SSK 2017b). Diese Empfehlungen sind aus Sicht der SSK weiterhin gültig. Exemplarisch sei hier lediglich angemerkt, dass z. B. das Helmholtz Zentrum München über Jahrzehnte eine große Rolle als Ausbildungsstätte für den radiologischen Notfallschutz innehatte, die derzeit ersatzlos wegfällt.

Die Forschungsbereiche der Messtechnik und der Dosimetrie sind, wie weiter oben ausgeführt, für die Strahlenforschung insgesamt von zentraler Bedeutung. Hier deutete sich aus Sicht der SSK in jüngster Zeit eine deutliche Verringerung der in Deutschland aktiven Forschungsakteure an, insbesondere bei einigen der Forschungszentren der Helmholtz-Gemeinschaft (Helmholtz Zentrum München, Karlsruher Institut für Technologie).

Schließlich sei betont, dass etwa die Hälfte der 235 eingeworbenen, durch BMBF und BMU geförderten Projekte, die in der vorliegenden Stellungnahme ausgewertet wurden, von nur 15 Institutionen durchgeführt wurde bzw. noch wird. Die restlichen 50 % der Projekte wurden dagegen von fast hundert weiteren Institutionen bearbeitet bzw. werden noch bearbeitet. Die Forschungslandschaft in Deutschland zeichnete sich im Bereich der ionisierenden Strahlung also durch einige wenige große Institutionen mit Schwerpunkten auf der Strahlenforschung aus, die durch eine Vielzahl weiterer Institutionen mit zusätzlicher Expertise ergänzt werden. Dies ist aus Sicht der SSK sinnvoll, da – wie bereits mehrfach betont – die Strahlenforschung bei der Bearbeitung relevanter Forschungsthemen einen ausgeprägten interdisziplinären Ansatz benötigt, dem einige wenige Institutionen allein nicht gerecht werden können. Diese ergänzende Arbeitsteilung war in der Vergangenheit erfolgreich und trug aus Sicht der SSK mit zum international hohen Ansehen der deutschen Strahlenforschung bei. Dies lässt sich auch daran ablesen, dass deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in vielen für die Strahlenforschung und den Strahlenschutz wichtigen internationalen Organisationen in leitenden Positionen tätig waren oder sind (z. B. Vorsitz EURADOS, EURAMED, EURAMET, ICRU, IRPA, UNSCEAR, Mitgliedschaft ICRP Main Commission, Vorsitz ICRP Committee 1, Committee 2).

Kürzlich wurde das Institut für Medizinische Strahlenbiologie der Universität Essen, das in der Vergangenheit wesentliche Beiträge in der Strahlenbiologie geleistet hat, die international große Beachtung fanden, geschlossen. Auch wenn Universitäten teilweise kurzfristig auf Veränderungen in der Wissenschaftslandschaft reagieren, Forschungsschwerpunkte anpassen und unter Umständen verdiente Institute und Institutionen auflösen müssen, so besteht doch Besorgnis darüber, dass nirgendwo in der universitären Landschaft eine klare Strategie für den Kompetenzerhalt in der Strahlenforschung auf dem erforderlichen akademischen Niveau erkennbar ist.

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass in der Vergangenheit das Helmholtz Zentrum München in besonderer Weise den interdisziplinären Charakter der Strahlenforschung abdeckte, mit Forschung in fast allen der in Abschnitt 3.2 als wichtig angesehenen Forschungsbereichen (Strahlenbiologie, Strahlenrisiko, medizinische Anwendungen, Dosimetrie, Messtechnik, Radioökologie, Notfallschutz), gefördert sowohl im Rahmen der vom BMBF getragenen KVSF-Initiative als auch im Rahmen der vom BMU geförderten Ressortforschung. Die SSK weist darauf hin, dass das Helmholtz Zentrum München seine Aktivitäten im Bereich Strahlenforschung kürzlich deutlich reduziert hat (Auflösung der Abteilung für Medizinische Strahlenphysik und Diagnostik, Auflösung des Instituts für Strahlenschutz, Schließung des Instituts für Strahlenbiologie). Eine ähnliche Entwicklung war im Bereich Strahlenschutz zu verzeichnen (Verkauf der Auswertungsstelle, Einstellung der Strahlenschutzkurse). Das Helmholtz Zentrum München wird daher in Zukunft in seiner bisherigen Rolle als einer der wichtigsten Vertreter der Strahlenforschung in Deutschland nicht mehr zur Verfügung stehen.

4 Nichtionisierende Strahlung – Ultraviolette Strahlung

UV-Strahlung (UVC, UVB und UVA) erzeugt im Erbgut eine Vielzahl von Schäden. Die photophysikalischen Effekte, die derartigen Schäden zugrunde liegen, sind gut untersucht und führen unter anderem zu UV-spezifischen Mutationen, die mit einem hohen Anteil in Hauttumoren nachgewiesen werden. Der kanzerogenen Wirkung von UV-Strahlung liegt also, wie auch bei ionisierender Strahlung, ein nachgewiesener Wirkmechanismus zugrunde. UV-Strahlung wird deshalb in diesem Abschnitt getrennt vom klassischen Bereich elektromagnetischer Felder und optischer Strahlung dargestellt.

Die Exposition durch UV-Strahlung aus der Sonne betrifft die gesamte Bevölkerung. Darüber hinaus muss auch die Nutzung von Solarien sowie der Einsatz von UV-Strahlung im medizinisch-therapeutischen Bereich berücksichtigt werden. Gerade in Bezug auf die Exposition durch natürliche UV-Strahlung können von der Bevölkerung individuelle Schutzmaßnahmen ergriffen werden, die auf einer Verhaltensänderung beruhen und durch Maßnahmen der Verhältnisprävention unterstützt werden müssen. So werden Bedingungen geschaffen, die der Bevölkerung durch Änderung der Verhältnisse die individuelle Umsetzung des UV-Strahlenschutzes erlauben. Im Rahmen des Arbeitsschutzes für im Freien Beschäftigte gilt seit 2019 für die Arbeitgeber unter bestimmten Bedingungen eine Pflicht- bzw. Angebotsvorsorge (§§ 4, 5 ArbMedVV 2008).

4.1 Von internationalen Organisationen benannte Forschungsfelder

Mit der Entwicklung von Empfehlungen zum Schutz der Bevölkerung vor UV-Strahlung beschäftigen sich international zahlreiche Organisationen. Beispielhaft sei hier die International Commission of Non-Ionising Radiation (ICNIRP), das UV-Programm der WHO (INTERSUN) und die European Society of Skin Cancer Prevention (EUROSKIN) genannt.

In einer ICNIRP-Guideline aus dem Jahr 2004 (ICNIRP 2004) und einem Statement aus dem Jahr 2010 (ICNIRP 2010) werden Grenzwerte für die berufliche Belastung am Arbeitsplatz sowohl für das Auge als auch für Haut vorgeschlagen, die mit Emax = 30 J m-2 (biologisch-effektiver UV-Strahlung) innerhalb eines Achtstundentages unter realen Arbeitsbedingungen nur schwer eingehalten werden können und UV-Exposition in der Freizeit nicht abbilden. Im aktuellen Arbeitsplan 2020 bis 202415 wurde eine Projektgruppe eingerichtet, die sich mit Langzeiteffekten chronischer UV-Strahlung auseinandersetzt und die aktuelle UV-Guideline überarbeitet.

Die Ziele des INTERSUN-Programms der WHO16 sind,

Informationen, praktische Ratschläge und fundierte wissenschaftliche Vorhersagen zu den gesundheitlichen Auswirkungen und Umweltauswirkungen der UV-Exposition bereitzustellen.
Die Länder zu ermutigen, Maßnahmen zur Verringerung der UV-induzierten Gesundheitsrisiken zu ergreifen.
Eine Anleitung für nationale Behörden und andere Behörden zu wirksamen Aufklärungsprogrammen zum risikobewussten Umgang mit der Sonnenstrahlung zu erstellen.

Die „European Society of Skin Cancer Prevention“ wurde im Jahr 1999 in Deutschland gegründet, um im internationalen Konsens Empfehlungen zu den Säulen der Hautkrebsprävention

Grundlagenforschung zur Wirkung von UV-Strahlung,
Epidemiologie,
primäre Prävention,
sekundäre Prävention

zu erarbeiten. So wurde während der 8. Internationalen EUROSKIN Konferenz im Jahr 2016 in Bezug auf Grundlagenforschung eine Empfehlung zur Weiterentwicklung von Biomarkern für Hautkrebs im Zusammenhang mit UV-Strahlung ausgesprochen17.

In Bezug auf die für primäre Prävention wichtige Risikokommunikation empfahl EUROSKIN, in die Gestaltung eines Interventionsprojekts immer die Evaluierung der Präventionsmaßnahmen einzubeziehen. Darüber hinaus wurde empfohlen, die Forschung zu stärken, die den tatsächlichen Informationsbedarf der Öffentlichkeit, die Art der Informationen, die von der Öffentlichkeit als nützlich erachtet werden, und die Bereitschaft der Öffentlichkeit, mehr Informationen zu akzeptieren, untersucht.

In Deutschland wurde dazu die S3-Leitlinie zur Prävention von Hautkrebs aktualisiert und Anfang des Jahres 2021 veröffentlicht (AWMF 2021). In diesem Dokument ist der internationale wissenschaftliche und medizinische Wissensstand zu Hautkrebs beschrieben als Basis für die Bearbeitung der Fragen zu primärer Prävention, Klimawandel und UV-Strahlung, berufsbedingtem Hautkrebs, sekundärer Prävention und gesundheitsökonomischer Bewertung.

4.2 Aus der Sicht der SSK für Deutschland wichtige Forschungsbereiche

Aus den oben genannten Beispielen ist zu ersehen, dass der individuelle UV-Schutz im privaten Bereich und im Arbeitsleben im Mittelpunkt steht. Darüber hinaus darf jedoch auch die UV-Anwendung im therapeutisch-medizinischen Bereich sowie bei der Entwicklung neuer Technologien (z. B. im Rahmen der Wasser- und Luftdesinfektion) nicht vernachlässigt werden. Basis für die Entwicklung von Empfehlungen zum UV-Strahlenschutz ist der Kompetenz­erhalt auf dem Gebiet der UV-Strahlenforschung. Hierfür hat die SSK folgende Forschungsbereiche identifiziert, bei denen in Deutschland Handlungsbedarf besteht:

4.2.1 Strahlenbiologie

Zu erwartende neue Erkenntnisse der strahlenbiologischen UV-Forschung stimmen im Prinzip mit der in Abschnitt 3.2.1 beschriebenen Bedeutung der Strahlenbiologie in Bezug auf ionisierende Strahlung überein. Im Fokus der zu untersuchenden Gesundheitseffekte stehen hier jedoch Hautkrebs (malignes Melanom, Plattenepithelkarzinom und Basalzellkarzinom), die Schädigung der Augen sowie die UV-induzierte Immunsuppression. Für Hautkrebs konnten einige erworbene und angeborene Risikofaktoren identifiziert werden, die zum Großteil zu einem erhöhten Risiko in Zusammenhang mit UV-Strahlung führen. Die molekularen Mechanismen, die diesen Risikofaktoren zugrunde liegen, müssen jedoch weiter aufgeklärt werden. Insbesondere die Untersuchung der Strahlenantwort epidermaler und dermaler Stammzellen und ihrer Mikroumgebung kann zur Aufklärung dieser Mechanismen beitragen. Expositionsmuster und der Einfluss von Einzel- und Kombinationsbestrahlung (UV, sichtbares Licht und Infrarot) müssen dabei berücksichtigt werden. In Zukunft wird zunehmend die Identifizierung von Biomarkern eine Rolle spielen, über die das individuelle Hautkrebsrisiko bestimmt werden kann.

Grundlegende neue Erkenntnisse können, wie im Bereich der ionisierenden Strahlung, erwartet werden von modernen Modellsystemen (z. B. Organoiden, orthotopen und syngenen Mausmodellen), High-throughput-Analysen von kurzfristigen und längerfristigen strahleninduzierten Veränderungen (z. B. in Genom, Epigenom, Tanskriptom, Proteom, Metabolom) sowie der systembiologischen Evaluierung und Verknüpfung von biologischen mit klinischen oder epidemiologischen Daten. In diesem Zusammenhang muss auch die Untersuchung von Blutproben im Sinne von „liquid biopsies“ für die Identifizierung von Biomarkern genannt werden. Grundsätzlich gibt es bei der Erforschung strahlenbiologischer Effekte nach Exposition durch UV-Strahlung und ionisierender Strahlung eine große Überlappung, und die gemeinsame Diskussion dieser Effekte wird zu einem weiteren Erkenntnisgewinn beitragen. Letztlich stellt die Strahlenbiologie ein wichtiges Bindeglied der Grundlagenforschung mit angewandter Forschung dar.

4.2.2 Strahlenepidemiologie

Epidemiologische Studien sind ein wichtiges Instrument, um den Zusammenhang zwischen UV-Exposition und Hautkrebs sowie anderen UV-assoziierten Endpunkten (z. B. Katarakt) weiter zu untersuchen, für den auf molekularbiologischer Ebene Mechanismen identifiziert wurden. So konnten für die verschiedenen Hautkrebsentitäten verschiedene Expositionsmuster identifiziert werden, die zu einem erhöhten Hautkrebsrisiko führen. Auch zur Identifizierung von Risikogruppen können epidemiologische Daten beitragen. Die Einbindung molekularbiologischer Erkenntnisse und Biomarker im Sinne einer molekularen Epidemiologie wird für den Strahlenschutz immer wichtiger werden. Darüber hinaus gibt es epidemiologische Untersuchungen, die die Inzidenz von Hautkrebs mit Messungen der, z. B. Breitengrad-abhängigen, UV-Bestrahlungsstärke in Verbindung setzen. Die Problematik solcher Studien liegt darin, dass die individuelle UV-Exposition nicht nur von der ambienten UV-Bestrahlungsstärke abhängt, für die Daten in mehr oder weniger großer Auflösung aus UV-Messnetzen oder satellitenbasierten Messungen vorliegen, sondern auch sehr von dem individuellen Verhalten (Freizeit, Beruf, Urlaub etc.) geprägt ist. Anhand personendosimetrischer Daten ist es möglich, diesen individuellen Faktor zu berücksichtigen und die individuelle UV-Exposition bestimmter Bevölkerungsgruppen zu modellieren. Insofern ist es wichtig, in Zukunft zum einen weiterhin Daten zur ambienten UV-Bestrahlungsstärke in möglichst detailliertem Maßstab zu erheben (Einfluss der geografischen Breite, Höhe über dem Meeresspiegel, Bewölkung, Luftverschmutzung, Umgebungsreflektion), zum anderen die Messung der UV-Exposition anhand von Personendosimetern voranzutreiben. Die Erhebung personendosimetrischer Daten von im Freien Beschäftigten im GENESIS-Projekt der DGUV (siehe unten) liefert solche Daten, die unter Berücksichtigung der Messdaten zur ambienten UV-Bestrahlungsstärke eine Modellierung für verschiedene Expositionssituationen erlauben. Im Zusammenhang mit der Erfassung berufsbedingter Hautkrebserkrankungen könnten so sogar Rückschlüsse auf eine Dosis-Wirkungsbeziehung für die Hautkrebsinzidenz gezogen werden.

4.2.3 Strahlenrisikobewertung

Für die Abhängigkeit der Hautkrebsinzidenz von den zugrundeliegenden UV-Bestrahlungsstärken und den daraus abgeleiteten Dosis- bzw. Expositionswerten für natürliche oder auch für künstliche UV-Strahlung, die die Bestimmung einer belastbaren Dosis-Wirkungsbeziehung für die Hautkrebsinzidenz erlauben, existieren noch keine belastbaren Daten. Auch existieren (anders als im Bereich der ionisierenden Strahlung) keine Risikokoeffizienten, die es ermöglichen könnten, aus vorliegenden Daten zu Dosis und Inzidenz eine Abschätzung der Häufigkeit von Hautkrebsfällen in der Bevölkerung, im Zusammenhang mit einer bestimmten UV-Exposition, vorzunehmen.

Die fehlende Dosis-Wirkungsbeziehung stellt den UV-Strahlenschutz vor eine große Herausforderung. Dies gilt ganz besonders vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung in Deutschland und der Vielzahl der Hautkrebskrankheiten (Basalzellkarzinom und Plattenepithelkarzinom) als Alterskrebs sowie möglicher Veränderungen des Verhaltens der Bevölkerung aufgrund des Klimawandels. Aus diesen Gründen kann eine drastische Zunahme der Neuerkrankungen an Hautkrebs in einer immer älter werdenden Bevölkerung erwartet werden. Dies macht es unumgänglich, neue Daten und/​oder Modelle zu erfassen und zu generieren, die (auch prospektive) Aussagen über die Dosis-Wirkungsbeziehung der Hautkrebsinzidenz ermöglichen.

4.2.4 Medizinisch-therapeutische Anwendung von UV-Strahlung

UV-Strahlung wird unter anderem bei der Therapie chronisch-entzündlicher Hautkrankheiten wie z. B. Schuppenflechte oder Neurodermitis eingesetzt. Für die Therapien wird UVB (Breitband oder 311 nm) und UVA als reine Strahlentherapie verwendet, UVA + Psoralen (PUVA) wird als Photochemotherapie eingesetzt. Ein mögliches erhöhtes Hautkrebsrisiko wird dabei dem therapeutischen Nutzen gegenübergestellt. In Studien zeigte sich insbesondere für die PUVA-Therapie zur Behandlung von Psoriasis ein leicht erhöhtes Hautkrebsrisiko. Chronische Hauterkrankungen zeichnen sich dadurch aus, dass nach einer erfolgreichen Behandlung eine Phase der Erscheinungsfreiheit erreicht wird, der jedoch oft schon nach wenigen Monaten ein weiterer Schub folgt. Die Patientinnen und Patienten unterziehen sich im Laufe ihres Lebens deshalb immer wieder einer Therapie. Dabei kann es zu einer bedeutenden Erhöhung der kumulativen UV-Lebenszeitdosis kommen. Um valide Daten für die UV-Strahlenbelastung durch UV-Therapie zu bekommen, ist es sinnvoll, in Zukunft die eingesetzten Dosen in einer individuellen UV-Strahlendokumentation zu erfassen. Für die Durchführung der UV-Therapie existiert lediglich eine Leitlinie der Entwicklungsstufe 1 (S1-Leitlinie zur UV-Phototherapie und Photochemotherapie18).

4.2.5 Strahlenmesstechnik und Dosimetrie – photobiologische Bewertung

Sowohl für die Klärung wissenschaftlicher Fragestellungen als auch im Zusammenhang mit der Aufklärung der Bevölkerung über die Risiken von UV-Strahlung ist es notwendig, verlässliche Daten über die natürliche (aber auch künstliche) UV-Strahlungsbelastung zu erfassen und zur Verfügung zu stellen. Neben der satellitengestützten Erfassung der UV-Bestrahlungsstärke auf der Erdoberfläche kommen hierbei ortsfeste Breitband- oder Spektralradiometer zum Einsatz (z. B. UV-Messnetz des BfS). Dabei ist es wichtig, die in Abhängigkeit der Wellenlänge sehr unterschiedliche biologische Effektivität des gemessenen UV-Strahlenspektrums darzustellen. Dazu erfolgt bei spektral aufgelösten Messungen (Spektralradiometer) eine mathematische Faltung mit der erforderlichen spektralen Wichtungsfunktion. Bei Breitbandspektrometern wird dies durch den Einsatz von an eine entsprechende Wichtungsfunktion angepassten UV-Sensoren erreicht. Häufig wird für die Beschreibung der biologischen Effektivität von UV-Strahlung die erythemwirksame Bestrahlungsstärke angegeben. Dies ist z. B. die Grundlage für die Berechnung des UV-Index als Maß für die maximale erythemwirksame Bestrahlungsstärke eines Tages, der in den Medien auch als Vorhersage für den nächsten Tag verbreitet wird und ein wichtiges Instrument im Rahmen der primären Prävention von Hautkrebs darstellt. Obwohl diverse Wichtungsfunktionen für die Bewertung der biologischen Effektivität verschiedener UV-Spektren existieren, sollte die Forschung hierfür weiter vorangetrieben werden, um z. B. die am besten geeigneten Wichtungsfunktionen für die Hautkrebsentstehung und andere biologische Endpunkte (z. B. UV-induzierte Immunsuppression) zu bestimmen. Weitgehend ungeklärt ist z. B. die Frage, ob die Melanomentstehung die gleiche Wellenlängenabhängigkeit aufweist wie die Entstehung von Plattenepithelkarzinom und Basalzellkarzinom.

Da die individuelle UV-Exposition immer auch vom Verhalten abhängt, ist der Einsatz von Personendosimetern ein wichtiger Bestandteil z. B. bei der Entwicklung von Modellen, die die Quantifizierung der UV-Exposition bestimmter Bevölkerungsgruppen ermöglichen. Neue Entwicklungen, wie diejenige von Dioden-Array-Dosimetern, erlauben darüber hinaus eine sowohl spektral als auch zeitlich aufgelöste Personendosimetrie. Solche Entwicklungen sollten weiter vorangetrieben werden.

4.3 Relevante Forschungseinrichtungen in Deutschland

4.3.1 Vorgehensweise

Analog zur Vorgehensweise bei der Identifizierung von Einrichtungen, die in Deutschland in der grundlagenorientierten und anwendungsorientierten Strahlenforschung im Bereich ionisierender Strahlung aktiv sind (siehe Abschnitt 3.3), wurde auch zur Identifizierung von Einrichtungen, die in der Strahlenforschung im Bereich UV-Strahlung aktiv sind, vorgegangen. Dazu wurde wieder die Liste mit Forschungseinrichtungen, die im Rahmen der KVSF-Initiative ab 2008 Zuwendungen über die Förderbekanntmachungen des BMBF zur nuklearen Sicherheits- und Strahlenforschung (Grundlagenforschung) erhielten bzw. noch erhalten19, ausgewertet. Zudem wurden Vorhaben ausgewertet, die im Rahmen des Ressortforschungsplans Strahlenschutz 2010 bis 2020 durch das BMU gefördert wurden. Dabei wurden Unterstützungsvorhaben nicht berücksichtigt, sondern der Schwerpunkt der Auswertung auf anwendungsorientierte Forschungsvorhaben gelegt. Die Fördervolumina der einzelnen Projekte und die Anzahl der an den einzelnen Projekten beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wurden dabei nicht berücksichtigt.

4.3.2 Die wichtigsten Forschungsnehmer in den Forschungsbereichen

a)
Durch das BMBF im Rahmen der KVSF-Initiative geförderte Forschungsvorhaben
Die der SSK vorliegende Liste umfasste neun im Rahmen der KVSF-Initiative nach den Förderbekanntmachungen des BMBF zur nuklearen Sicherheits- und Strahlenforschung aus den Jahren 2008, 2011 und 2019 geförderte Projekte (Stand Ende 2020) zur UV-Strahlung.
Diese neun Projekte wurden von fünf Institutionen bearbeitet. Sechs der Projekte wurden vom Leibniz-Institut für umweltmedizinische Forschung GmbH an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und von den Elbe Kliniken Stade-Buxtehude bearbeitet.
Alle neun Projekte beschäftigten sich mit Fragestellungen, die der strahlenbiologischen UV-Forschung nahestanden. Andere der in Abschnitt 4.2 als wichtig erachteten Bereiche wurden dagegen in den ausgewerteten Projekten nicht bearbeitet.
b)
Durch das BMU im Rahmen der Ressortforschung geförderte Forschungsvorhaben
Im Untersuchungszeitraum (2010 bis 2020) wurden fünf Vorhaben, die sich mit UV-Strahlung beschäftigten, gefördert, davon eins zu Wirkungsmechanismen (Technische Universität Dresden), drei zur Kommunikation des Risikos durch UV-Strahlung (infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft GmbH, FT-Nord Institut für Therapie- und Gesundheitsforschung GmbH, ConPolicy GmbH) sowie eines zur UV-Exposition (Universität Hannover).

4.4 Diskussion

4.4.1 Die identifizierten Forschungsbereiche

Die im Abschnitt 4.2 identifizierten Forschungsbereiche sind aus Sicht der SSK für die Strahlenforschung im Bereich UV-Strahlung in Deutschland von zentraler Bedeutung. In diesem Abschnitt wird untersucht, in welchem Umfang diese Forschungsbereiche von 2007 bis 2021 im Rahmen der KVSF-Initiative oder von 2010 bis 2021 im Rahmen des Ressortforschungsplans gefördert wurden oder noch gefördert werden. Es sei darauf hingewiesen, dass auch die Deutsche Krebshilfe UV-bezogene Projekte, insbesondere Interventionsmaßnamen zur Hautkrebsprävention, fördert, die hier jedoch nicht berücksichtigt wurden.

Die Exposition durch UV-Strahlung aus dem Sonnenlicht betrifft die gesamte Bevölkerung. Darüber hinaus muss auch die Nutzung von Solarien sowie der Einsatz von UV-Strahlung im medizinisch-therapeutischen Bereich berücksichtigt werden. Um die Wirkung von UV-Strahlung einordnen zu können, ist die Kenntnis sowohl physikalischer Grundlagen (UV-Dosimetrie, Absorptionsspektren etc.) als auch photobiologischer Effekte (Wirkungsspektren von DNA-Schäden, Immunsuppression, Vitamin D-Produktion etc.) sowie deren Spätfolgen (Hautkrebs, Augenschäden etc.) notwendig.

Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Strahlenbiologie ist die Basis für den Kompetenzerhalt im Strahlenschutz. Alle neun der ermittelten durch das BMBF geförderten Projekte sind im strahlenbiologischen Bereich angesiedelt. Nur im Rahmen der Ressortforschung wurden drei Projekte zur Risikokommunikation gefördert, ein weiteres befasst sich mit UV-Expositionsmodellen und kann so im weitesten Sinne der Strahlenepidemiologie zugeordnet werden. Die übrigen identifizierten Bereiche Strahlenrisikobewertung, UV-Therapie und UV-Messtechnik wurden im begutachteten Zeitraum nicht gefördert. Für ein umfassendes Strahlenschutzkonzept spielen jedoch alle in Abschnitt 4.2 aufgeführten Bereiche eine wichtige Rolle und sind eng miteinander verflochten. Dies gilt insbesondere für den Schutz vor UV-Strahlung der Sonne und für die UV-Exposition in Solarien. Strahlenbiologische Forschungsergebnisse zusammen mit der Erhebung und Auswertung strahlenepidemiologischer Daten (unter Nutzung von Personendosimetrie und UV-Messnetzdaten) ermöglichen eine Risikobewertung, die dann die Grundlage für Empfehlungen an die Bevölkerung zum Umgang mit UV-Strahlung bildet. Ein wichtiger Schritt ist schließlich die geeignete Kommunikation über UV-bedingte Risiken und die daraus abgeleiteten Empfehlungen.

In Bezug auf die UV-Therapie ist eine Nutzen-Risiko-Abschätzung durch die behandelnden Ärztinnen und Ärzte notwendig. Dies ist jedoch nur auf Basis einer guten Kenntnis der Risiken der therapeutisch eingesetzten UV-Strahlung möglich. Darüber hinaus ist eine Erfassung der UV-Strahlenbelastung durch UV-Therapie notwendig.

Aus Sicht der SSK muss die Grundlagenforschung auf dem Gebiet der UV-Strahlenbiologie weiter ausgebaut werden und deren Verankerung in strahlenbiologischen Institutionen sowie in der Lehre unterstützt werden. Für ein umfassendes UV-Strahlenschutzkonzept ist es darüber hinaus notwendig, die weiteren identifizierten Forschungsbereiche Strahlenepidemiologie, Strahlenrisikobewertung und UV-Messtechnik zu fördern. Nur so kann gewährleistet werden, dass die Kompetenz im UV-Strahlenschutz erhalten bleibt und in Fort- und Weiterbildung sowie in beratende Gremienarbeit einfließen kann.

4.4.2 Die identifizierten Forschungsakteure

In diesem Abschnitt wird untersucht, welche Akteure in den identifizierten Forschungsbereichen jeweils die meisten Projekte bearbeitet haben bzw. noch bearbeiten und daher als Hauptakteure in den entsprechenden Forschungsbereichen angesehen werden können.

Von den insgesamt fünf Projektnehmenden der BMBF-geförderten Projekte sind aktuell nur noch drei Institutionen aktiv: das Leibniz-Institut für umweltmedizinische Forschung GmbH an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, das Labor für Molekulare Zellbiologie an den Elbe Kliniken Stade-Buxtehude und die Abteilung Zellbiologie und Epigenetik, FB 10 Biologie der Technischen Universität Darmstadt. Diese Institutionen arbeiten in Kooperationsprojekten zusammen, wodurch eine optimale Ausnutzung der verschiedenen Expertisen möglich ist. Unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Relevanz der UV-Strahlenbelastung der Bevölkerung und des damit verbundenen Bedarfs an Fachkompetenz für nationale und internationale beratende Gremien wie SSK, ICNIRP, WHO, EUROSKIN, aber auch für den Erhalt und die Weiterentwicklung der identifizierten Forschungsbereiche, ist die aktive Forschungs- und Ausbildungstätigkeit von nur drei aktiven Institutionen kritisch zu sehen.

5 Nichtionisierende Strahlung – Weitere Elektromagnetische Felder unterhalb des UV-Frequenzbereichs (Bestandsaufnahme)

Nach der schon in Abschnitt 4 behandelten UV-Strahlung soll im vorliegenden Abschnitt 5 auf die Strahlungsbereiche mit niedrigeren Frequenzen eingegangen werden. Bei der Identifizierung eines möglichen und/​oder tatsächlichen Kompetenzverlusts im Bereich der nichtionisierenden Strahlung sind die Bereiche UV, sichtbare optische Strahlung inkl. des Infrarotbereichs und der „klassische“ Bereich der elektromagnetischen Felder („EMF“ Frequenz zwischen 0 GHz und 300 GHz) zu unterscheiden. Für alle drei Bereiche gibt es keine spezifischen Ausbildungsformate und nicht einmal spezifische Vertiefungen innerhalb fachnaher Studiengänge, bis auf solche aus der Ophtalmologie in der Medizin.

Die für die Kompetenz auf diesen drei Bereichen benötigte thematische „Spannbreite“ umfasst einerseits die Gebiete Biologie, Epidemiologie und Medizin aus den Lebenswissenschaften, und andererseits die Physik/​Optik aus dem Bereich der Naturwissenschaften und die Elektrotechnik aus dem Bereich der Ingenieurwissenschaften. Allerdings werden in Deutschland gegenwärtig noch keine interdisziplinären Studiengangs-Kombinationen angeboten (im Gegensatz zum Berufsbild der „Medizinphysik“ im Strahlenschutz für die ionisierende Strahlung). Die in der Praxis benötigte Expertise, insbesondere zur Kontrolle/​Einhaltung von Expositionsgrenzwerten und Schutzbestimmungen, ergibt sich so gut wie immer durch die berufliche Erfahrung und Spezialisierung der Betroffenen („training on the job“). Gleiches galt und gilt weiterhin für die Belange der Forschung (und damit auch für die Lehre, siehe unten), so dass sich der Status Quo der generellen Kompetenz im Bereich nichtionisierender Strahlung in Deutschland sehr heterogen darstellt und Aussagen über Kompetenzverluste nur an Beispielen möglich sind.

Auf der einen Seite ist im Bereich der optischen Strahlung und der EMF ein sehr gut fundiertes Schutzkonzept durch entsprechende Grenzwerte etabliert, das die derzeit in der Anwendung und im Labor verfügbaren Expositionsquellen berücksichtigt. Die diesen Grenzwerten zugrunde liegenden Wirkmechanismen sind sehr gut verstanden und das gesamte experimentell bestimmte Wissen wie auch das Erfahrungswissen zu beobachteten biologischen Wirkungen sind mit diesen Mechanismen konsistent. Zwar werden mehr oder weniger regelmäßig wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht, die physiologische bzw. biochemische Beeinflussungen unterhalb der Grenzwerte nahelegen. Dennoch hat sich hiervon bis heute nichts als nachgewiesen reproduzierbar herausgestellt. Forschungsansätze orientieren sich deshalb auch an kontrovers diskutierten epidemiologischen Daten. Dabei werden insbesondere schwache Korrelationen zwischen dem Auftreten kindlicher Leukämie nach niederfrequenter Magnetfeldexposition sowie zwischen dem Auftreten von Gliomen nach starker Nutzung eines Mobiltelefons herangezogen. Trotz intensiver Forschungsaktivitäten, sowohl in vivo wie in vitro, konnten dazu aber keine reproduzierbaren experimentellen Effekte gefunden werden, und es mangelt auch an einem akzeptierten theoretischen Wirkungsmodell. Letztlich begründet dies alles die Heterogenität nicht nur der deutschen, sondern auch der internationalen Forschungslandschaft zu diesen Themengebieten. Da sich bis heute keine klaren Arbeitshypothesen zu möglichen biologischen Wirkungen und gesundheitlichen Effekten unterhalb der etablierten Grenzwerte herauskristallisiert haben, versuchen Forschungsgruppen häufig „nebenbei“ auch einen EMF-induzierten biologischen Effekt bei ihren aus anderen Interessen speziell entwickelten biologischen Untersuchungen nachzuweisen.

Wie schon in Abschnitt 2 erwähnt, sind für die Aufrechterhaltung der entsprechenden Beurteilungs- und insbesondere auch Kommunikationskompetenz in Deutschland klare Defizite zu konstatieren. Dies kann alleine schon daran abgelesen werden, dass bei entsprechenden Ausschreibungen für wissenschaftliche Forschungsprojekte, z. B. über das BfS im Rahmen der BMU-Ressortforschungspläne, teilweise keine Anträge eingereicht wurden. Auch die Anzahl von Expertinnen und Experten, die bei öffentlichen Diskussionen fundiert und verständlich wissenschaftlich Stellung beziehen, ist sehr beschränkt. Dies bringt zusätzliche Probleme bei der Kommunikation mit der Gesellschaft mit sich.

5.1 Identifizierung wichtiger Forschungsbereiche

Im Bereich EMF-Strahlenschutz gibt es durch ICNIRP zum einen eine weltweit recht einheitliche und immer wieder fortgeschriebene Bewertung des Gefahrenpotenzials im klassischen Frequenzbereich bis 300 GHz, so z. B. in zahlreichen nationalen wie internationalen Reviews und Stellungnahmen (u. a. WHO, ICNIRP)20. Diese lassen derzeit nur einige offen gebliebene wissenschaftliche Fragestellungen erkennen, wie z. B. die biologischen Auswirkungen von Hochfeld-Anwendungen bei zeitlich extrem kurzen, gepulsten Anwendungen. Im Gegensatz zum Bereich der ionisierenden Strahlung ist es daher für den Bereich der nichtionisierenden Strahlung (mit Ausnahme des UV-Bereichs) gegenwärtig wichtig, konkret Forschungsbereiche zu identifizieren, die zu einem weiteren Verständnis der Wirkung von EMF auf die Gesundheit des Menschen beitragen können, zumal die aktuelle von der WHO veröffentlichte Forschungsagenda bereits mehr als zehn Jahre alt ist (WHO 2010).

Zur Identifizierung möglicher gesundheitlicher Effekte hat die WHO 2018 auf internationaler Ebene eine Umfrage initiiert und dabei auch um eine Priorisierung dieser Effekte gebeten. Darauf aufbauend veröffentlichte die WHO in einem zweiten Schritt 2019 eine Ausschreibung mit dem Ziel, Angebote für Übersichtsberichte („Reviews“) in Bezug auf die folgenden Themen zu erhalten: a) Krebs (Beobachtungsstudien an Menschen), b) Krebs (Tierversuche), c) schädliche Auswirkungen auf die Fortpflanzung (Beobachtungsstudien am Menschen), d) schädliche Auswirkungen auf die Fortpflanzung (Tierversuche und in vitro-Studien), e) kognitive Beeinträchtigungen (Beobachtungsstudien am Menschen), f) kognitive Beeinträchtigungen (experimentelle Studien am Menschen), g) Symptome (Beobachtungsstudien am Menschen), h) Symptome (experimentelle Studien am Menschen), i) Effekte der Exposition durch Hochfrequenz auf Biomarker für oxidativen Stress und j) Effekte von Exposition gegenüber Hitze aus jeglicher Quelle auf Schmerzen, Verbrennungen, Katarakte und hitzeassoziierte Erkrankungen. Basierend auf diesen Berichten soll eine aktualisierte internationale Forschungsagenda entwickelt werden, auf deren Basis dann für Deutschland die wichtigsten relevanten Forschungsbereiche bestimmt werden können.

Auf der anderen Seite ist es eine berechtigte Argumentationslinie, dass die immer breitere und auch bewusste Anwendung elektromagnetischer Felder die Erforschung bzw. den Ausschluss ggf. sehr kleiner, bisher nicht bekannter biologischer Wirkungen und gesundheitlicher Effekte unterhalb etablierter Grenzwerte erforderlich macht. Darüber hinaus wären eine bessere quantitative Bestimmung und damit ein besseres Verständnis etablierter Wirkmechanismen wünschenswert, z. B. bzgl. kleiner thermischer Einwirkungen gerade auch hinsichtlich langer Expositionszeiten. Grundsätzlich erachtet die SSK daher folgende Forschungsbereiche als wichtig: Mögliche molekulare Wirkmechanismen elektromagnetischer Feldexpositionen, Epidemiologie und Risikokommunikation.

Im optischen Bereich ist darüber hinaus der physiologische Einfluss der spektralen Verteilung von modernen Lichtquellen wissenschaftlich von Interesse („Blaulichteffekt“ bei LEDs, „Circadianer Rhythmus“) sowie eine genauere Bestimmung des Schädigungspotenzials insbesondere von Laserpointern („Blendattacken“).

Alle diese genannten Forschungsbereiche werden auch im aktuell verfügbaren Arbeitsplan der ICNIRP für den Zeitraum 2020 bis 2024 gelistet21.

Bzgl. der weiteren technischen Entwicklung möglicher Expositionsquellen ist es darüber hinaus erforderlich, wissenschaftliche Kompetenz zu nichtlinearen Wechselwirkungen bei sehr hohen Expositionsfeldstärken und extrem kurzen, pulsförmigen Einwirkungsdauern aufzubauen. Dies gilt gleichermaßen für direkte nichtlineare Wechselwirkungen in biologischem Gewebe wie auch parasitäre Effekte, die indirekt den Menschen gefährden können. Als derzeit relevante Quellen sind hier insbesondere Ultra-Kurzpuls-Laser im optischen Spektralbereich zu Zwecken der Materialbearbeitung zu nennen, deren Leistungsdichte auf der Materialoberfläche ein lokales hochangeregtes Plasma hervorruft, das u. a. parasitäre Röntgenstrahlung erzeugt und somit einen Schutz von Bedienpersonal erforderlich macht. Ob eine derartige Pulsleistungsdichte auch bei tieferen Frequenzen von elektromagnetischen Feldern (< 300 GHz) technisch einmal machbar sein wird, ist offen. Grundlegende Kenntnisse auf diesem Gebiet gehören aber zu einem verantwortungsvollen Strahlenschutz dazu und müssen erarbeitet werden.

5.2 Forschungseinrichtungen in Deutschland

5.2.1 Vorgehensweise

Analog zur Vorgehensweise bei der Identifizierung von Einrichtungen, die in Deutschland in der grundlagenorientierten Strahlenforschung in den Bereichen ionisierender Strahlung und UV-Strahlung aktiv sind, wurde auch zur Identifizierung von Einrichtungen, die in der grundlagenorientierten EMF-Forschung aktiv sind, vorgegangen. Dazu wurden wieder die Liste mit Forschungseinrichtungen, die im Rahmen der KVSF-Initiative ab 2008 Zuwendungen über die Förderbekanntmachungen des BMBF zur nuklearen Sicherheits- und Strahlenforschung (Grundlagenforschung) ­erhielten bzw. noch erhalten22, sowie Vorhaben, die im Rahmen des Ressortforschungsplans Strahlenschutz 2010 bis 2020 durch das BMU gefördert wurden, ausgewertet. In der KVSF-Initiative sind im nichtionisierenden Bereich ausschließlich UV-Projekte gefördert worden, was schon in Abschnitt 4 erläutert wurde.

Im Folgenden werden also die vom BMU über das BfS seit 2010 ausgeschriebenen Forschungsprojekte/​-programme ausgewertet. Sonstige, von anderen Stellen geförderte Projekte zu diesen Themengebieten können nur als sporadisch veranlasst genannt werden und erscheinen mehr oder weniger unsystematisch bzw. einzelfallbezogen. Zu nennen sind z. B. von Berufsgenossenschaften, Unfallversicherungen oder ähnlichen Einrichtungen geförderte Projekte, die die Einhaltung der etablierten Grenzwertbestimmungen in speziellen beruflichen Expositionsszenarien überprüfen sollen oder Fragen der Sicherheit aktiver medizinischer Implantate bei Körperexposition betreffen. Hinzu kommen einige DFG-geförderte Projekte mit Grundlagenforschungsbedarf zur Entwicklung geeigneter Simulationsmethoden sowie BMBF-geförderte Projekte zu technischen Minimierungsmöglichkeiten hochfrequenter Feldexposition („Miniwatt“).

5.2.2 Identifizierung von im Rahmen der Ressortforschung des BMU geförderten Forschungsnehmern

Von den insgesamt für den Zeitraum 2010 bis 2020 gelisteten 206 Projekten waren 158 dem Bereich ionisierender Strahlung zuzuordnen (siehe Abschnitt 3.3) sowie sechs Projekte dem Bereich UV-Strahlung (siehe Abschnitt 4.3). Aus dem Bereich EMF wurden 36 Projekte gefördert. Zusätzlich wurden vier Projekte aus dem Bereich optische Strahlung, eines aus dem Bereich Ultraschall und ein allgemein rechtliches Projekt gefördert. Diese werden im folgenden Text nicht weiter betrachtet.

Von diesen 36 Projekten wurden 42 % im Themenbereich Strahlenbiologie/​Wirkungsmechanismen durchgeführt (vier davon von der Fraunhofer-Gesellschaft, vier von der Charité − Universitätsmedizin Berlin und drei von der Jacobs Universität Bremen GmbH), 28 % im Themenbereich Exposition (jeweils zwei davon von der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) Aachen und der IMST GmbH) und 25 % im Bereich Kommunikation. Ein Vorhaben beschäftigte sich mit epidemiologischen Fragestellungen (Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz), ein weiteres mit einer anderen Fragestellung.

5.3 Diskussion

Insgesamt muss zum Bereich der EMF-Forschungskompetenz in Deutschland in den beiden letzten Dekaden konstatiert werden, dass sich keine Forschungsinstitution hauptsächlich und dauerhaft auf dem Gebiet des EMF-Strahlenschutzes etabliert hat. Als dauerhaft über Eigen- wie Drittmittel finanzierte Einrichtung ist einzig das „EMF-Portal“ an der RWTH Aachen zu nennen, das die wissenschaftliche Literatur zu EMF sehr vollständig sichtet und in Form einer wissensbasierten Datenbank strukturiert zur Verfügung stellt.

Im Jahr 2020 wurde das „Kompetenzzentrum EMF“ des BfS in Cottbus neu gegründet. Es befindet sich im Aufbau und soll sowohl die Bereiche „Forschung und Bewertung“ wie auch „Kommunikation und Information“ zu EMF aus Strahlenschutzsicht abdecken.

Im eigentlichen wissenschaftlichen Forschungsbetrieb gibt es dahingegen keinerlei institutionelle Einrichtungen oder Arbeitsgruppen mit Fokus auf die EMF-Forschung.

An einigen wenigen Universitätsinstituten wie auch außeruniversitären Forschungseinrichtungen wurden vorübergehend (typisch fünf bis zehn Jahre Dauer) im Rhythmus der zur Verfügung stehenden Forschungsgelder partielle Schwerpunkte gesetzt; neben dem Deutschen Mobilfunk Forschungsprogramm (DMF) sind auch noch kleinere Programme einiger Bundesländer wie z. B. in Nordrhein-Westfalen zu nennen. Dadurch kam es hier zu einem „Auf und Ab“ entsprechender Kompetenzen in diesen Zeitintervallen. Konkrete Beispiele seien genannt: Konstruktion von Expositionseinrichtungen an der Universität Wuppertal oder am IMST in Kamp-Lintfort, Expositionen von Tieren (Maus, Ratte etc.) sowohl im NF- als auch im HF-Bereich am Fraunhofer-Institut für Toxikologie und Experimentelle Medizin (Fraunhofer ITEM) in Hannover oder der Jacobs Universität in Bremen.

Diese Situation ist bzgl. des Kompetenzerhalts insofern zu kritisieren, als dass sowohl Expositionseinrichtungen für die experimentelle biologische Forschung zu möglichen Wirkmechanismen als auch eine zugehörige State-of-the-Art-Temperaturkontrolle, gerade bei Expositionen im HF-Bereich, sehr aufwändig zu realisieren sind und langjähriges Erfahrungswissen wie auch sehr sorgfältiges Vorgehen bei den Versuchen und wiederholtes Überprüfen (Reproduzierbarkeit!) erfordern. Die gängige Ausschreibungspraxis z. B. im Rahmen der Ressortforschungsplanung oder die Praxis überwiegend drittmittelfinanzierter Forschung stößt hier an Grenzen, weil die benötigte Erfahrung und Infrastruktur in interessierten Arbeitsgruppen als Voraussetzung fast immer fehlen. Dies liegt auch daran, dass die in Abschnitt 5.1 beschriebenen wie auch in den Ressortforschungsplänen (Abschnitt 5.2) geförderten biologischen Forschungsansätze sehr viele verschiedene, heterogene Themengebiete umfassen. Fast zu jedem dieser Themengebiete existieren eigene spezialisierte Arbeitsgruppen, für die allerdings Versuche unter Einbeziehung von EMF-Expositionen meistens Neuland darstellen.

Als Voraussetzung für einen Kompetenzerhalt und die Fähigkeit, neue biologische Wirkhypothesen zu EMF-Expositionen in vernünftigen Zeiträumen erforschen und/​oder überprüfen zu können, erachtet die SSK es als wichtig, die technische und die wissenschaftliche Expertise für die Durchführung von EMF-Expositionsexperimenten und -Messtechniken dauerhaft aufrechtzuerhalten.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie junge Menschen bei ihrer Berufswahl für derartige Aufgaben interessiert werden können. Die SSK stellt fest, dass in den fortgeschrittenen fachnahen Ausbildungsgängen (Masterstudiengängen) keine Grundvorlesung über den jeweils komplementären Bereich zumindest als Wahlpflichtfach angeboten wird. Dies bedeutet konkret, dass z. B. im Bereich Biologie und Medizin keine Grundvorlesung über elektromagnetische Felder einschließlich optischer und UV-Strahlung und deren Anwendungen angeboten wird, in der z. B. das Wesen eines Strahlenfeldes, die Bedeutung der Frequenz und der Quantenenergie und die Wechselwirkung von nichtionisierender Strahlung mit biologischer Materie etc. behandelt wird. Dementsprechend fehlt auch im Bereich der Physik/​Optik und Elektrotechnik eine Vorlesung über Physiologie und biologische Makromoleküle (und wie diese auf äußere Feldeinflüsse reagieren). Die anhaltende Diskussion in der Öffentlichkeit macht klar, dass zudem die Vermittlung von Kommunikationskompetenz auch in diesen Bereichen gesellschaftspolitisch wichtig ist. Gerade wissenschaftlich ausgebildete Personen sollten sich an gesellschaftspolitischen Debatten über Chancen sowie vermeintliche oder reale Risiken bei der Einführung neuer Technologien kompetent beteiligen können. Derzeit ist dies kaum der Fall.

6 Zusammenfassung und Bewertung

Im Rahmen eines Beratungsauftrags bat das BMU die SSK, im Hinblick auf eine Sicherung der Kompetenz in der Strahlenforschung die für Deutschland wichtigsten wissenschaftlichen Forschungsbereiche und Forschungsakteure zu identifizieren. Dabei umfasst der Begriff Strahlenforschung alle grundlagen- und anwendungsorientierten Themenfelder, die letztendlich zum Nutzen und zum Schutz des Menschen, seiner Umwelt und Gesundheit beitragen.

Hintergrund ist, dass die Unterstützung für die Strahlenforschung (auch in materieller Hinsicht) in Deutschland in den vergangenen Jahren aus verschiedenen Gründen abgenommen hat und dadurch der Erhalt der Kompetenz in der Strahlenforschung gefährdet ist. Dies bewertet die SSK als kritisch, da die Strahlenforschung auf vielen gesellschaftlich relevanten Gebieten grundlegende Beiträge liefert bzw. liefern kann. Dies trifft z. B. auf viele von der Bundesregierung zur Stärkung des Standorts Deutschlands ins Leben gerufene Initiativen (z. B. Nationale Dekade gegen Krebs) zu sowie auf viele wissenschaftliche Disziplinen, die von Beiträgen der Strahlenforschung profitieren (z. B. Biologie, Materialwissenschaften, Technologieentwicklung).

Für die Identifizierung der wichtigsten Forschungsbereiche und Forschungsakteure standen eine Liste von Forschungsprojekten, die seit der Gründung des KVSF im Jahr 2007 im Rahmen von Förderprogrammen der Bundesregierung durch das BMBF Zuwendungen erhalten haben bzw. noch erhalten (Stand Ende 2020) und eine Liste von Vorhaben, die im Rahmen des Ressortforschungsplans Strahlenschutz 2010 bis 2020 durch das BMU gefördert wurden bzw. noch werden, zur Verfügung.

Informationen zu weiteren Forschungseinrichtungen, die Projekte zur Strahlenforschung gefördert haben könnten, konnten nicht berücksichtigt werden. Die SSK ist jedoch der Ansicht, dass die Auswertung der insgesamt etwa 370 im Bereich ionisierender Strahlung und nichtionisierender Strahlung (einschließlich UV und EMF) durch BMBF und BMU geförderten Forschungsprojekte einen groben Überblick über die in der Strahlenforschung in Deutschland aktiven Institutionen ermöglichte. Die Ressortforschung des Bundes wird in einer Bedarfsanalyse des BMU gesondert behandelt.

Die SSK nimmt zu den für die Strahlenforschung in Deutschland wichtigen Forschungsbereichen und zu den in der Strahlenforschung in Deutschland aktiven Forschungseinrichtungen wie folgt Stellung:

1.
Die Exposition durch ionisierende und nichtionisierende Strahlung und die damit verbundenen möglichen gesundheitlichen Auswirkungen auf den Menschen betreffen die Gesellschaft als Ganzes. Forschung an und mit Strahlung erfordert interdisziplinäre wissenschaftliche Ansätze, und zugleich profitieren andere Wissenschaftsbereiche von den in der Strahlenforschung angewandten Methoden und erzielten Ergebnissen. Die SSK ist der Auffassung, dass sich diese wechselseitige Interaktion positiv auf die Entwicklung des Forschungsstandortes Deutschland auswirkt.
2.
In der Vergangenheit hatte die Strahlenforschung in Deutschland auf der Basis einer langen Tradition einen hohen Stellenwert, und deutsche Strahlenforscherinnen und -forscher genießen international immer noch hohes Ansehen. Die SSK hält es für wichtig, diese Stellung zu erhalten und weiter auszubauen, um den Forschungsstandort Deutschland weiter zu stärken.
3.
Die SSK erachtet nach Analyse gegenwärtiger internationaler Entwicklungen im Bereich der ionisierenden Strahlung die folgenden Bereiche als besonders wichtig: Strahlenbiologie, Strahlenepidemiologie, Strahlenrisikobewertung, medizinische Anwendungen ionisierender Strahlung, Radioökologie, Strahlenmesstechnik, Dosimetrie und Schutz bei radiologischen und nuklearen Notfällen inklusive medizinischem Notfallschutz. Die Auswertung von Forschungsvorhaben, die im Rahmen der KVSF-Initiative durch das BMBF und im Rahmen des Ressortforschungsplans durch das BMU gefördert wurden, zeigt, dass etwa die Hälfte der Forschungsprojekte zur ionisierenden Strahlung von nur etwa 15 Forschungsinstitutionen bearbeitet wurden, von denen einige mittlerweile nicht mehr oder nur noch eingeschränkt in der Strahlenforschung aktiv sind (z. B. Helmholtz Zentrum München, Institut für Strahlenbiologie und Institut für Strahlenschutz; Universitätsklinikum Essen, Institut für Medizinische Strahlenbiologie). Bei anderen ist die zukünftige Ausrichtung bzw. der Bestand der Strahlenforschung unklar. Ähnliche Entwicklungen können gegenwärtig auch bei Ressortforschungseinrichtungen beobachtet werden, wie z. B. bei der Auflösung des Fachbereichs Strahlenwirkungen der PTB. Flankiert wurden die Anstrengungen der oben ­genannten 15 Institutionen durch eine Vielzahl weiterer Institutionen, die die übrigen Forschungsprojekte bearbeiteten. Die SSK weist darauf hin, dass eine Mindestanzahl von Institutionen nötig ist, um die Breite der für die Strahlenforschung relevanten wissenschaftlichen Themen bearbeiten zu können. Dies trifft auch auf den Bereich der nichtionisierenden Strahlung zu.
4.
Die SSK erachtet Beiträge von Universitäten und Hochschulen zur Strahlenforschung in Deutschland ebenfalls als wichtig. Auch wenn Universitäten teilweise kurzfristig auf Veränderungen in der Wissenschaftslandschaft reagieren, Forschungsschwerpunkte anpassen und unter Umständen verdiente Institute und Institutionen auflösen müssen, so besteht doch Besorgnis darüber, dass nirgendwo in der universitären Landschaft eine klare Strategie für den Kompetenzerhalt in der Strahlenforschung auf dem erforderlichen akademischen Niveau erkennbar ist. Die SSK vermisst in der universitären Landschaft ein klares Signal, dass die Strahlenforschung die akademische Beachtung erhält, die für Forschung auf hohem Niveau erforderlich ist und die ihr aufgrund ihrer gesellschaftlichen Bedeutung zusteht.
5.
Als einen Hauptakteur in der Strahlenforschung sieht die SSK die Helmholtz-Gemeinschaft mit ihren nationalen Forschungszentren als prädestiniert an, da sie sich gerade der Beantwortung von Fragen verschrieben hat, die die Gesellschaft als Ganzes betreffen. Die SSK stellt fest, dass in der programmorientierten Forschung (POF) der Helmholtz-Gemeinschaft die Strahlenforschung an Bedeutung verloren hat.
6.
Während in einigen der identifizierten Bereiche in Deutschland Anstrengungen unternommen werden müssen, um vorhandene Kompetenz zu erhalten, sieht die SSK in einigen anderen Bereichen der Forschung mit ionisierender Strahlung Anzeichen für besorgniserregende Defizite, insbesondere in der grundlagenorientierten Strahlenbiologie, Strahlenepidemiologie, Strahlenrisikobewertung, Radioökologie, Strahlenmesstechnik und Dosimetrie.
7.
In Anbetracht der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung von Strahlenexposition und Strahlenwirkung ist aus Sicht der SSK im Sinne eines ganzheitlichen Ansatzes zudem die Zusammenarbeit mit den Geistes- und Sozialwissenschaften zunehmend von großer Bedeutung. In der Strahlenforschung gibt es etliche Bereiche, die neben der naturwissenschaftlichen Perspektive auch die der Geistes- und Sozialwissenschaften benötigen. In medizinischen Anwendungen und der Forschung ist diese Einbindung hinsichtlich z. B. medizinethischer Beurteilungen schon gängige Praxis, benötigt aber noch weitere Stärkung insbesondere im Hinblick auf individualisierte Medizin und den Einsatz von künstlicher Intelligenz. Im Bereich des Notfallschutzes und auch der Radonvorsorge ist die Zusammenarbeit mit Kommunikationswissenschaften wesentlich, in der nuklearen Entsorgungsforschung erfolgen erste Ansätze der interdisziplinären und neuerdings transdisziplinären Forschung. Die SSK hält es für wichtig, dass diese Zusammenarbeit in der zukünftigen Strahlenforschung ausgebaut wird.
8.
In Bezug auf UV-Forschung wurde gut die Hälfte der im Rahmen der KVSF-Initiative durch das BMBF geförderten strahlenbiologischen Projekte von fünf Institutionen bearbeitet, von denen eine nicht mehr existiert und eine weitere nur noch eingeschränkt auf dem Gebiet der UV-Strahlenforschung aktiv ist. Im Rahmen des Ressortforschungsplans wurden hauptsächlich Projekte zur Kommunikation gefördert und von verschiedenen Institutionen bearbeitet.
9.
Unter Berücksichtigung der hohen Relevanz der UV-Exposition für die Bevölkerung sieht die SSK die aktive Beteiligung von nur drei Institutionen an strahlenbiologischer UV-Forschung kritisch, da damit der Bedarf an Fachkompetenz auf lange Sicht nicht gedeckt werden kann. Die Forschungsbereiche Strahlenepidemiologie, Strahlenrisiko, Messtechnik und UV-Therapie spielen für ein umfassendes UV-Strahlenschutzkonzept eine wichtige Rolle, werden jedoch gar nicht oder nur unzureichend gefördert.
10.
Als Voraussetzung für einen Kompetenzerhalt und die Fähigkeit, neue biologische Wirkhypothesen zu EMF-Expositionen in angemessenen Zeiträumen erforschen und/​oder überprüfen zu können, muss eine technische wie wissenschaftliche Expertise für die Durchführung von EMF-Expositionsexperimenten und -Messtechniken dauerhaft verfügbar sein.
11.
Auch der Erhalt und Ausbau von Infrastruktur im Bereich ionisierender und nichtionisierender Strahlung ist eine Voraussetzung für den Kompetenzerhalt (z. B. EMF-Expositionsanlagen mit State-of-the-Art-Temperaturkontrolle oder Ionenbeschleuniger, die nicht an einen Routine-Patientenbetrieb gekoppelt sind und die sowohl ein möglichst breites Spektrum von Strahlenqualitäten bieten als auch eine Variation der zeitlichen Expositionsmuster bis hin zu ultrahohen Dosisraten und Pulsbetrieb ermöglichen). Um die Bearbeitung grundlagenorientierter Fragestellungen in der Strahlenforschung zu ermöglichen, erscheint der SSK eine nachhaltige Planung, die ebenso auf den Erhalt von für die Forschung bewährten Infrastruktur-Einrichtungen wie auf die Weiterentwicklung modernster Infrastruktur ausgerichtet ist, unerlässlich.
12.
Die durchgeführte Auswertung hat gezeigt, dass für den langfristigen Erhalt der Kompetenz in der Strahlenforschung in Deutschland die Förderung von Forschungsprojekten durch die KVSF-Initiative des BMBF eine zentrale Rolle spielte, komplementär ergänzt durch die Ressortforschungsförderung des BMU. Dieses Zusammenspiel war in den vergangenen 15 Jahren sehr erfolgreich bezüglich Vernetzung, Kompetenzerhalt und Nachwuchsförderung und hat sich daher aus Sicht der SSK bewährt.
13.
Ergänzend dazu hält die SSK das Zusammenwirken aller Akteure wie universitäre und außeruniversitäre Forschungsinstitute sowie der Ressortforschungseinrichtungen für entscheidend.
14.
Die SSK spricht sich für eine nachhaltige Integration der Strahlenforschung in die nationalen Forschungsstrategien aus, z. B. in die „Hightech-Strategie 2025“, die „Nationale Dekade gegen Krebs“, die „Nationale Strategie für Künstliche Intelligenz“ und die Strategie der Bundesregierung zur Energiewende.

Die Bundesregierung hat eine ganze Reihe an Initiativen auf den Weg gebracht, um den Forschungsstandort Deutschland zu stärken und weiterzuentwickeln. Diese Initiativen erfordern, wenn dabei neue Technologien entwickelt und eingesetzt werden, grundsätzlich eine systematische Begleitforschung, wie z. B. Vorlaufforschung, Technikfolgenabschätzung und Implementationsbegleitung. In allen Fällen, in denen dabei ionisierende bzw. nichtionisierende Strahlung vorkommt, sieht die SSK die Beteiligung, den Erhalt und den Ausbau der bereits existierenden Strahlenforschung als unabdingbar an.

Daher ist es aus Sicht der SSK generell wichtig, unter Einbeziehung aktueller technologischer Entwicklungen einschließlich der fortschreitenden Digitalisierung, der Anwendung künstlicher Intelligenz und der Nutzung von Methoden zur Auswertung großer Datenmengen attraktive Forschungsthemen zu entwickeln, um so die Strahlenforschung wahrnehmbarer und gegenüber anderen Fachrichtungen konkurrenzfähiger zu machen.

Die SSK ist überzeugt, dass der Forschungsstandort Deutschland maßgeblich davon profitieren wird, wenn die wissenschaftliche Kompetenz in den in der vorliegenden Stellungnahme identifizierten und für die Strahlenforschung wichtigen Bereichen wiederhergestellt, erhalten bzw. gestärkt wird. Nur dann können wie bislang die Interessen Deutschlands im Bereich des Strahlenschutzes auch künftig in die internationale Diskussion eingebracht werden.

Abschließend sei betont, dass ionisierende und nichtionisierende Strahlung durch natürliche und künstliche Quellen aus dem Alltag nicht wegzudenken ist und daher niemand die Exposition durch Strahlung vermeiden kann. Zu diesen Quellen zählen das natürliche radioaktive Edelgas Radon, die kosmische Strahlung, moderne Methoden in medizinischer Diagnostik und Therapie, solare UV-Strahlung oder elektromagnetische Felder beim Ausbau des 5G-Netzes, bei der Planung des 6G-Netzes oder bei der Entwicklung von Elektromobilität. In Anbetracht der breiten gesellschaftlichen Bedeutung von Strahlenforschung und Strahlenanwendung ist aus Sicht der SSK eine langfristig ausgerichtete Förderung grundlagen- und anwendungsorientierter Strahlenforschung in Deutschland unabdingbar.

Im Anschluss an diese Stellungnahme wird die SSK entsprechend des Beratungsauftrages des BMU Empfehlungen entwickeln, welche Maßnahmen zur Förderung der Strahlenforschung ergriffen werden können, damit Forschung im Bereich ionisierender und nichtionisierender Strahlung in Deutschland gestützt und die Kompetenz langfristig gesichert werden kann.

7  Literatur

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