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Bekanntmachung einer Stellungnahme der Strahlenschutzkommission (SSK) „Vorschläge der SSK zur Weiterentwicklung von ICRP 103“

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Bundesministerium
für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit
und Verbraucherschutz

Bekanntmachung
einer Stellungnahme der Strahlenschutzkommission (SSK)
„Vorschläge der SSK zur Weiterentwicklung von ICRP 103“

Vom 18. September 2023

Nachfolgend wird die Stellungnahme der SSK, verabschiedet in der 326. Sitzung der Kommission 8./​9. Mai 2023, bekannt gegeben (Anlage).

Bonn, den 18. September 2023

S II 2 – 1702/​004-2023.0001

Bundesministerium
für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit
und Verbraucherschutz

Im Auftrag
Engelhardt

Anlage

Vorschläge der SSK zur Weiterentwicklung von ICRP 103

Stellungnahme der Strahlenschutzkommission
Verabschiedet in der 326. Sitzung der Strahlenschutzkommission am 8./​9. Mai 2023

Vorwort

Das gegenwärtig international praktizierte Strahlenschutzsystem stützt sich auf die als Publikation 103 der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP) veröffentlichte Grundsatzempfehlung aus dem Jahr 2007. Seit einigen Jahren ist es erklärte Absicht der ICRP, die Diskussion zu Strahlenschutzproblemen aus dem inneren Zirkel der Mitglieder der Main Commission und ihrer vier Committees zu öffnen und der weltweiten Strahlenschutz-Fachwelt mehr Gelegenheit zu geben, sich daran zu beteiligen. Unter dem Titel „The Future of Radiological Protection“ fand Ende 2021 ein viel beachteter Workshop der ICRP statt, der als Startpunkt für eine breit angelegte und weltweit geführte Debatte zur zukünftigen Ausgestaltung des Strahlenschutzsystems aufgefasst werden kann.

Das Bundesumweltministerium hat die SSK gebeten, sich an dieser Debatte zu beteiligen und zu prüfen, inwiefern die von der ICRP zur Überarbeitung vorgesehenen Themen und Aspekte vollständig sind. Erforderlichenfalls sollten ergänzende Vorschläge gemacht werden, wie die bislang vorgesehenen relevanten Themen und Aspekte nachvollziehbar begründet, priorisiert und wodurch sie aus Sicht der SSK gegebenenfalls zu ergänzen wären.

Die vorliegende Stellungnahme stellt das Ergebnis der Bearbeitung dieses Beratungsauftrags dar und wurde durch eine Arbeitsgruppe der SSK formuliert, der die folgenden Mitglieder angehörten:

Prof. Dr. Joachim Breckow
Dan Philipp Baaken MSc
Prof. Dr. Christoph Hoeschen
Prof. Dr. Karl-Heinz Jöckel
Dipl.-Phys. Jürgen Kopp
Dipl.-Phys. Christian Küppers
Dr. Andreas Maier
Prof. Dr. Rolf Michel
Prof. Dr. Wolfgang-Ulrich Müller
Dr. Annette Röttger
Dr. Stefan Thierfeldt
Prof. Dr. Friedo Zölzer
Prof. Dr. Joachim Breckow

Vorsitzender der Arbeitsgruppe
„Überarbeitung der ICRP-Publikation 103“
der Strahlenschutzkommission

Prof. Dr. Ursula Nestle

Vorsitzende der
Strahlenschutzkommission

Inhalt

1 Einleitung
2 ICRP-Themenfelder seit ICRP-Publikation 103
2.1 Einleitung
2.2 Publikationen der IRCP seit ICRP-Publikation 103
2.2.1 Grundlagen
2.2.2 Medizin
2.2.2.1 Allgemein
2.2.2.2 Diagnostische Anwendungen
2.2.2.3 Therapeutische Anwendung
2.2.3 Dosisberechnung
2.2.3.1 Allgemein
2.2.3.2 Computermodelle
2.2.3.3 Berufliche Exposition
2.2.3.4 Natürliche Exposition
2.2.4 Radon
2.2.5 Notfallschutz
2.2.6 Flora und Fauna
2.2.7 Strahlenbiologie
2.2.8 Sonstige Themenfelder
2.3 Von der ICRP zur weiteren Bearbeitung identifizierte Themenfelder
3 Einschlägige SSK-Empfehlungen seit ICRP-Publikation 103
3.1 Fragen zur Konzeption des Strahlenschutzes
3.1.1 Dosis- und Dosisleistungs-Effektivitätsfaktor (DDREF)
3.1.2 Radon-Dosiskoeffizienten
3.1.3 Strahleninduzierter Hautkrebs
3.1.4 Herz-Kreislauferkrankungen
3.1.5 Benigne Tumoren
3.1.6 Katarakte
3.1.7 Schutz der Umwelt
3.1.8 Geschlechtsspezifische Strahlenempfindlichkeit
3.2 Fragen zur praktischen Umsetzung
3.2.1 Grenzwerte für beruflich strahlenexponierte Personen
3.2.2 Grenzwerte für die Bevölkerung
3.2.3 Organdosisgrenzwerte
3.2.4 Operational Intervention Levels (OILs)
3.2.4.1 Abgeleitete Richtwerte (OILs)
3.2.4.2 Festlegung von abgeleiteten Richtwerten (OILs) für Schutzmaßnahmen
3.2.4.3 Modellierung der Expositionspfade
4 Von der SSK zur weiteren Bearbeitung zusätzlich identifizierte Themenfelder
4.1 Grundsatzfragen
4.1.1 Das LNT-Modell
4.1.2 Detriment
4.1.3 Einführung eines Ampelmodells zur Kommunikation im Strahlenschutz
4.1.4 Praktikabilität, Realismus, Individualisierung des Strahlenschutzsystems
4.1.5 Unsicherheiten im Strahlenschutz
4.1.6 Ethische Aspekte
4.1.7 Strahlenschutzkultur
4.2 Einzelfragen
4.2.1 Operationelle Messgrößen ICRU 95 (ICRP und ICRU)
4.2.2 Probleme bei der Einführung der neuen Messgrößen
4.2.3 Relative Biologische Wirksamkeit und Strahlungs-Wichtungsfaktor
4.2.4 Digitalisierung, KI
4.2.5 Citizen Science im Strahlenschutz
4.2.5.1 Beispiele für Citizen Science im Strahlenschutz
4.2.5.2 Positive Effekte und Limitationen von Citizen Science
4.2.6 Strahlenschutzfragen bei der Anwendung neuer Verfahren in der Medizin
5 Stellungnahme
6 Literatur
Anhang Task Groups der ICRP, deren Beratungen noch nicht abgeschlossen sind (Stand 30. November 2022)

1 Einleitung

Bereits wenige Jahre nach der Entdeckung der Röntgenstrahlen durch W. C. Röntgen im Jahre 1895 (Röntgen 1896) und der Kernstrahlung durch A. H. Becquerel im folgenden Jahr (Becquerel 1896) gab es erste Beobachtungen von Schädigungen, die durch diese Strahlenarten verursacht werden können (z. B. Drury 1896, Frieben 1902). Bald wurde deutlich, dass zum Schutz vor solchen Schädigungen Maßnahmen ergriffen werden mussten. Bereits zu dieser Zeit bildeten sich nationale und internationale Gremien und Verbände, die Empfehlungen zu solchen Schutzmaßnahmen erarbeiteten und zur Umsetzung vorschlugen. Deren Mitglieder waren in der Regel Mediziner, die in dem neuen Fachgebiet der Radiologie diese neuen Arten von Strahlung zu diagnostischen und therapeutischen Zwecken anzuwenden begannen.

1925 fand in London der International Congress of Radiology statt, eine erste internationale Zusammenkunft von Radiologen, die als Startpunkt des internationalen Strahlenschutzes angesehen werden kann. Beim zweiten Kongress dieser Art wurde 1928 in Stockholm dann das „International X-Ray and Radium Protection Committee“ (IXRPC) gegründet, das als Vorgängergremium der heutigen ICRP gelten kann. In den Folgejahren wurde es mehrfach umbenannt, unter anderem um zum Ausdruck zu bringen, dass Strahlenschutz nicht wie bis dahin allein die Medizin betrifft, sondern einen allgemeineren Anwendungsbereich. Im Jahr 1950 erhielt die Kommission dann ihren heutigen Namen als „International Commission on Radiological Protection“ (ICRP). Die ICRP ist eine unabhängige internationale Organisation, die zum öffentlichen Nutzen die Wissenschaft des Strahlenschutzes fördert, insbesondere durch die Bereitstellung von Empfehlungen und Leitlinien zu allen Aspekten des Schutzes vor ionisierender Strahlung. Ihr rechtlicher Status ist der einer eingetragenen Wohltätigkeitsorganisation. Eine ausführlichere Darstellung der Geschichte der ICRP findet sich in Clarke and Valentin (Clarke und Valentin 2009).

Ursprünglich veröffentlichte die ICRP ihre Empfehlungen und Verlautbarungen als Artikel in verschiedenen medizinischen und physikalischen Fachzeitschriften. Seit 1959 verfügt die ICRP über eine eigene, durchnummerierte Schriftenreihe, die seit 1977 in Form einer wissenschaftlichen Zeitschrift als „Annals of the ICRP“ veröffentlicht wird.

Traditionell sieht die ICRP ihre Aufgabe vor allem in der Erstellung von Empfehlungen zu grundsätzlichen Fragen des Strahlenschutzes. Diese bilden die Basis für das Prinzip und das Konzept des Strahlenschutzsystems, das dann in den jeweiligen nationalen gesetzlichen Regelungen seine Verankerung findet. Eine Vielzahl weiterer wichtiger internationaler Institutionen begleitet, unterstützt und ergänzt die Arbeit der ICRP. So sammelt und sichtet das Strahlenschutzkomitee der Vereinten Nationen, das „United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation“ (UNSCEAR), die relevanten Ergebnisse aus den verschiedenen Bereichen der Strahlenforschung und stellt damit den wissenschaftlichen Erkenntnisstand für den Strahlenschutz zusammen. Die „International Atomic Energy Agency“ (IAEA) richtet ihr Augenmerk hauptsächlich auf die Anwendung in der Kerntechnik, und die „International Radiation Protection Association“ (IRPA) vertritt als internationaler Dachverband der nationalen Strahlenschutz-Fachverbände die Perspektive des praktischen Strahlenschutzes und der beruflich im Strahlenschutz Tätigen.

Seit Beginn ihres Bestehens ist der weltweite Einfluss der ICRP auf die Diskussion und Entwicklung von allgemeinen Strahlenschutzstandards bemerkenswert groß. Das von ihr entworfene Gesamtsystem und damit die grundsätzliche Konzeption des Strahlenschutzes haben Eingang in nahezu alle gesetzlichen Regelungen zum Strahlenschutz gefunden. Weltweit stützt sich die nationale Gesetzgebung bei Regelungen im Strahlenschutz im Wesentlichen auf die Empfehlungen der ICRP, so dass in der historischen Entwicklung des Strahlenschutzes dessen gesetzliche Regelung weltweit erstaunlich homogen ist. Daher ist die außerordentlich große Beachtung der Empfehlungen der ICRP in der Strahlenschutz-Fachgemeinde nicht überraschend.

Die erste Übereinkunft zu Strahlenschutzstandards, die als Grundsatzempfehlung der ICRP (beziehungsweise der damaligen IXRPC) aufgefasst werden kann und die erstmals auch eine Form von Grenzwertempfehlungen enthielt, stammt aus dem Jahr 1934 (IXRPC 1934). Es handelte sich dabei hauptsächlich um Vorschläge zur Vermeidung von deterministischen Effekten für beruflich strahlenexponierte Personen (in heutiger Terminologie). Die erste „moderne“ Grundsatzempfehlung war die ICRP-Publikation 26 aus dem Jahr 1977 (ICRP 1977a), die als ein erstmals geschlossen dargestelltes Strahlenschutzkonzept angesehen werden kann. Darin wurden bereits die noch heute bestehenden Strahlenschutzgrundsätze Rechtfertigung, Optimierung und Begrenzung formuliert, die als „Säulen“ des gesamten Strahlenschutzsystems betrachtet werden können. Auch die effektive Dosis mit den Strahlungs-Wichtungsfaktoren und den Organ-Wichtungsfaktoren (also auch dem Detriment-Begriff) sowie die Unterscheidung zwischen stochastischen und deterministischen Effekten geht auf die ICRP-Publikation 26 zurück.

Die 1990 erschienene ICRP-Publikation 60 (1990 Recommendations of the International Commission on Radiological Protection, ICRP 1991a) war ein weiterer großer Schritt in Richtung konzeptioneller Erweiterung und Präzisierung. In den Jahren zuvor waren in einer Reihe von Berichten der „Radiation Effects Research Foundation“ (RERF), der japanisch-amerikanischen Forschergruppe, die die Studien an den japanischen Atombombenüberlebenden (LSS) durchführt, neue umfangreiche Daten und Auswertungen zur LSS-Kohorte erschienen (z. B. Preston et al. 1987). Zusammen mit der Revision der LSS-Dosimetrie DS86 (z. B. Fry und Sinclair 1987) führte dies zu verbesserten und belastbareren Risikoschätzungen, die die Grundlage für die Empfehlung für eine Absenkung der Grenzwerte bildeten. Die in der ICRP-Publikation 60 (ICRP 1991a) empfohlenen Grenzwerte sind die, die auch heute noch Gültigkeit haben.

Das gegenwärtig international praktizierte Strahlenschutzsystem stützt sich auf die als ICRP-Publikation 103 veröffentlichte Grundsatzempfehlung aus dem Jahr 2007 (The 2007 Recommendations of the International Commission on Radiological Protection, ICRP 2007b). Neben einer Vielzahl von Erweiterungen und Neuordnungen

wurden hierin die drei Strahlenschutzgrundsätze Rechtfertigung, Optimierung und Begrenzung weiter präzisiert, die in dieser Form inzwischen Aufnahme in zahlreichen internationalen und nationalen Regelwerken und Gesetzen gefunden haben. Sie gelten in verschiedener Ausgestaltung für geplante, bestehende und Notfallexpositionssituationen. Grenzwerte existieren für geplante Expositionssituationen bei beruflicher Exposition und für die Exposition der Bevölkerung, nicht hingegen für medizinisch zu untersuchende oder zu behandelnde Personen. Anstelle von Grenzwerten werden in bestehenden und Notfallexpositionssituationen, in denen ein generell gültiger Grenzwert nicht angemessen ist, „dose constraints“ und Bandbreiten von Referenzwerten definiert, die als Instrument des Optimierungsgrundsatzes ein flexibles und praktikables Vorgehen erlauben, um eine Strahlenexposition generell so gering wie auf angemessene Weise möglich zu halten. Dies hat als „ALARA-Prinzip“ Eingang in das allgemeine Strahlenschutzkonzept gefunden (ICRP 2007b).

Seit einigen Jahren ist es erklärte Absicht der ICRP, die Diskussion zu Strahlenschutzproblemen aus dem inneren Zirkel der Mitglieder der Main Commission und ihrer vier Committees zu öffnen und der weltweiten Strahlenschutz-Fachwelt mehr Gelegenheit zu geben, sich daran zu beteiligen. Dies findet seinen Ausdruck unter anderem im Angebot zahlreicher Workshops zu einzelnen relevanten Strahlenschutzthemen, in Vorträgen auf Kongressen und Tagungen sowie der Aufforderung zur Mitarbeit an der Erarbeitung von Empfehlungsentwürfen in Task Groups der ICRP. Auch werden zunehmend Textentwürfe von Empfehlungen vor der Verabschiedung zur Kommentierung freigegeben.

Unter dem Titel „The Future of Radiological Protection“ fand Ende 2021 ein viel beachteter Workshop der ICRP statt, der als Startpunkt für eine breit angelegte und weltweit geführte Debatte zur zukünftigen Ausgestaltung der Strahlenschutzsystems aufgefasst werden kann. Vorangegangen waren zwei Publikationen, in denen die Absicht zur Eröffnung einer breiten, offen und transparent geführten Diskussion skizziert wurde (Laurier et al. 2021, Clement et al. 2021). Die ICRP sieht sich demnach am Beginn einer langfristig (vermutlich über mehr als zehn Jahre) und international angelegten Diskussion zur Erarbeitung einer neuen Grundsatzempfehlung, die die ICRP-Publikation 103 (ICRP 2007b) ablösen soll. Obwohl sich das System des Strahlenschutzes durchaus bewährt hat, grundlegenden ethischen Grundsätzen genügt und sich in der praktischen Anwendung auch als robust erwiesen hat, muss es an Veränderungen in Wissenschaft und Gesellschaft angepasst und entsprechend weiterentwickelt werden.

Vor diesem Hintergrund sah sich das Bundesumweltministerium veranlasst, die SSK zu bitten, sich ebenfalls an dieser Grundsatzdiskussion zu beteiligen. Im diesbezüglichen Beratungsauftrag vom 23. September 2021 wird die SSK um Prüfung gebeten, inwiefern die von der ICRP zur Überarbeitung vorgesehenen Themen und Aspekte vollständig sind. Erforderlichenfalls werden ergänzende Vorschläge erbeten, wie die bislang vorgesehenen relevanten Themen und Aspekte nachvollziehbar begründet, priorisiert und wodurch sie aus Sicht der SSK gegebenenfalls zu ergänzen wären. Die SSK wird bei der Beantwortung um einen Abgleich gebeten, inwiefern die einschlägigen nationalen und internationalen wissenschaftlichen Forschungsaktivitäten abgedeckt sind. Der Abgleich soll sowohl die seit der Veröffentlichung von ICRP-Publikation 103 (ICRP 2007b) abgeschlossenen als auch begonnenen und − wie beispielsweise im Falle von UNSCEAR − geplanten Forschungsaktivitäten berücksichtigen. Die abgeschlossenen und aktuellen Beratungen der SSK sollen ebenfalls in die Prüfung einbezogen werden.

Die vorliegende Stellungnahme stellt das Ergebnis der Bearbeitung dieses Beratungsauftrags dar.

2 ICRP-Themenfelder seit ICRP-Publikation 103

2.1 Einleitung

Im Folgenden wird zusammenfassend dargestellt, mit welchen Themenfeldern die ICRP sich seit der Publikation 103 (ICRP 2007b) beschäftigt hat und welche Veröffentlichungen zum Strahlenschutz sie bis Ende November 2022 herausgegeben hat. Hierzu wurden diese Publikationen thematisch zusammengefasst. Der Anhang enthält außerdem eine Übersicht aller Arbeitsgruppen der ICRP, deren Beratungsergebnisse mit Stand 30. November 2022 noch nicht abgeschlossen oder noch nicht publiziert waren. In Abschnitt 2.3 wird auf der Basis der Veröffentlichungen von Laurier et al. (Laurier et al. 2021) und Clement et al. (Clement et al. 2021) dargestellt, in welchen Bereichen das System des Strahlenschutzes weiter optimiert und zukunftsfähig gestaltet werden soll.

2.2 Publikationen der IRCP seit ICRP-Publikation 103

2.2.1 Grundlagen

Ein wichtiger Teil der Publikationen der ICRP befasst sich mit grundsätzlichen Fragestellungen oder Anwendungen des Strahlenschutzes. So werden in ICRP-Publikation 104 (Scope of Radiological Protection Control Measures, ICRP 2007c) für Behörden auf nationaler Ebene Empfehlungen der Kommission zur Festlegung des Umfangs von Strahlenschutzmaßnahmen unter Berücksichtigung der allgemeinen Grundsätze von Rechtfertigung und Optimierung und zu verschiedenen Expositionssituationen formuliert.

ICRP-Publikation 147 (Use of Dose Quantities in Radiological Protection, ICRP 2021c) beschäftigt sich mit der Konsolidierung und Erweiterung der Begrifflichkeiten aus ICRP-Publikation 103 (ICRP 2007b). So werden Dosisbegriffe in Bezug auf das Gesundheitsrisiko erläutert, um über die bisherigen Empfehlungen hinausgehende Schlüsse zu ziehen. Die effektive Dosis und die Kollektivdosis sind wertvolle Werkzeuge beim Schutz vor stochastischen Effekten (z. B. Krebs). Die effektive Dosis wird generell bei Dosen kleiner 100 mSv genutzt, der Einsatz kann jedoch in besonderen Fällen bis zu 1 Sv sinnvoll sein. Bei niedrigen Dosen oder Dosisleistungen kann sie als angenäherter Indikator für das Strahlenrisiko gelten, ersetzt aber keine spezifische, individuelle Risikoanalyse. Die Energiedosis dient der Festlegung von Organ- und Gewebegrenzwerten (deterministische Effekte oder auch Gewebeeffekte).

In ICRP-Publikation 138 (Ethical Foundations of the System of Radiological Protection, ICRP 2018b) sollen ein Fundament und eine gemeinsame Sprache für ethische Diskussionen im Strahlenschutz geschaffen werden. Die ethischen Grundsätze „Gutes bewirken, Schaden vermeiden“, „Umsicht, indem man sorgfältig und vorausschauend handelt, auch wenn wissenschaftliche Unsicherheiten bestehen“, „Gerechtigkeit, indem man Ungleichverteilungen von Risiken vermeidet“ und „Würde, indem jeder Person uneingeschränkter Respekt zuteil wird“ stützen die Werte des allgemeinen Systems des Strahlenschutzes „Rechtfertigung, Optimierung und Dosislimitierung“. Die „prozeduralen“ Werte „Verantwortlichkeit“, „Transparenz“ und „Inklusivität“ sind als Leitlinien für die praktische Umsetzung der Strahlenschutzgrundsätze gedacht.

ICRP-Publikation 122 (Radiological Protection in Geological Disposal of Long-lived Solid Radioactive Waste, ICRP 2013b) beinhaltet Empfehlungen zur Entsorgung von radioaktivem Abfall und aktualisiert frühere Berichte der Kommission zu diesem Thema. Die Empfehlungen beziehen sich insbesondere auf die geologische Endlagerung von langlebigen festen radioaktiven Abfällen. Es werden die verschiedenen Phasen der Lebensdauer eines geologischen Endlagers beschrieben und die Anwendung der einschlägigen Strahlenschutzgrundsätze für jede mögliche Phase behandelt, in Abhängigkeit von verschiedenen Expositionssituationen. Insbesondere wird auch auf die weit in der Zukunft liegende Phase eingegangen, in der die Erinnerung an das Endlager möglicherweise verloren gegangen sein könnte, und spätere Generationen sich unwissentlich großer Gefahr aussetzen.

2.2.2 Medizin

2.2.2.1 Allgemein

ICRP-Publikation 105 (Radiological Protection in Medicine, ICRP 2007a) beinhaltet Empfehlungen in Bezug auf medizinische Exposition sowohl von zu untersuchenden oder zu behandelnden Personen, deren Betreuungs- und Begleitpersonen als auch von Versuchspersonen in der biomedizinischen Forschung. Die Empfehlung stellt klar, dass auch in diesem Kontext die Grundprinzipien des Strahlenschutzes gültig sind: Rechtfertigung, Dosisbegrenzung, Dosisoptimierung.

Bei der medizinischen Exposition von zu untersuchenden oder zu behandelnden Personen werden keine Dosisgrenzwerte angewendet. Bei Personen mit chronischen, schweren oder lebensbedrohlichen Erkrankungen können solche Dosisgrenzen möglicherweise eher schaden als nutzen, indem sie die Aussagekraft der Untersuchung einschränken und eine dringend benötigte Information nicht zur Verfügung steht. In diesem Fall liegt der Schwerpunkt auf der Rechtfertigung der medizinischen Strahlenanwendung und der Optimierung des Strahlenschutzes. Bei diagnostischen und interventionellen Verfahren sind die Rechtfertigung des Verfahrens und die Kontrolle der Patientendosis die geeigneten Maßnahmen zur Vermeidung unnötiger Strahlenexposition. Nach Auffassung der ICRP ist in der Strahlentherapie die Vermeidung von Unfällen ein vorrangiges Thema („In radiation therapy, the avoidance of accidents (equipment and procedures) is a predominant issue.“).

ICRP-Publikation 113 (Education and Training in Radiological Protection for Diagnostic and Interventional Procedures, ICRP 2009b) beschäftigt sich mit Ausbildung und Training des medizinischen Personals, da die Zahl der diagnostischen und interventionellen medizinischen Verfahren mit ionisierender Strahlung stetig zunimmt, was zu höheren Dosen für zu untersuchende oder zu behandelnde Personen sowie das Personal führt. Aufbauend auf den Empfehlungen von ICRP-Publikationen 103 und 105 (ICRP 2007b; Radiological Protection in Medicine, ICRP 2007a) werden hier erweiterte Empfehlungen in Bezug auf verschiedene Kategorien von Ärztinnen, Ärzten und anderen Angehörigen der Gesundheitsberufe formuliert, die diagnostische und interventionelle Verfahren mit ionisierender Strahlung und nuklearmedizinische Therapien durchführen oder unterstützen. ICRP-Publikation 113 (ICRP 2009b) enthält Leitlinien für die erforderliche Strahlenschutzausbildung und -schulung.

ICRP-Publikation 139 (Occupational Radiological Protection in Interventional Procedures, ICRP 2018a) beschäftigt sich mit dem Schutz von zu untersuchenden oder zu behandelnden Personen und Personal bei Interventionen. Hierfür sind Strahlenschutzmaßnahmen und ausgebildetes Personal notwendig. Dargestellt werden Strategien zur Expo­sitionsüberwachung, zum Einsatz von Schutzkleidung, zu Ausbildung und Training sowie zur Qualitätssicherung. Es werden Hinweise zur Bestimmung der effektiven Dosis aus Dosimeterwerten, Abschätzungen zur Exposition der Augenlinsendosis, Extremitätendosen, Auswahl und Test von Schutzkleidung und Überprüfung der Prozeduren gegeben.

2.2.2.2 Diagnostische Anwendungen

Die Kommission liefert in ICRP-Publikation 106 (Radiation Dose to Patients from Radiopharmaceuticals – Addendum 3 to ICRP Publication 53, ICRP 2008b) biokinetische und dosimetrische Modelle für 33 Radiopharmazeutika, Energiedosen und effektive Dosen sowie Empfehlungen zum Stillen für Mütter, die sich einer nuklearmedizinischen Anwendung unterzogen haben. In ICRP-Publikation 128 (Radiation Dose to Patients from Radiopharmaceuticals: A Compendium of Current Information Related to Frequently Used Substances, ICRP 2015a) werden Informationen in Bezug auf Strahlenexposition bei nuklearmedizinischen Untersuchungen zusammengefasst, inklusive biokinetischer Modelle, biokinetischer Daten, Dosiskoeffizienten (Organe und Gewebe) und effektiver Dosen für diagnostisch genutzte Radiopharmazeutika.

Diagnostische Referenzwerte (DRW) wurden bereits in ICRP-Publikation 73 (Radiological Protection and Safety in Medicine, ICRP 1996a) eingeführt. Das Konzept wurde über die Jahre verbessert,

zuletzt in ICRP-Publikation 135 (Diagnostic Reference Levels in Medical Imaging, ICRP 2017a). Diese Publikation soll die Terminologie erläutern, empfiehlt DRWs für verschiedene bildgebende Verfahren und liefert Informationen für interventionelle Therapie und Kinderradiologie.

Die ICRP-Publikation 121 (ICRP 2013a) soll ärztlichem und klinischem Personal, das diagnostische und interventionelle Verfahren bei Kindern anwendet, Leitlinien für den Strahlenschutz bei spezifischen Modalitäten – Radiographie und Durchleuchtung, interventionelle Radiologie und Computertomographie – an die Hand geben. Einer der besonderen Aspekte der pädiatrischen Bildgebung ist die große Bandbreite an Patientengrößen (und -gewichten), die eine besondere Aufmerksamkeit bei der Optimierung und Modifizierung von Ausrüstung, Technik und Bildgebungsparametern erfordert. Größere pädiatrische interventionelle Eingriffe sollten von erfahrenen Operierenden durchgeführt werden, die im Strahlenschutz ausgebildet sein sollen (in einigen Ländern ist eine solche Ausbildung vorgeschrieben). Bei der Computertomographie soll die Dosisreduzierung durch Anpassung der Scan-Parameter (wie z. B. Strom, Spannung und Pitch) entsprechend dem Gewicht oder Alter der zu untersuchenden Person, der untersuchten Region und der Fragestellung optimiert werden.

In ICRP-Publikation 129 (Radiological Protection in Cone Beam Computed Tomography (CBCT), ICRP 2015b) wird der Strahlenschutz bei der Anwendung von Cone Beam Computed Tomography (CBCT) beschrieben. CBCT erweitert die Anwendungsmöglichkeiten gegenüber konventioneller CT, jedoch sollte der klinische Nutzen immer gegenüber dem Strahlenrisiko für zu untersuchende Personen und Anwendende abgewogen werden. Dies gilt nicht nur für Ganzkörper-CT, sondern auch für einzelne Gewebe, besonders für die Augenlinse, das kardiovaskuläre und das zerebrovaskuläre System.

Da immer mehr Fluoroskopie-Verfahren außerhalb von Röntgenfachabteilungen durchgeführt werden, besteht die Gefahr, dass der Strahlenschutz vernachlässigt wird. Hierzu wird in ICRP-Publikation 117 (Radiological Protection in Fluoroscopically Guided Procedures outside the Imaging Department, ICRP 2010b) hervorgehoben, dass beim Einsatz von Durchleuchtungsgeräten die Überwachung der Patientendosis unerlässlich ist. Es wird empfohlen, dass die Hersteller Systeme zur Anzeige von Patientendosisindizes und zur Erstellung von Patientendosisberichten entwickeln, die an das Krankenhausnetz übertragen werden können. Des Weiteren werden Abschirmungen empfohlen, die zum Schutz des Personals an Durchleuchtungsgeräten in Operationssälen wirksam eingesetzt werden können, ohne die Interventionen zu behindern.

2.2.2.3 Therapeutische Anwendung

ICRP-Publikation 140 (Radiological Protection in Therapy with Radiopharmaceuticals, ICRP 2019a) beschäftigt sich mit dem Strahlenschutz bei nuklearmedizinischer Therapie. Für diese sind Vorgaben notwendig, welche die Behandlung rechtfertigen und optimieren. Die Dosen sollten in der Planung individuell abgeschätzt und sowohl für Tumor- als auch Normalgewebe verifiziert werden. Ein besonderer Fokus sollte auf Schwangere und Kinder gelegt werden. Stillen sollte während der Therapie ausgesetzt werden. Da Radiopharmazeutika insbesondere in therapeutischen Dosen zu einer Exposition des Personals führen können, sind geeignete Schutzmaßnahmen zu treffen. Zu behandelnde Personen sollten hospitalisiert werden und ihrer individuellen Situation sollte Rechnung getragen werden.

Eine weitere Form der Strahlentherapie stellt die Brachytherapie dar, welche in ICRP-Publikation 149 (Occupational Radiological Protection in Brachytherapy, ICRP 2021b) behandelt wird. Bei der Brachytherapie genutzte Quellen können zur Belastung der Umwelt und der Exposition der Bevölkerung führen, wenn sie nicht geeignet entsorgt werden. Bei zu behandelnden Personen können unerwünschte Gewebeeffekte auftreten. Die klinischen Verfahren sollten optimiert und geeignete Maßnahmen während Transport, Aufbewahrung und Therapie zur Reduktion der Dosis für die Umwelt und Bevölkerung eingesetzt werden, wo immer es möglich ist. Beschäftigte sollten ausreichend ausgebildet sein und sind für die Aufklärung und Information der zu behandelnden Personen verantwortlich. Personendosimetrie des Personals, Dosismanagement und Qualitätssicherung sind für eine sichere Anwendung der Brachytherapie unabdingbar; eine Medizinphysik-Expertin oder ein Medizinphysik-Experte (MPE) sollte immer zur Verfügung stehen.

ICRP-Publikation 127 (Radiological Protection in Ion Beam Radiotherapy, ICRP 2014d) befasst sich mit dem Strahlenschutz in der Ionentherapie. Aufgrund der präzisen Dosisabgabe im Zielvolumen bei gleichzeitig maximaler Schonung des umgebenden Gewebes ist eine sorgfältige Bestrahlungsplanung notwendig. Das Patientenkollektiv muss so ausgewählt werden, dass der maximale Vorteil für die zu behandelnden Personen erreicht wird.

ICRP-Publikation 120 (Radiological Protection in Cardiology, ICRP 2013c) befasst sich mit dem Strahlenschutz bei bildgebenden Verfahren und Interventionen in der Kardiologie, da diese mit hohen Strahlenexpositionen des Personals und der zu untersuchenden oder zu behandelnden Personen verbunden sein können. Dieser Bericht enthält Empfehlungen zur Unterstützung von Kardiologinnen und Kardiologen bei der Rechtfertigung und der Optimierung des Schutzes bei kardialen CT-Untersuchungen, nuklearmedizinischen Untersuchungen und durchleuchtungsgeführten Interventionen.

Neben Empfehlungen zu spezifischen therapeutischen Anwendungen thematisiert die ICRP-Publikation 112 (Preventing Accidental Exposures from New External Beam Radiation Therapy Technologies, ICRP 2009c) auch generell die Möglichkeit für menschliche Fehler und Probleme bei der Anwendung neuer Technologien in der Strahlentherapie. Informationen zu Umständen, die in der Vergangenheit zu Zwischenfällen (incidents) sowie Beinahe-Unfällen (near-misses) geführt haben, können zur Vermeidung zukünftiger Unfälle (accidents) einen wichtigen Beitrag leisten. Die Weitergabe von Erkenntnissen aus schweren Zwischenfällen ist notwendig, aber in Zusammenhang mit neuen Technologien nicht ausreichend, vielmehr ist proaktives Handeln vordringlich.

2.2.3 Dosisberechnung

2.2.3.1 Allgemein

ICRP-Publikation 107 (Nuclear Decay Data for Dosimetric Calculations, ICRP 2008a) ist eine elektronische Datenbank mit kernphysikalischen Daten zur Berechnung der radionuklidspezifischen Strahlenschutzgrößen. Die Datenbank ersetzt damit die Daten der ICRP-Publikation 38 (Radionuclide Transformations – Energy and Intensity of Emissions, ICRP 1983). Sie liegt künftigen ICRP-Veröffentlichungen von Dosiskoeffizienten für die Aufnahme von oder Exposition durch Radionuklide am Arbeitsplatz sowie in der Umwelt zugrunde und enthält Informationen über Halbwertszeiten, Zerfallsketten und Energien der emittierten Strahlungen bei Kernumwandlungen von 1 252 Radionukliden aus 97 Elementen.

ICRP-Publikation 116 (Conversion Coefficients for Radiological Protection Quantities for External Radiation Expo­sures, ICRP 2010c) enthält Konversionskoeffizienten für die effektive Dosis und die Organ-Energiedosis für ver­schiedene Arten externer Exposition. Diese Koeffizienten wurden mit den offiziellen ICRP/​ICRU-Rechenphantomen berechnet, die den erwachsenen Mann und die erwachsene Frau repräsentieren. Der Strahlungstransport im menschlichen Körper wurde unter Verwendung idealisierter Ganzkörper-Bestrahlungsgeometrien mit Monte-Carlo-Codes simuliert. Anhand der Simulationen wurde die Energiedosis für jedes Organ in den Referenzphantomen bestimmt. Die Kon­versionskoeffizienten für die effektive Dosis wurden aus den erhaltenen Werten für die Organ-Energiedosis, dem Strahlungs-Wichtungsfaktor wR und dem Gewebe-Wichtungsfaktor wT nach dem in der ICRP-Publikation 103 (ICRP 2007b) beschriebenen Verfahren abgeleitet.

ICRP-Publikation 119 (Compendium of Dose Coefficients based on ICRP Publication 60 ICRP 2012b) ist eine Zusammenstellung von Dosiskoeffizienten für die Aufnahme von Radionukliden durch beruflich strahlenexponierte Personen und die Bevölkerung. Zusätzlich enthält sie Konversionskoeffizienten zur Verwendung von ICRP-Publikationen 68 (Dose Coefficients for Intakes of Radionuclides by Workers, ICRP 1994), 72 (Age-dependent Doses to the Members of the Public from Intake of Radionuclides – Part 5 Compilation of Ingestion and Inhalation Coefficients, ICRP 1995) und 74 (Conversion Coefficients for use in Radiological Protection against External Radiation, ICRP 1996b) im beruflichen Strahlenschutz bei Exposition durch externe Strahlenquellen. Es dient als umfassendes Nachschlagewerk für Dosiskoeffizienten, die auf den früheren Strahlenschutzempfehlungen der ICRP-Publikation 60 (ICRP 1991a) basieren.

ICRP-Publikation 133 (The ICRP Computational Framework for Internal Dose Assessment for Reference Adults: Specific Absorbed Fractions, ICRP 2016a) befasst sich mit der „specific absorbed fraction“ (SAF). Die SAF ist ein Baustein, welcher bei der Berechnung von Dosiskoeffizienten für interne Exposition durch Radionuklide Verwendung findet (neben biokinetischen Modellen und Zerfallsschemata). Sie sind definiert als Anteil der aus einer Quellregion emittierten Teilchenenergie, die in einem Zielgebiet pro Masse des Zielgewebes deponiert wird und wird in der Einheit kg-1 angegeben.

2.2.3.2 Computermodelle

ICRP-Publikation 110 (Adult Reference Computational Phantoms, ICRP 2009f) enthält Angaben zur Entwicklung und Verwendung von berechneten Phantomen eines Referenzmannes und einer Referenzfrau. Die Phantome basieren auf medizinischen Bilddaten realer Personen, stimmen aber gleichwohl mit den in ICRP-Publikation 89 (Basic Anatomical and Physiological Data for Use in Radiological Protection Reference Values, ICRP 2002) angegebenen Daten zu anatomischen und physiologischen Referenzparametern bei Männern und Frauen überein.

In ICRP-Publikation 145 (Adult Mesh-type Reference Computational Phantoms, ICRP 2020b) werden „mesh-type reference computational phantoms“ (MRCPs) für einen männlichen und weiblichen Referenz-Erwachsenen beschrieben, im Gegensatz zu den voxelbasierten Modellen in ICRP-Publikation 110 (ICRP 2009f). Um die MRCPs zu erzeugen, wurden die Phantome aus ICRP-Publikation 110 in ein Gitterformat umgewandelt und die Gewebeschichten eingefügt, welche ein besonders hohes Risiko für strahleninduzierten Krebs haben. Diese enthalten alle Quellen und Zielorgane oder -gewebe, die für eine Berechnung der effektiven Dosis notwendig sind. Die Masse der Organe beziehungsweise Gewebe entspricht hierbei denen aus ICRP-Publikation 89 (ICRP 2002). Zu ICRP-Publikation 110 ergeben sich leichte Unterschiede, da hier der Blutgehalt der einzelnen Organe oder Gewebe mitberücksichtigt wird. Berechnungen mit diesem Modell zur effektiven Dosis stimmen mit vorherigen Publikationen gut überein, lediglich bei kleinen Gewebestrukturen oder Strahlung mit geringer Reichweite ergeben sich kleine Abweichungen. Vorherige Publikationen können ihre Gültigkeit behalten.

ICRP-Publikation 143 (Paediatric Computational Reference Phantoms, ICRP 2020d) beschreibt die Entwicklung und Anwendung von zehn rechnergestützten Phantomen für männliche und weibliche Neugeborene sowie Kinder im Alter von ein, fünf, zehn und 15 Jahren. Diese Phantome benutzen dieselbe Struktur wie in ICRP-Publikation 110 für Erwachsene beschrieben.

2.2.3.3 Berufliche Exposition

Mit der beruflichen Aufnahme von Radionukliden beschäftigt sich eine Reihe von Publikationen, welche die ICRP-Publikationen 30 (Limits for Intakes of Radionuclides by Workers, ICRP 1979) und 68 (Dose Coefficients for Intakes of Radionuclides by Workers, ICRP 1994) ersetzen sollen. Sie stellen überarbeitete Dosiskoeffizienten für beruflich bedingte Aufnahme von Radionukliden über Inhalation oder Ingestion zur Verfügung. Zusätzlich werden Methoden der individuellen Überwachung sowie von Arbeitsplätzen und generelle Aspekte der retrospektiven Dosisabschätzung genannt. Teil 1 (ICRP-Publikation 130, Occupational Intakes of Radionuclides: Part 1, ICRP 2015d) liefert eine Beschreibung der Biokinetik, der dosimetrischen Methoden und der Nutzung von Tierversuchsdaten. Hauptänderungen sind eine Revision des Human Respiratory Tract Model sowie biokinetischer Modelle, in denen neuere und physiologisch korrektere Annahmen hinzugefügt wurden.

Teil 2 (ICRP-Publikation 134, Occupational Intakes of Radionuclides: Part 2, ICRP 2016b), Teil 3 (ICRP-Publikation 137, Occupational Intakes of Radionuclides: Part 3, ICRP 2017c), Teil 4 (ICRP-Publikation 141, Occupational Intakes of Radionuclides: Part 4, ICRP 2019b) und Teil 5 (ICRP-Publikation 151, Occupational Intakes of Radionuclides: Part 5, ICRP 2022) der Serie stellen Daten für einzelne Elemente und Radioisotope dar, inklusive der chemischen Form, den physikalischen Parametern, den Referenzwerten für biokinetische Modelle und Messtechniken. Daten für Inhalation, Ingestion und direkte Aufnahme ins Blut werden für verschiedene Elemente zur Verfügung gestellt.1

ICRP-Publikation 150 (Cancer Risk from Exposure to Plutonium and Uranium, ICRP 2021a) beschäftigt sich mit dem Krebsrisiko nach Exposition durch Plutonium und Uran und ergänzt ICRP-Publikation 115 (Lung Cancer Risk from Radon and Progeny and Statement on Radon, ICRP 2010a). Epidemiologische Studien an im Uranbergbau Beschäftigten sind wegen der Limitierungen in der Dosisrekonstruktion für eine verlässliche Risikoabschätzung nur eingeschränkt nutzbar. Allerdings zeigt die Kohorte der in Mayak Beschäftigten ein erhöhtes Risiko für Lungenkrebs sowie Leber- und Knochenkrebs, jedoch nicht für Leukämie. In der Sellafield-Kohorte konnte nur ein erhöhtes Lungen­krebsrisiko beobachtet werden. Das „lifetime excess risk“ für tödlichen Lungenkrebs ist ähnlich dem von Radon und Tochternukliden. Im Vergleich mit externer Gammastrahlung wird für das Lungenkrebsrisiko durch Plutonium und Radontöchter eine erhöhte biologische Effektivität der Alpha-Teilchen gefunden, die mit dem Strahlungs-Wichtungsfaktor von 20 übereinstimmt.

2.2.3.4 Natürliche Exposition

ICRP-Publikation 144 (Dose Coefficients for External Exposures to Environmental Sources, ICRP 2020c) stellt für Kontamination des Bodens, der Luft und des Wassers Koeffizienten für Referenzorgane zur Verfügung, ebenso effektive Dosisraten für externe Exposition der allgemeinen Bevölkerung. Für Neugeborene, Kinder und Jugendliche sowie Erwachsene werden Koeffizienten für die Nuklide aus ICRP-Publikation 107 (Nuclear Decay Data for Dosimetric Calculations, ICRP 2008a) dargestellt. Dabei zeigt sich, dass die geringere Körpermasse junger Kinder zu höheren Dosisraten-Koeffizienten führt, da aufgrund der geringeren Masse die Organe von weniger schützendem Gewebe umgeben und somit der externen Quelle näher sind. Generell aber sind die altersbedingten Unterschiede für die wichtigsten Radionuklide gering.

ICRP-Publikation 142 (Radiological Protection from Naturally Occurring Radioactive Material (NORM) in Industrial Processes, ICRP 2019c) befasst sich mit Expositionen durch NORM. NORM-Nuklide sind kontrollierbar, der Schutz wird durch Rechtfertigung zum Ergreifen von Schutzmaßnahmen und deren Optimierung erreicht. Dies zielt vor allem auf Langzeitexpositionen ab. Referenzwerte (ohne Radon/​Thoron) sollten die Verteilung der Exposition berücksichtigen und liegen in der Mehrheit bei weniger als einigen mSv effektiver Jahresdosis.

2.2.4 Radon

In ICRP-Publikation 115 (Lung Cancer Risk from Radon and Progeny and Statement on Radon, ICRP 2010a) werden neuere epidemiologische Studien zum Zusammenhang von Lungenkrebs und Radon sowie seinen Zerfallsprodukten erfasst. Epidemiologische Studien zur Exposition im Haushalt und von im Bergbau Beschäftigten liefern konsistente Schätzungen des Lungenkrebsrisikos mit statistisch signifikanten Assoziationen. Nach Auffassung der ICRP (ICRP-Publikation 115) wurden diese Assoziationen ab durchschnittlichen jährlichen Aktivitätskonzentrationen von etwa 200 Bq m-3 beziehungsweise ab kumulativen berufsbedingten Werten von etwa 50 Working Level Months (WLM) beobachtet. Auf der Grundlage der jüngsten Ergebnisse kombinierter Analysen epidemiologischer Studien an im Bergbau Beschäftigten sollte nun ein absolutes Lebenszeitrisiko von 5∙10-4 pro WLM (14∙10-5 pro mJ h m-3) als nominaler Wahrscheinlichkeitskoeffizient für durch Radon und Radonfolgeprodukte induzierten Lungenkrebs verwendet werden. Es wird der Schluss gezogen, dass Radon und seine Folgeprodukte im Rahmen des ICRP-Schutzsystems genauso behandelt werden sollten wie andere Radionuklide, das heißt, dass die Dosen von Radon und Radonfolgeprodukten unter Verwendung der biokinetischen und dosimetrischen Modelle der ICRP berechnet werden sollten. Die ICRP stellt Dosiskoeffizienten pro Expositionseinheit für Radon und Radonfolgeprodukte für verschiedene Referenzbedingungen der häuslichen und beruflichen Exposition mit bestimmten Gleichgewichtsfaktoren und Aerosol­eigenschaften bereit.

ICRP-Publikation 126 (Radiological Protection against Radon Exposure, ICRP 2014a) befasst sich mit dem Strahlenschutz bei Radonexposition. Die Radonkonzentration in Gebäuden ist großen regionalen Schwankungen unterworfen, während Radonexposition im Freien keine Rolle spielt. Radonexposition ist nach Rauchen die zweithäufigste Ursache für Lungenkrebs. Sie stellt eine existierende Expositionssituation dar, zu welcher nationale Behörden eine Schutzstrategie entwerfen sollten, welche die Verpflichtung zur Reduktion der Exposition enthält. Hierfür wird ein Referenzwert von 300 Bq m-3 vorgeschlagen, dieser gilt sowohl für Arbeitsplätze als auch für Aufenthaltsräume.

Die Radonproblematik wird auch in Abschnitt 3.1.2 behandelt.

2.2.5 Notfallschutz

ICRP-Publikation 146 (Radiological Protection of People and the Environment in the Event of a Large Nuclear Accident, ICRP 2020a) beschäftigt sich mit dem Strahlenschutz für die Bevölkerung und die Umwelt im Falle eines schweren nuklearen Unfalls und stellt ein Update der ICRP-Publikationen 109 (Application of the Commission’s Recommen­dations for the Protection of People in Emergency Exposure Situations, ICRP 2009d) und 111 (Application of the Commission’s Recommendations to the Protection of People Living in Long-term Contaminated Areas after a Nuclear Accident or a Radiation Emergency, ICRP 2009e) dar. Ein großer nuklearer Unfall wird alle Aspekte des täglichen Lebens beeinflussen. Die möglichst schnelle Erfassung der radiologischen Situation vor Ort und in der Umgebung ist essenziell, um Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Die eingeführten Referenzwerte sollen insbesondere ermöglichen, auch während der frühen und mittleren Phase eines Unfalls geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Ziel ist es hierbei, die Konsequenzen für Bevölkerung und Umwelt zu mildern und zugleich für das Hilfspersonal sichere Arbeitsbedingungen zu schaffen. Diesem soll geeignete persönliche Schutzausrüstung zur Verfügung gestellt werden. Vorbereitende Planung ist hierbei von großer Bedeutung.

2.2.6 Flora und Fauna

ICRP-Publikation 108 (Environmental Protection – the Concept and Use of Reference Animals and Plants, ICRP 2008b) fasst den Wissensstand über strahlenbedingte Effekte auf verschiedene Lebensformen zusammen und leitet daraus Referenzlevel ab, um den nötigen Aufwand für den Schutz der Umwelt und ihrer Organismen optimieren zu können.

In ICRP-Publikation 103 (ICRP 2007b) hatte die Kommission erstmals das Thema Schutz der Umwelt aufgenommen. Bei ICRP-Publikation 114 (Environmental Protection: Transfer Parameters for Reference Animals and Plants, ICRP 2009a) handelt es sich um eine Weiterentwicklung zu diesem komplexen Thema. Die Kommission legt eine Reihe von Referenztieren und -pflanzen (reference animals and plants, RAP) für den Zusammenhang zwischen Exposition und Dosis sowie Dosis und Strahlenwirkung für verschiedene Tier- und Pflanzenarten fest.

In ICRP-Publikation 124 (Protection of the Environment under Different Exposure Situations, ICRP 2014b) beschreibt die Kommission ihr Konzept für den Strahlenschutz im Kontext des Umweltschutzes. Der Bericht erläutert Ziele in Bezug auf den Schutz der Umwelt, für Tiere und Pflanzen in ihrer natürlichen Umgebung. Durch die Verwendung von RAPs werden Referenzwerte (Derived Consideration Reference Levels – DCRL) abgeleitet, die für verschiedene potenzielle Expositionspfade Strahlungseffekte und die notwendigen Dosen in Beziehung setzen.

In ICRP-Publikation 136 (Dose Coefficients for Non-human Biota Environmentally Exposed to Radiation, ICRP 2017b) wird der überarbeitete und erweiterte dosimetrische Ansatz der ICRP für nicht humane Lebensformen dargestellt. Die aktuellen Dosiskoeffizienten (DC) sind für Körpergewichte von 1 mg bis 1 000 kg gültig, für Höhen über Grund von 0,1 m bis 500 m und für verschiedene Quellen im Boden und Luft. Mittels eines Softwarepakets (BiotaDC) können die DCs für nutzerdefinierte Anwendungen bestimmt werden.

In ICRP-Publikation 148 (Radiation Weighting for Reference Animals and Plants, ICRP 2021d) werden Daten für die relative biologische Wirksamkeit (RBW) für niederenergetische Betastrahlung (von Tritium) und von Alphastrahlung zusammengefasst. Hierbei zeigten sich keine Muster zwischen verschiedenen Spezies. Für Tritium liegt die RBE bei 1,5 bis 2 (im Vergleich zu Röntgenstrahlung) beziehungsweise 2 bis 2,5 (im Vergleich zu Gammastrahlung), für Alphateilchen um 10. Deshalb wurden für alle Tiere und Pflanzen Wichtungsfaktoren von 1 (niedrig LET) und 10 (Alphastrahlung) angenommen.

2.2.7 Strahlenbiologie

ICRP-Publikation 118 (ICRP Statement on Tissue Reactions/​Early and Late Effects of Radiation in Normal Tissues and Organs – Threshold Doses for Tissue Reactions in a Radiation Protection Context, ICRP 2012a) gibt bezüglich des Strahlenschutzes einen Überblick über die Früh- und Spätfolgen von Strahlung in normalen Geweben und Organen und enthält aktualisierte Schätzungen der „praktischen“ Schwellendosen für Gewebsschäden, die auf dem Niveau einer einprozentigen Erhöhung der Inzidenz definiert sind. Sie gibt für alle Organsysteme Schätzungen für Morbiditäts- und Mortalitätsendpunkte nach akuter, fraktionierter oder chronischer Exposition an. Betrachtet werden das blutbildende und das endokrine System, das Immun-, Fortpflanzungs-, Kreislauf-, Atmungs-, Muskel-Skelett- und Nervensystem, der Verdauungs- und Harntrakt, die Haut und das Auge.

Gewebe-Stammzellen werden als Ziel für die Krebsinduktion gesehen, weshalb sich ICRP-Publikation 131 (Stem Cell Biology with Respect to Carcinogenesis Aspects of Radiological Protection, ICRP 2015c) mit diesem Thema befasst. Neben den Gewebe-Stammzellen gibt es auch Vorläuferzellen im blutbildenden System, der Darmschleimhaut und der Epidermis. Die Annahme, dass eine einzelne Stammzelle der Ursprung einer strahleninduzierten Krebserkrankung sein kann, ist in Übereinstimmung mit den Annahmen eines LNT-Modells (siehe Abschnitt 4.1.1). Allerdings kommt es bei niedrigen Dosen zu nicht linearen Zusammenhängen, was eine Extrapolation und die Überführung in das Gerüst des Strahlenschutzes erschwert. Die strahlenbedingte Krebsentstehung ist altersabhängig mit einem niedrigen bis moderaten Risiko für Embryo und Fötus, einem hohen Risiko für Kinder und niedrigem Risiko für Erwachsene verbunden.

2.2.8 Sonstige Themenfelder

ICRP-Publikation 123 (Assessment of Radiation Exposure of Astronauts in Space, ICRP 2013d) befasst sich mit der Strahlenexposition von Weltraumfahrenden. Während ihrer beruflichen Tätigkeit im Weltraum sind Raumfahrende ionisierender Strahlung aus natürlichen Strahlenquellen ausgesetzt, die in dieser Umgebung vorhanden sind. Sie werden jedoch in der Regel nicht als beruflich strahlenexponiert im Sinne des auf der Erde angewandten allge­meinen ICRP-Systems für den Strahlenschutz von Arbeitnehmenden eingestuft. Die in diesem Bericht beschriebene Expositionsbewertung und der risikobezogene Ansatz sind auf die besondere Situation im Weltraum beschränkt und sollten nicht auf andere Expositionssituationen auf der Erde übertragen werden.

ICRP-Publikation 132 (Radiological Protection from Cosmic Radiation in Aviation, ICRP 2016c) widmet sich dem Strahlenschutz vor kosmischer Strahlung in der Luftfahrt. Die Exposition durch kosmische Strahlung wird als existierende Expositionssituation eingestuft, deren Dosisleistung mit Flughöhe und Breitengrad steigt. Es gibt zudem Abhängigkeiten vom elfjährigen Sonnenzyklus. Flugzeugführende und Flugpersonal sollen als beruflich strahlenexponiertes Personal eingestuft werden, Fluggäste als normale Bevölkerung. Die Exposition sollte so niedrig wie sinnvoller Weise möglich gehalten werden (ALARA).

In ICRP-Publikation 125 (Radiological Protection in Security Screening, ICRP 2014c) geht es um den Strahlenschutz bei Sicherheitsüberprüfungen von Personen. Bei der Nutzung ionisierender Strahlung zur individuellen Sicherheitsüberprüfung einzelner Personen sind sorgfältige Rechtfertigung und angemessene Optimierung notwendig. Optimierungsmaßnahmen haben insbesondere eine Dosisreduktion und den Schutz der Umgebung zum Ziel. Die Nutzung ionisierender Strahlung für diese Zwecke ist nicht generell gerechtfertigt und wird als geplante Exposition der Bevölkerung bewertet. In Anbetracht der schnellen technologischen Entwicklungen und der potenziellen Gefährdungen sollte die Rechtfertigung regelmäßig überprüft werden.

2.3 Von der ICRP zur weiteren Bearbeitung identifizierte Themenfelder

Basierend auf den Publikationen von Laurier et al. (Laurier et al. 2021) und Clement et al. (Clement et al. 2021) werden von Mitgliedern der ICRP zukünftig zu behandelnde Themenfelder identifiziert und dargestellt. Sie stellen zwar keine offizielle ICRP-Position dar, basieren allerdings auf den Erfahrungen der Mitglieder und auf Diskussionen mit Fachkundigen weltweit.

Das Strahlenschutzsystem muss an Veränderungen in der Wissenschaft und Gesellschaft angepasst werden, um weiterhin funktionsfähig zu sein. Hierzu wird empfohlen, die notwendige, zielgerichtete Forschung im Strahlenschutz zu identifizieren und zu fördern. Dabei wurden drei wesentliche Hauptgebiete genannt: Risikobewertung, Dosimetrie und Anwendung.

In der Risikobewertung soll die Unterteilung in Gewebeeffekte und stochastische Effekte überdacht werden. Dies betrifft vor allem das Detriment, welches an die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse angepasst und verbessert werden sollte. Ein besseres Verständnis von Gewebeeffekten und der individuellen Strahlenreaktion beim Menschen wird für ebenso notwendig gehalten wie das von Strahleneffekten auf Tiere und Pflanzen. Speziell im Umweltschutz sollten Empfehlungen ausgesprochen werden, die auch nachhaltige Entwicklungen, Lebensqualität und den Einfluss von Schutzmaßnahmen betrachten. Als eher langfristiger Fokus wird die Untersuchung der Mechanismen niedriger Strahlendosen auf molekularer, zellulärer und Gewebe-Ebene empfohlen.

Für die Dosimetrie sollten mehr Daten für verschiedene Einflussfaktoren auf die relative biologische Wirksamkeit (RBW) erhoben werden. So könnten dosimetrische Phantome auf Größe und Abmessungen von zu untersuchenden und zu behandelnden Personen angepasst werden, um eine individuelle Dosis zu bestimmen. ALARA sollte als Optimierungs- und Schutzziel nicht immer auf die kleinstmögliche Exposition zielen, sondern eine Balance finden zwischen Faktoren wie Dosis, Risiko und Gesellschaft, Umwelt, Wirtschaft und generellem Wohlbefinden. Zukünftig solle der Umweltschutz stärker in den Fokus rücken. Ebenso sollten biokinetische Modelle für Radionuklide in menschlichem Gewebe (weiter-)entwickelt werden, insbesondere bezüglich des Übergangs von Mutter auf Fötus beziehungsweise auf das Neugeborene über die Muttermilch.

Für die Anwendung und die Umsetzung des Strahlenschutzes wird ein Dosisregister für notwendig gehalten, welches beispielsweise Epidemiologen und Epidemiologinnen zur Verfügung gestellt werden kann. Dies soll eine bessere Abwägung zwischen schädlichen Effekten ionisierender Strahlung und dem Nutzen der jeweiligen Anwendung ermöglichen. Weiterhin soll der Schutz von Tieren bei Strahlenanwendungen in der Veterinärmedizin aufgegriffen werden. Hierzu könnten vereinfachte dosimetrische Modelle erarbeitet werden. Auch die Nutzung von NORM, Untersuchungen zu natürlichen Strahlenquellen, Sanierung von Altbauten und Weltraumtourismus sind Anwendungsfelder, die in Zukunft näher bearbeitet werden sollten. Die bisher definierten Expositionssituationen (geplant, bestehend, Notfall) müssen klarer abgegrenzt und ihre Anwendung überdacht werden.

Der Strahlenschutz steht in Zukunft großen Herausforderungen gegenüber. Die Anwendung von künstlicher Intelligenz, beispielsweise bei der Auswahl von zu behandelnden Personen oder in der Bestrahlungsplanung, wirft neue Fragen auf, auch ethische. Auch die Kommunikation mit Laienpublikum oder angemessene Bürgerbeteiligung stellen neue Aufgaben dar. Psychologische Konsequenzen von Notfällen und der Umgang damit müssen beachtet werden, da das Verhalten von Menschen in solchen unerwarteten Situationen deutlich von normalem Verhalten abweichen kann.

3 Einschlägige SSK-Empfehlungen seit ICRP-Publikation 103

Seit Erscheinen der ICRP-Publikation 103 (ICRP 2007b) hat die SSK über 150 Empfehlungen und Stellungnahmen sowie zahlreiche Veröffentlichungen zu den verschiedensten Themen des Strahlenschutzes erarbeitet. Das Spektrum der dabei behandelten Thematik ist außerordentlich breit und reicht von spezifischen Fragen zu Einzelaspekten im Strahlenschutz (Abschnitt 4.2) oder deren praktische Umsetzung (Abschnitt 3.2) bis hin zu Fragen genereller Natur, die auch fundamentale Bestandteile des Strahlenschutzsystems oder dessen grundsätzliche Konzeption betreffen (Abschnitt 3.1 und 4.1). Einige dieser Empfehlungen und Stellungnahmen stützen und stärken Teile des ICRP-Systems und begründen damit eine Beibehaltung oder Festigung der entsprechenden Empfehlungen, andere sehen begründeten Anlass zu bestimmten Ergänzungen, Erweiterungen oder Modifikationen des bestehenden Systems. Die diesbezüglichen Beratungsergebnisse der SSK mit ihren Aussagen werden in den folgenden Abschnitten im Einzelnen dargestellt.

3.1 Fragen zur Konzeption des Strahlenschutzes

3.1.1 Dosis- und Dosisleistungs-Effektivitätsfaktor (DDREF)

Für die Bewertung von Strahlenrisiken und damit als Grundlage des gesamten Strahlenschutzes ist die Kenntnis der Dosis-Wirkungszusammenhänge unerlässlich. Für Zwecke des praktischen Strahlenschutzes geht man generell davon aus, dass stochastische Strahlenwirkungen auch bis in den Bereich kleiner Dosen prinzipiell einem proportionalen Dosiszusammenhang folgen. Diese Annahme bildet als sogenannte LNT-Hypothese (Linear No Threshold) eines der grundlegenden Konzepte mit äußerst weitreichenden Konsequenzen für den gesamten Strahlenschutz (vergleiche Abschnitt 4.1.1). Darüber hinaus wird davon ausgegangen, dass bei niedrigen Dosen das Risiko weitgehend unabhängig von der zeitlichen Abfolge der Strahlenexposition, d. h. unabhängig von der Dosisleistung, ist.

Allerdings sah man auf der Grundlage strahlenbiologischer und strahlenepidemiologischer Studien Hinweise darauf, dass es im Bereich niedriger Dosen Abweichungen von der „reinen“ Linearität („Dosis-Effekt“) und darüber hinaus auch Abhängigkeiten von der Dosisleistung („Dosisleistungs-Effekt“) geben könnte. Dies würde bedeuten, dass bei niedrigen Dosen und kleinen Dosisleistungen das tatsächliche Risiko um einen gewissen Faktor überschätzt wird, wenn man die Risikowerte von hohen Dosen und großen Dosisleistungen zu niedrigen Dosen und kleinen Dosisleistungen linear extrapoliert. Aus diesem Grund hatte die ICRP bereits in ihren früheren Empfehlungen ein Konzept entwickelt, das alle diese Einflüsse in einem gemeinsamen „Faktor“, dem DDREF, zusammenfasst. Die durch lineare Extrapolation ermittelten Risikokoeffizienten werden für den Bereich niedriger Dosen und kleiner Dosisleistungen durch den DDREF dividiert. In den Empfehlungen der ICRP-Publikation 103 (ICRP 2007b) bestätigte die ICRP den schon früher eingeführten Wert mit DDREF = 2 für die Induktion solider Tumoren durch Expositionen mit Photonen (locker ionisierende Strahlung).

Der DDREF ist eine konzeptionell subtile Größe. Vom Ansatz her liefert das Verfahren zur Ermittlung des DDREF keinen einzelnen „Faktor“ im Sinne eines konstanten Parameters bei der Abschätzung von Risikokoeffizienten. Vielmehr ist der Wert des DDREF unter anderem abhängig von der jeweiligen Dosis und Dosisleistung, von welcher aus in den Bereich niedriger Dosen beziehungsweise kleiner Dosisleistungen extrapoliert wird. Darüber hinaus könnten noch weitere Einflüsse bestehen, wie beispielsweise Abhängigkeiten von der Energie der Strahlung (Trabalka und Kocher 2007). Die Art und Größe all dieser Abhängigkeiten sind im Einzelnen jedoch nur unzureichend bekannt. Daher kommt dem DDREF – welcher Wert ihm auch zugeordnet sein mag – im Strahlenschutz eher eine allgemeine, nicht auf das Detail gerichtete Bedeutung zu. Unter Berücksichtigung all jener Abhängigkeiten werden die Effekte nur in einem gemeinsamen konstanten „Faktor“, dem DDREF, zusammengefasst.

Die wissenschaftliche Basis zur Rechtfertigung eines DDREF wurde seitdem jedoch zunehmend kontrovers diskutiert. So hatte die SSK bereits 2006 (SSK 2006a) empfohlen, den DDREF = 1 zu setzen. BEIR VII (BEIR 2006) hatte empfohlen, den DDREF = 1,5 zu setzen. UNSCEAR (UNSCEAR 2010) und die WHO (WHO 2013) haben in der Folge den DDREF nicht mehr angewendet. In ihrer späteren einschlägigen Empfehlung zum DDREF hat die SSK ihre frühere Position präzisiert und auf der Grundlage aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse näher begründet (SSK 2014b).

Nach Auffassung der SSK liefern die strahlenbiologischen und strahlenepidemiologischen Studien zur Wirkung von Expositionen mit kleiner Dosisleistung in ihrer Gesamtheit keine eindeutigen Hinweise auf eine Abhängigkeit des Tumorrisikos von der Dosisleistung, das heißt auf einen Dosisleistungs-Effekt (SSK 2014b). Auch in Bezug auf einen Dosis-Effekt lässt sich in den ausgewerteten Studien, insbesondere auch bei der LSS-Kohorte der Atombombenüberlebenden (z. B. Ozasa et al. 2012), nicht eindeutig zwischen verschiedenen Formen der Dosis-Wirkungsbeziehung (z. B. linear oder linear-quadratisch) unterscheiden, so dass sich auch daraus gegenwärtig kein Wert für den Dosis-Effekt zwingend ableiten lässt. Dosis- und Dosisleistungs-Effekte scheinen jedoch weitgehend voneinander unabhängig zu sein. Insgesamt sieht die SSK auf der Grundlage aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse keine ausreichende Begründung mehr für den im Strahlenschutz verwendeten DDREF (SSK 2014b). Allerdings reichen aus ihrer Sicht die vorliegenden Erkenntnisse auch nicht aus, um einen aktuellen Handlungsbedarf in Richtung Abschaffung des DDREF ausreichend zu begründen.

Die für den Strahlenschutz wichtigsten Größen sind der mit einer Strahlenexposition verbundene Schaden (Krebsentstehung und genetische Veränderungen) und dessen Eintrittswahrscheinlichkeit. Als Maß hierfür gilt das so genannte „Detriment“ (gesundheitlicher Schaden), eine gewichtete Schadenswahrscheinlichkeit, in die unter anderem die Risikokoeffizienten unter Einbeziehung eines DDREF eingehen (vergleiche Abschnitt 4.1.2). Das Detriment beinhaltet aber auch eine Reihe weiterer Parameter, wie z. B. die Überlebenswahrscheinlichkeit, die Lebensqualität und den Verlust an Lebenserwartung. Die diesen Parametern zugrunde liegenden Werte haben sich im Laufe der Zeit geändert (Breckow et al. 2018). Verbesserte Lebensbedingungen und Fortschritte in der Medizin könnten beispielsweise dazu führen, dass sich die Überlebenswahrscheinlichkeit bei einer Krebserkrankung erhöht, die Lebensqualität verbessert und der Verlust an Lebenserwartung verkleinert. Alle diese Parameter müssen bei der weiteren Bewertung der gesundheitlichen Auswirkungen einer bestimmten Strahlenexposition berücksichtigt werden. Eine isolierte Betrachtung des Risikokoeffizienten beziehungsweise des DDREF wird nach Auffassung der SSK (SSK 2014b) der Gesamtsituation nicht gerecht.

Fazit: Die SSK hat in (SSK 2014b) empfohlen, „den DDREF an die neueren Erkenntnisse anzupassen und gegebenenfalls abzuschaffen“. Aufgrund seiner Bedeutung für die Risikobewertung und die Konsequenzen für den Strahlenschutz hat sie ferner empfohlen, im Zuge einer eventuellen generellen Anpassung auch alle anderen Parameter, die in das Detriment, das heißt in die Angabe des Strahlenschadens eingehen, an den aktuellen wissenschaftlichen Stand anzupassen.

3.1.2 Radon-Dosiskoeffizienten

Quantitative Größen und Maßnahmen zum Radonschutz beziehen sich in der Regel auf Expositionsgrößen, das heißt auf eine Angabe zur Aktivitätskonzentration oder zur kumulierten Aktivitätskonzentration (Aktivitätskonzentration mal Zeit) in der Umgebungsluft. Beispielsweise ist der Referenzwert für Radon-222 in Aufenthaltsräumen und am Arbeitsplatz auf eine Aktivitätskonzentration von 300 Bq m-3 festgelegt (Euratom 2014). Zur Ermittlung des aus der Inhalation von Radon und seinen Zerfallsprodukten resultierenden Lungenkrebsrisikos wird in einschlägigen Studien (z. B. Darby et al. 2005) unmittelbar die Aktivitätskonzentration herangezogen. Es bietet sich daher an, den Schutz vor Radon auf diese gut messbare Größe zu stützen. Die Angaben beziehen sich somit nicht auf eine Dosisgröße (z. B. auf die effektive Dosis) wie in anderen Bereichen des Strahlenschutzes. Entsprechende Strahlenschutzmaßnahmen auf der Grundlage von Aktivitätskonzentrationen erfordern demnach zunächst keine expliziten Dosiswerte.

Risikobetrachtungen und Strahlenschutzregelungen zu Radon-Expositionen, die keinen Bezug zu Dosisgrößen haben, lassen sich jedoch nur schwer mit jenen aus anderen Bereichen des Strahlenschutzes in Bezug setzen. Für eine Reihe von Situationen und Fragestellungen ist es vielmehr notwendig, auf Dosisgrößen Bezug nehmen zu können. Insbesondere für die Regelungen zum beruflichen Strahlenschutz bei Radon-Exposition ist eine Bezugnahme auf die effektive Dosis erforderlich und sowohl im Konzept der ICRP (ICRP 2007b) als auch in den nationalen gesetzlichen Regelungen vorgesehen. In diesen Fällen werden die Expositionen, die an Arbeitsplätzen durch Radon auftreten, wie solche in geplanten Expositionssituationen behandelt.

Die Umrechnung einer Expositionsgröße in eine Dosisgröße geschieht im Allgemeinen mit Hilfe so genannter Dosiskoeffizienten. Im Falle einer Radon-Exposition kann die Expositionsgröße in Einheiten von Working Level Months (WLM), als kumulierte Alpha-Energiekonzentration in mJ h m-3 oder als kumulierte Rn-222-Aktivitätskonzentration in MBq h m-3 angegeben sein. Als Bezugsdosisgröße dient die Organ-Äquivalentdosis der Lunge oder die effektive Dosis in der Einheit mSv. Der Umrechnung von Exposition zu Dosis, die als Dosiskonversion bezeichnet wird, liegen eine Reihe von Annahmen und Modellen zugrunde. Ebenso geht eine Vielzahl von Parametern und Faktoren, wie z. B. Strahlungs- und Gewebe-Wichtungsfaktoren, in die Berechnung ein.

Anfänglich hatte die ICRP für eine solche Dosiskonversion das aus den damals vorliegenden epidemiologischen Studien ermittelte Risiko pro Exposition mit dem (damaligen) Risikokoeffizienten für das Gesamt-Detriment in Bezug gesetzt (ICRP 1993). Dieser „epidemiologische Ansatz“ führte zu Radon-Dosiskoeffizienten, mit deren Hilfe aus Angaben zur kumulierten Aktivitätskonzentration (in Einheiten MBq h m-3) ein Wert für die effektive Dosis (in der Einheit mSv) errechnet werden konnte.

Parallel zu dem epidemiologischen Ansatz entwickelte die ICRP ein auf einem „dosimetrischen Ansatz“ beruhendes biokinetisches Lungendosismodell. Grundlage für die Berechnung der Dosisverteilung in den verschiedenen Lungenbereichen war der Entwurf und die mehrfache Weiterentwicklung eines Modells für den Atemtrakt. Dieses als Human Respiratory Tract Model (HRTM) bezeichnete Model berücksichtigt in detaillierter Weise Deposition, Aufenthaltsdauer, Transport, Austausch und Abgabe der beteiligten Radionuklide für die einzelnen Kompartimente der Lunge (ICRP 2015d).

Grundsätzlich verfolgt die ICRP für alle Radionuklide den Ansatz, über biokinetische Modelle das zeitliche Aufenthaltsverhalten nach ihrer Zufuhr in den verschiedenen Körperbereichen einschließlich ihrer Ausscheidung zu beschreiben (ICRP 2017c). Mit Hilfe dieser Modelle wird die Anzahl der Kernzerfälle und die daraus resultierende Energieübertragung in den einzelnen Körperbereichen berechnet. Durch Multiplikation der jeweiligen Energiedosiswerte mit den Strahlungs-Wichtungsfaktoren wR werden die Werte für die Organ-Äquivalentdosis bestimmt, die wiederum multipliziert mit den Gewebe-Wichtungsfaktoren wT in ihrer Summe die effektive Dosis ergeben. Eine Abweichung für Radon gegenüber den anderen Radionukliden besteht darin, dass die effektive Dosis nicht nur pro zugeführter Aktivität (Sv pro Bq) angegeben wird (getrennt für Radon und seine kurzlebigen Zerfallsprodukte), sondern auch pro Exposition (mSv pro (Bq h m-3)) für Radon einschließlich seiner Zerfallsprodukte. Die ICRP präferiert in ihren jüngsten Publikationen zum Radon-Dosiskoeffizienten (ICRP 2010a ICRP 2014a ICRP 2017c) grundsätzlich die Anwendung des dosimetrischen Ansatzes vor allem aus Gründen der Konsistenz mit dem Vorgehen bei der Inkorporation anderer Radionuklide.

Generell gibt die ICRP Dosiskoeffizienten für Referenzpersonen ohne Berücksichtigung individueller Ausprägungen und Verhaltensmuster an. Insbesondere werden keine Dosiskoeffizienten für Raucher und Nichtraucher angegeben. Auch wenn für spezielle Situationen (Einfluss durch Rauchen, Luftverschmutzung, Atemwegserkrankungen) modifizierende Faktoren angegeben werden, so bleibt deren Einfluss jedoch weitgehend unklar. Die von der ICRP mit dem dosimetrischen Konzept berechneten Dosiskoeffizienten für Radon sind daher Werte für Referenzpersonen bei standardisierten Umweltbedingungen. Neben der individuellen Variabilität und der Variabilität der Umweltbedingungen beinhalten die Referenzwerte eine Vielzahl von Unsicherheiten (SSK 2017). Mögliche Quellen dieser Unsicherheiten sind

die Depositionswerte der Radon-Zerfallsprodukte in den Lungenbereichen, die direkt in die Dosis eingehen,
die mechanischen Transportraten der deponierten Radon-Zerfallsprodukte für den mukoziliaren Transport aus dem Bronchialbereich in den extrathorakalen Bereich und den Transport vom extrathorakalen Bereich in den Verdauungstrakt,
die Absorptionsraten vom Atemtrakt ins Blut, insbesondere der Anteil von Pb-214, der im „bound state“ in den Wänden der Luftwege retiniert wird, und
die Definition und Lage der strahlensensiblen Zellen, die insbesondere für Alphastrahlung von großer Bedeutung sind.

Die ICRP hat in den vergangenen Jahren eine Reihe von Empfehlungen zur Radon-Dosiskonversion herausgegeben, die auf eine Änderung der bisher verwendeten Dosiskoeffizienten hinauslaufen (ICRP 2010a, ICRP 2014a, ICRP 2017c). In ihrer Empfehlung zu den Radon-Dosiskoeffizienten setzt sich die SSK kritisch mit der Datenbasis und der konzeptionellen Basis der Empfehlungen der ICRP auseinander (SSK 2017, Müller et al. 2016). Die Umrechnungen von Radon-Expositionswerten zu Werten der effektiven Dosis sind nach Ansicht der SSK zurzeit weder auf der Grundlage des dosimetrischen Ansatzes noch des epidemiologischen Ansatzes eindeutig. Die Dosiskoeffizienten, die sich aus den beiden Ansätzen ergeben, weisen erhebliche Unsicherheiten auf, innerhalb derer sich ein eindeutiger Wert nur schwer festlegen lässt. Auch UNSCEAR (UNSCEAR 2019) hebt bei der Diskussion um den Radon-Dosiskoeffizienten diesen Umstand hervor. Die von der ICRP vor allem in ihren Publikationen 115 (ICRP 2010a) und 126 (ICRP 2014a) vorgeschlagenen neuen Radon-Dosiskoeffizienten basieren zwar auf den dosimetrischen und epide­miologischen Erkenntnissen der letzten Jahre, ergeben aus Sicht der SSK jedoch noch kein abschließendes Bild. Es könne durchaus damit gerechnet werden, dass sich in absehbarer Zeit, wenn nicht unbedingt konzeptionelle, so doch nochmals quantitative Änderungen als notwendig erweisen. Insgesamt scheinen für die SSK innerhalb der Unsicherheiten sowohl die alten als auch die neuen Dosiskoeffizienten in Einklang mit den epidemiologischen Daten zu bringen zu sein. Aus diesen Gründen war die Empfehlung der SSK (SSK 2017), zunächst keine quantitative Änderung der Radon-Dosiskoeffizienten in Deutschland vorzunehmen, solange keine abschließenden Empfehlungen der ICRP zu dieser Thematik vorliegen und nach einer weitergehenden wissenschaftlichen Diskussion keine internationale regulatorische Abstimmung erfolgt ist.

Die ICRP hält einen gemeinsamen Dosiskoeffizienten für berufliche Exposition und für die Exposition in Wohnräumen für möglich (ICRP 2017c). Die SSK stellt dazu fest, dass die Unsicherheiten in den epidemiologischen Studien und die vielen für einen Vergleich der Risiken zwischen im Bergbau Beschäftigten und Wohnbevölkerung nötigen Annahmen eine definitive Aussage zur Gleichsetzung oder Unterschiedlichkeit der Risikokoeffizienten bei gleicher Aktivitäts­konzentration und Expositionsdauer gegenwärtig nicht zulassen (SSK 2017). Sie schließt nicht aus, dass sich die Risikokoeffizienten für im Bergbau Beschäftigte und die allgemeine Bevölkerung unterscheiden. Im Gegensatz zur beruflichen Exposition dauert die Exposition der Wohnbevölkerung ein Leben lang an, sie kann aber zu verschiedenen Zeitpunkten deutlich variieren. Bei den zugrunde liegenden Studien wurden für die Teilnehmenden gewichtete durchschnittliche Aktivitätskonzentrationen in allen Wohnungen berechnet, die im Zeitraum von einigen Jahrzehnten vor der Diagnose bewohnt wurden. Die ermittelten Risikoschätzer wurden daher pro Aktivitätskonzentration angegeben, also nicht kumuliert (das heißt ohne Bezug auf die Expositionsdauer).

Um einen Überblick zu erhalten, wie in anderen europäischen Ländern die Richtlinie 2013/​59/​Euratom, insbesondere in der Frage neuer Radon-Dosiskoeffizienten im Hinblick auf die ICRP-Publikationen 103 (ICRP 2007b) und 115 (ICRP 2010a) umgesetzt wird, befragte die SSK Personen mit Expertise aus 15 EU-Ländern, die an der Umsetzung der Richtlinie in den jeweiligen Ländern mitarbeiteten oder mit eingebunden waren, über die derzeitige Situation und den Diskussionsstand zur Einführung neuer Dosiskoeffizienten in ihren Ländern (SSK 2017).

Bei den Antworten zeigt sich kein einheitliches Bild über das weitere Vorgehen in den einzelnen Ländern. Die Diskussionen, ob und wie die Ergebnisse aus ICRP-Publikation 115 (ICRP 2010a) und ICRP-Publikation 103 (ICRP 2007b) berücksichtigt werden sollen, sind zum Großteil nicht abgeschlossen oder haben erst begonnen. Die meisten der angefragten Personen mit Expertise gehen davon aus, dass eine Anpassung der bestehenden Modelle an die neuen Empfehlungen der ICRP erfolgen wird. Eine Festlegung wie in der Schweiz ist bisher nur in den wenigsten Ländern erfolgt. Dort wurde in der revidierten Strahlenschutzverordnung (Regierungsebene) ein Referenzwert von 300 Bq m-3, ohne Angabe eines Radon-Dosiskoeffizienten zur Dosisermittlung für die Bevölkerung, eingeführt. Nur für die Dosisermittlung am Arbeitsplatz hat die Schweiz vorsorglich einen Radon-Dosiskoeffizienten in der nachgeordneten Dosimetrieverordnung (Ressortebene) eingeführt.

In den meisten anderen Ländern werden die bisherigen Regelungen zu den Radon-Dosiskoeffizienten noch beibehalten und die Einführung neuer Koeffizienten von einer expliziten Empfehlung der ICRP abhängig gemacht. Die Dosiskoeffizienten dieser Empfehlung sollen dann nachfolgend in entsprechende Verordnungen und Regelungen eingeführt werden. Die Festlegung auf einen bestimmten Wert soll dabei meist nicht in den übergeordneten Regelungen oder Gesetzen erfolgen, sondern in den nachgeordneten Verordnungen oder Richtlinien, um eine nachträgliche Anpassung der Dosiskoeffizienten einfacher durchführen zu können, wie in der Schweiz.

Fazit: Eine erneute Abwägung aller vorliegenden Erkenntnisse zur Dosisberechnung, einschließlich der neuen Auswertung der Wismut-Daten und der PUMA-Studie (Pooled Uranium Miners Analysis) (Rage et al. 2020) sollte zu einer konsensfähigen und praktikablen Empfehlung der ICRP hinsichtlich des Radon-Dosiskoeffizienten führen. Darüber hinaus sollte angestrebt werden, Empfehlungen zum Schutz vor Radon zukünftig generell auf Aktivitätskonzentrationen beziehungsweise auf Expositionswerte anstelle von Dosiswerten zu beziehen und damit auf Dosisumrechnungen weitgehend zu verzichten.

3.1.3 Strahleninduzierter Hautkrebs

Die Haut als größtes Organ des Menschen mit vielfältigen Expositionsmöglichkeiten spielt im Strahlenschutz in vielerlei Hinsicht eine besondere Rolle.

Gegenwärtig wird davon ausgegangen, dass vor allem das Basalzellkarzinom als ein Subtyp des Hautkrebses durch ionisierende Strahlung verursacht werden kann. Für das Auftreten des Plattenepithelkarzinoms gibt es nur eine schwache Assoziation, während das maligne Melanom als nicht durch ionisierende Strahlung induzierbar gilt.

Bei der Bestimmung der effektiven Dosis wird der Beitrag des strahleninduzierten Hautkrebsrisikos zum gesamten stochastischen Risiko, wie für andere Organe auch, durch den Organ-Wichtungsfaktor wR ausgedrückt. Der Organ-Wichtungsfaktor wird vom Inzidenz-Risikokoeffizienten für das entsprechende Organ und der nachfolgenden Berechnung des Detriments (Schadensmaß) abgeleitet. Für fast alle Organe unterscheiden sich der Risikokoeffizient und das Detriment, in das vor allem die Letalität eingeht, um nicht mehr als einen Faktor 2. Hautkrebs dagegen hat nicht nur den mit Abstand größten Inzidenz-Risikokoeffizienten aller Organe (größer als alle anderen zusammen), sondern aufgrund der angenommenen sehr geringen Letalität des dominierenden Basalzellkarzinoms nur ein sehr kleines Detriment. Dies führt zu einem Unterschied zwischen Detriment und Risikokoeffizient um den bemerkenswert hohen Faktor 250, das heißt mehr als das 100-Fache gegenüber den anderen Organen. Während der Beitrag des Haut-Risikokoeffizienten zum Gesamt-Risikokoeffizienten etwa 60 % beträgt, macht das Haut-Detriment zum Gesamt-Detriment lediglich 0,7 % aus (ICRP 2007b). Dieser Umstand ist vor allem dann von weitreichender Bedeutung, wenn ein Vergleich des strahleninduzierten Risikos für Hautkrebs mit dem durch andere Agenzien verursachten Hautkrebsrisiko hergestellt werden soll. Das bedeutet, dass diesbezüglich der ionisierenden Strahlung eine 250-fach geringere Bedeutung beigemessen wird als beispielsweise der UV-Strahlung.

Bei der Ermittlung der Risikokoeffizienten der einzelnen Gewebe beziehungsweise Organe stützt sich die ICRP-Publikation 103 (ICRP 2007b) ganz wesentlich auf die Inzidenzstudien der Life Span Study, LSS, nach Preston et al. (Preston et al. 2007). In dieser Arbeit und auch schon in Ron et al. (Ron et al. 1998) finden sich detaillierte Angaben zum Melanom und zu den nicht melanozytären Krebsarten Basalzellkarzinom und Plattenepithelkarzinom. ICRP-Publikation 103 ordnet diesen Daten jedoch eine zu geringe Aussagekraft zu, um daraus Risikokoeffizienten abzu­leiten. Statt sich also auf die damals neuen LSS-Inzidenzdaten zu stützen, wendet die ICRP die unveränderten Risikokoeffizienten aus ICRP-Publikation 60 (ICRP 1991a) an, die sich wiederum auf die ICRP-Publikation 59 (ICRP 1991b) stützen. Die den Empfehlungen der ICRP-Publikation 103 zugrunde liegenden Daten gehen teilweise also auf Untersuchungen aus den 1990er Jahren zurück. Aufgrund der besonderen Bedeutung des strahleninduzierten Hautkrebses besteht der Bedarf, die wissenschaftliche Datenbasis zu aktualisieren und daraufhin zu überprüfen, ob die gegenwärtig angenommenen qualitativen und quantitativen Aussagen zum Hautkrebsrisiko nach wie vor zutreffend sind.

Um Risikoschätzungen von einer Bevölkerungsgruppe auf andere übertragen zu können (z. B. aus der LSS-Kohorte auf die Weltbevölkerung), greift die ICRP (ICRP 2007b) auf ein „Mischmodell“ zur Berücksichtigung des multiplikativen (relative risk model) und des additiven (absolute risk model) Anteils zum Hintergrundrisiko zurück. Für die meisten Organe wird dabei eine Mischung von 50 % Excess Relative Risk (ERR) zu 50 % Excess Absolute Risk (EAR) angewendet. Für Hautkrebs dagegen kommt es zur ausschließlichen Anwendung von ERR. Hintergrund dieser Wahl und auch der Entscheidung, nicht die LSS-Daten anzuwenden, sind die großen Unsicherheiten bei der Übertragung auf andere Bevölkerungsgruppen. In Japan gibt es nur eine sehr kleine Inzidenzrate für Basalzellkarzinome (und auch für die anderen Hautkrebsarten), während die Inzidenzraten insbesondere in Europa, Australien und den USA außer­ordentlich hoch sind, sogar die höchsten aller Krebsarten überhaupt. Die Wahl des Anteils aus „absolute risk“ und „relative risk“ in einem „Mischmodell“ hat großen Einfluss auf den ermittelten Risikokoeffizienten. Würde statt des in der ICRP-Publikation 103 favorisierten „relative risk model“ (100 % ERR zu 0 % EAR) das „absolute risk model“ (0 % ERR zu 100 % EAR) zur Anwendung kommen und es auf andere Bevölkerungsgruppen mit wesentlichen höheren Hintergrundraten für Hautkrebs übertragen, so würde sich ein um Größenordnungen geringerer Wert für den Risikokoeffizienten der Haut ergeben. Diese Schwierigkeit bei der Übertragung auf andere Bevölkerungsgruppen mit sehr unterschiedlichen und zudem schwer zu bestimmenden Hintergrundraten für nicht melanozytäre Hautkrebsarten hat die ICRP (ICRP 2007b) veranlasst, die Risikoschätzungen gegenüber der ICRP-Publikation 60 (ICRP 1991a) unverändert zu lassen.

Dem Hautkrebs, bestimmt durch den Subtyp Basalzellkarzinom, wird durch Zuordnung der „minimalen Einschränkung der Lebensqualität“ qmin = 0 und einem sehr kleinen Letalitätsfaktor k im Detriment nur eine sehr schwache Einschränkung der Lebensqualität beigemessen. Hautkrebs ist in ICRP-Publikation 103 (ICRP 2007b) das einzige Gewebe mit qmin= 0. Änderungen in der Wahl von qmin hätten außerordentlich starke Auswirkungen auf die Detriment-Werte für Hautkrebs.

Im gegenwärtigen Strahlenschutzsystem (ICRP 2007b) ergibt sich die Besonderheit von Hautkrebs gegenüber allen anderen Krebsarten also aus folgenden Merkmalen:

Der Inzidenz-Risikokoeffizient für Hautkrebs ist mit Abstand der größte unter allen Krebsarten. Er ist größer als alle anderen zusammen.
Demgegenüber ist das Detriment aufgrund der geringen Letalität die kleinste aller Krebsarten.
Hautkrebs ist die einzige Krebsart, für die kein „Mischmodell“ zur Übertragung auf andere Bevölkerungsgruppen zur Anwendung kommt. Es wird ausschließlich das multiplikative Risikomodell (relative risk model) angewendet.
Hautkrebs ist die einzige Krebsart, für die qmin = 0 (minimale Einschränkung der Lebensqualität) gesetzt wird.

Die mit Abstand wichtigste jüngere Arbeit zur Auswertung der LSS-Kohorte in Bezug auf Hautkrebs ist von Sugiyama et al. (Sugiyama et al. 2014) für den Beobachtungszeitraum von 1958 bis 1996. In dieser Arbeit bestätigt sich die Annahme, dass das Basalzellkarzinom (BCC) der bestimmende Subtyp des Hautkrebses ist. Übereinstimmend in allen bisherigen Auswertungen der LSS-Kohorte konnten keine statistisch signifikanten Dosis-Wirkungszusammenhänge für das Plattenepithelkarzinom (SCC) und für das Maligne Melanom (MM) festgestellt werden.

In Sugiyama et al. (Sugiyama et al. 2014) werden verschiedene Modelle zur Anpassung einer Dosis-Wirkungsbeziehung für BCC geprüft. Unter allen Modellen liefert ein lineares Schwellenmodell mit einer Dosisschwelle bei 0,63 Gy die beste Anpassung. Somit liegt die Schwellendosis in einem Dosisbereich oberhalb der meisten im praktischen Strahlenschutz auftretenden Expositionen. Ein reines LNT-Modell, allerdings mit schlechterer Anpassung, liefert eine sehr konservative Abschätzung mit einem Wert, der etwa halb so groß ist wie der aus ICRP-Publikation 103 (ICRP 2007b).

Die Wahl der Parameter zur Berechnung des Risikokoeffizienten und des Detriments erweist sich als weit kritischer als für alle anderen Krebsarten (SSK 2023 in Vorbereitung). Bei Annahme eines Schwellenmodells, das nach Sugiyama et al. (Sugiyama et al. 2014) die beste Anpassung liefert, würde Hautkrebs gar nicht zum stochastischen Risiko beitragen und würde demnach gänzlich aus der Liste der Risikokoeffizienten und der der Organ-Wichtungsfaktoren herausfallen. Dies wäre ebenso der Fall bei einem LNT-Modell mit einem Risiko-Übertragungsmodell, das sich auf das „absolute risk model“ stützt. Würde hingegen ein LNT-Modell mit ausschließlich relativer Risikoübertragung und einem qmin = 0,1 wie bei anderen Krebsarten zur Anwendung kommen, so würde sich ein Detriment ergeben, das nach dem Lungenkrebs das zweitgrößte aller Krebsarten darstellen würde (SSK in Vorbereitung). Mit einer anderen Kombination der Modelle zur Anpassung, zur Risikoprojektion oder zur Detriment-Berechnung gelangt man zu Werten, die ein weites Spektrum von vernachlässigbar klein bis zu weitgehender Dominanz des Hautkrebsrisikos aufspannen können. Es zeigt sich also, dass sich die Modellierung der Inzidenz des Hautkrebses weit mehr als andere Krebsarten als äußerst empfindlich hinsichtlich der Wahl der Modellparameter erweist. Diese Tatsache kann zudem weitreichende Auswirkungen auf das zurzeit angewendete Detriment-Konzept haben (vergleiche Abschnitt 4.1.2).

Fazit: Für fast alle Organe unterscheiden sich der Risikokoeffizient und das Detriment, in das vor allem die Letalität eingeht, um nicht mehr als einen Faktor 2. Hautkrebs dagegen hat nicht nur den mit Abstand größten Inzidenz-Risikokoeffizienten aller Organe (größer als alle anderen zusammen), sondern aufgrund der angenommenen sehr geringen Letalität des dominierenden Basalzellkarzinoms nur ein sehr kleines Detriment. Dies führt zu einem Unterschied zwischen Detriment und Risikokoeffizient um mehr als das 100-Fache gegenüber den anderen Organen. Neuere Auswertungen der LSS-Kohorte legen nahe, dass Hautkrebs unterhalb von etwa 0,5 Gy nicht strahleninduzierbar ist, das heißt, dass Haut aus der Liste der Organe mit Gewebe-Wichtungsfaktor herausfallen würde.

3.1.4 Herz-Kreislauferkrankungen

Über viele Jahre hinweg standen für den Strahlenschutz vor allem die stochastischen Strahleneffekte im Vordergrund. Für diese wird auf der Grundlage des LNT-Modells (vergleiche Abschnitt 4.1.1) davon ausgegangen, dass es grundsätzlich keine Dosis gibt, unterhalb derer eine Strahlenwirkung vollkommen ausgeschlossen werden kann. Auf diese Annahme stützen sich wesentliche Teile des gesamten Strahlenschutzsystems. Seit einigen Jahren finden jedoch Arbeiten zu strahleninduzierten Herz-Kreislauferkrankungen zunehmend Beachtung, die nicht ohne Weiteres in die klassischen Kategorien von stochastischer und deterministischer Wirkung einzuteilen sind, und für die schwer entscheidbar ist, wie deren Dosis-Wirkungsbeziehungen aussehen. Insbesondere ist ungeklärt, ob mit einem LNT-Model eine angemessene Konvention gefunden ist, um Strahlenschutzbelangen adäquat Genüge zu tun. Demnach ist auch unklar, inwieweit sie in das bestehende Strahlenschutzsystem einzugliedern sind oder ob dieses in Hinblick auf die Einbeziehung von strahleninduzierten Herz-Kreislauferkrankungen erweitert werden muss.

Mit diesem Problemfeld hat sich die ICRP in ihrer Publikation 118 (ICRP 2012a) auseinandergesetzt. Auch die SSK hat hierzu bereits mehrfach Stellung genommen (SSK 2012, SSK 2018).

An Zellkulturen oder auch im Tierexperiment können innerhalb von Stunden, Tagen oder auch Wochen eine Vielzahl von zellulären und molekularen Veränderungen durch Bestrahlung ausgelöst werden. Ob diese jedoch ursächlich an der Entstehung derjenigen Effektketten beteiligt sind, die beim Menschen innerhalb von Jahren bis Jahrzehnten zu einer Erhöhung des kardiovaskulären Risikos führen, ist experimentell nur schwer nachweisbar, nicht zuletzt deshalb, weil biologische Experimente im Allgemeinen schwer auf Menschen übertragbar sind. Generell muss hier aber ein Mangel an einschlägigen Tiermodellen, angewendeten Expositionsszenarien und durchgeführten Experimenten konstatiert werden (SSK 2018).

Aufgrund des langen Zeitintervalls zwischen auslösendem Ereignis, das heißt einer Strahlenexposition, und klinisch relevantem Endpunkt (z. B. Herzinfarkt) ist eine Bewertung der pathogenetischen Relevanz einzelner zellulärer Komponenten, Gewebereaktionen oder gar einzelner Moleküle schwierig. Aus der Vielzahl der vorliegenden Einzelbefunde lassen sich allgemein keine linearen Dosis-Wirkungsbeziehungen ableiten. Es sind bei hohen Dosen Einzeleffekte beschrieben, die nicht bei mittleren Dosen beobachtet wurden, und andere Effekte bei mittleren Dosen, die nicht bei hohen Dosen auftraten. Bei niedrigen Dosen scheinen antiinflammatorische, bei hohen Dosen inflammatorische Effekte zu überwiegen. Derzeit sind jedoch weder entscheidende Targetzellen noch der wesentliche Entstehungsmechanismus kardiovaskulärer Strahlenwirkungen abschließend geklärt.

Strahlenbiologische Untersuchungen zeigen zunehmend, dass sich Strahlenwirkungen nach Expositionen mit einer Dosis von einigen Hundert Millisievert nicht nur in der Höhe, sondern insbesondere auch in der Art von Strahlen­wirkungen nach hohen Expositionen unterscheiden. Dies legt nicht nur nahe, dass sich die Wirkungsmechanismen im hohen und im niedrigen Dosisbereich unterscheiden, sondern auch, dass die Dosis-Wirkungsbeziehungen insgesamt eher einen nicht linearen Verlauf aufweisen (SSK 2018).

Es gibt eine große Anzahl epidemiologischer Studien zu Herz-Kreislauferkrankungen in strahlenexponierten Populationen. Allerdings werden wesentliche Risikofaktoren wie Rauchen, Hyperlipidämie, Hypertonie, Diabetes mellitus, Übergewicht und körperliche Inaktivität in den meisten Studien nicht oder nur teilweise erfasst. Es ist zwar davon auszugehen, dass Subtypen von Herz-Kreislauferkrankungen unterschiedliche Dosis-Wirkungsbeziehungen aufweisen, stabile Studienergebnisse liegen jedoch nur für größere Gruppen von Herz-Kreislauferkrankungen vor, wie z. B. für zerebrovaskuläre Erkrankungen oder ischämische Herzerkrankungen.

In den meisten der epidemiologischen Studien werden die Daten ohne weitere Begründung mit einem LNT-Modell analysiert und der Steigungskoeffizient, das heißt das zusätzliche relative Risiko pro Dosis, ERR/​D, als Hauptergebnis angegeben. Die Life Span Study (LSS) der Atombombenüberlebenden von Hiroshima und Nagasaki ist eine der wichtigsten Informationsquellen zur Abschätzung des Risikos für Herz-Kreislauferkrankungen nach Strahlenexposition mit mittleren Dosen. Eine Analyse der Mortalitätsdaten ergab statistisch signifikante Zusammenhänge zwischen Äquivalentdosis des Dickdarms und rheumatischer Herzerkrankung, hypertensiver Herzerkrankung und Herzversagen (Shimizu et al. 2010). Kein Zusammenhang ergab sich jedoch für ischämische Herzerkrankungen. Beim Vergleich dieser Ergebnisse mit anderen Studien sind Unterschiede und Veränderungen der Hintergrunds-Mortalitätsraten einzelner Typen von Herz-Kreislauferkrankungen zu berücksichtigen. So hat die Mortalitätsrate durch Herzerkrankungen in Japan in den 90er Jahren erheblich zugenommen (Ozasa et al. 2014).

In einigen epidemiologischen Studien wurden die Ergebnisse am besten durch eine lineare Dosis-Wirkungsbeziehung beschrieben, in anderen mindestens genauso gut durch Funktionen mit deutlich kleineren Risikowerten bei niedrigen Dosen (insbesondere rein quadratische Funktionen und lineare Funktionen mit einem Schwellenwert höher als einige Hundert mGy). Insgesamt sieht die SSK keine Möglichkeit, Aussagen zur Form der Dosis-Wirkungsbeziehung bei niedrigen Dosen zu machen (SSK 2018). Auch ergibt sich nach Ansicht der SSK (SSK 2018) kein klares Bild einer möglichen Abhängigkeit des Risikos von der Dosisrate oder der Dosisfraktionierung.

Zum Vergleich von Risiken für Krebs und Herz-Kreislauferkrankungen wurden in (SSK 2018) sowohl Abschätzungen für die LSS als auch Abschätzungen für westliche Populationen vorgenommen. In der LSS wurde die Mortalität im Zeitraum von 1950 bis 2003 für Atombombenüberlebende mit dem LNT-Modell analysiert. Shimizu et al. (Shimizu et al. 2010) erhielten für Herz-Kreislauferkrankungen ein ERR pro Dosis von 0,11 (95 %-KI: 0,05 – 0,17) Gy-1 und schätzten, dass 210 der 19 054 Todesfälle durch Herz-Kreislauferkrankungen mit der Strahlung assoziiert waren. Ozasa et al. (Ozasa et al. 2012) erhielten für solide Krebserkrankungen ein ERR pro Dosis von 0,47 (95 %-KI: 0,38 – 0,56) Gy-1 und schätzten, dass 527 der 10 929 Todesfälle durch Krebs mit der Strahlung assoziiert waren. Berücksichtigt man noch die Hinweise auf eine Nichtlinearität der Dosis-Wirkungsbeziehung für Herz-Kreislauferkrankungen, dann ist das ERR pro Dosis im Bereich von einigen Hundert mGy für Herz-Kreislauferkrankungen um fast eine Größenordnung geringer als für Krebserkrankungen und das absolute Risiko um einen Faktor von ungefähr drei.

Die ICRP hat abgeschätzt, dass nach einer Strahlenexposition mit einer Dosis in Höhe von 500 mGy das zusätzliche Lebenszeitrisiko für kardiovaskuläre und zerebrovaskuläre Erkrankungen jeweils ca. 1 % beträgt (ICRP 2012a). BEIR VII hat abgeschätzt, dass nach einer Strahlenexposition mit einer Dosis in Höhe von 100 mGy das zusätzliche Lebenszeitrisiko für Krebserkrankungen ebenfalls ca. 1 % beträgt (BEIR 2006). Das entsprechende Lebenszeitrisiko pro Dosis für Krebs ist demnach um einen Faktor von ungefähr zwei bis drei höher als die Abschätzung der ICRP für Herz-Kreislauferkrankungen. Dies ist konsistent mit der obigen Abschätzung für die LSS.

Herz-Kreislauferkrankungen werden in der gegenwärtigen Definition des Detriments durch die ICRP nicht berücksichtigt. Es bestehen weiterhin große Unsicherheiten der Kenntnis eines möglichen zusätzlichen Risikos für Herz-Kreislauferkrankungen im Bereich niedriger Dosen. Für die Festlegung eines Grenzwertes der Berufslebensdosis spielen Herz-Kreislauferkrankungen allerdings eine untergeordnete Rolle, da die zusätzliche Mortalität durch Herz-Kreislauferkrankungen im Bereich von einigen Hundert Millisievert um einen Faktor von ungefähr zwei bis drei niedriger ist als die zusätzliche Mortalität durch Krebserkrankungen. Es kann davon ausgegangen werden, dass Herz-Kreislauferkrankungen für die Grenzwertsetzung eine geringere Bedeutung haben als Krebserkrankungen (SSK 2018).

Fazit: Über viele Jahre hinweg standen für den Strahlenschutz vor allem die stochastischen Strahleneffekte im Vordergrund. Seit einigen Jahren finden jedoch Arbeiten zu strahleninduzierten Herz-Kreislauferkrankungen zunehmend Beachtung, die nicht ohne Weiteres in die klassischen Kategorien von stochastischer und deterministischer Wirkung einzuteilen sind und für die schwer entscheidbar ist, wie deren Dosis-Wirkungsbeziehungen aussehen. Insbesondere ist ungeklärt, ob mit einem LNT-Model eine angemessene Konvention gefunden ist, um Strahlenschutzbelangen adäquat Genüge zu tun. Demnach ist auch unklar, inwieweit sie in das bestehende Strahlenschutzsystem einzugliedern sind oder ob dieses in Hinblick auf die Einbeziehung von strahleninduzierten Herz-Kreislauferkrankungen erweitert werden muss.

3.1.5 Benigne Tumoren

Benigne (gutartige) Tumoren sind gekennzeichnet durch eine gut differenzierte, homogene und gewebetypische Struktur, ein langsam verdrängendes Wachstum sowie durch eine gute Abgrenzbarkeit zu dem umliegenden Gewebe. Sie zeigen kein invasives Wachstum in das umliegende Gewebe und entwickeln keine Tochtergeschwülste (Metastasen). Benigne Tumoren besitzen keine oder nur geringgradige Zellveränderungen sowie eine geringe mitotische Aktivität. Allerdings können einige benigne Tumoren Vorstufen zu malignen (bösartigen) Tumoren sein (z. B. Adenome des Darms). Die Einteilung in benigne und maligne ist unter anderem deshalb nicht immer einfach.

Es ist vielfach gesichert, dass ionisierende Strahlung maligne Tumoren (Krebs) auslösen kann. Die Datenbasis in Bezug auf die Auslösung von benignen Tumoren durch ionisierende Strahlung ist viel unsicherer. Das hat eine ganze Reihe von Gründen:

Statistiken zur Erkrankungshäufigkeit sind in aller Regel nicht vollständig.
Da gutartige Tumoren sehr selten die Todesursache sind, sind sie über Totenscheine kaum zu erfassen.
Da bei vielen gutartigen Tumoren im Vergleich zu bösartigen die Lebensqualität oft entweder gar nicht oder bei Weitem nicht so stark beeinträchtigt wird, fehlt im Kontext der Strahlenforschung auch ein gewisser Druck, systematische Studien durchzuführen.

Die der Entstehung von benignen und malignen Tumoren zugrunde liegenden Mechanismen sind vergleichbar (Marino-Enriquez und Fletcher 2014). Dabei spielen genetische und epigenetische Veränderungen sowie die Ausbildung einer tumorfördernden Umgebung eine Rolle. Deshalb kann davon ausgegangen werden, dass benigne Tumoren prinzipiell durch Strahlenexpositionen induziert werden können und in die im Strahlenschutz gebräuchliche Kategorie der stochastischen Effekte gehören.

Epidemiologische Studien zum Zusammenhang zwischen ionisierender Strahlung und benignen Hirntumoren belegen einen deutlichen positiven Zusammenhang für Meningeome (Braganza et al. 2012). Für andere benigne Hirntumoren (Schwannome, Hypophysenadenome, Akustikusneurinome) liegen zu wenige Studien für eine Einschätzung der Assoziation vor.

Schilddrüsenknoten sind häufig und in der Regel gutartig (Dean und Gharib 2008). Epidemiologische Studien zeigen, dass nach Strahlenexpositionen in der Kindheit das Risiko für benigne Schilddrüsenknoten steigt (Imaizumi et al. 2015). Dies gilt allerdings nur für lange Zeiträume nach Exposition, nicht aber für kurze Zeiträume (< 10 Jahre). Das zusätzliche Risiko ist besonders ausgeprägt für große Knoten (> 10 mm). Es deutet sich an, dass das zusätzliche relative Risiko pro Schilddrüsendosis für Schilddrüsenknoten über längere Zeiträume gemittelt vergleichbar ist mit dem für Schilddrüsenkrebs (Jacob et al. 2014). Für Expositionen im Erwachsenenalter liegen nicht genügend Studien vor, um Schlussfolgerungen zu Erhöhungen der Häufigkeit von Schilddrüsenknoten zu ziehen.

Vereinzelt wurden die Ergebnisse von Tierexperimenten und epidemiologischen Studien zu weiteren benignen Tumorarten publiziert. Insbesondere gilt dies für folgende Lokalisationen: Hypophyse, Speicheldrüse, Brust (Mamma), Darm, Niere, Leber, Ovar, Uterus, Knochen und Knorpel, Haut.

Fazit: Für benigne Tumoren liegt bisher nur wenig empirische Evidenz in Bezug auf eine Verursachung durch ionisierende Strahlung vor. Einige gutartige Tumoren gehen mit einer stark eingeschränkten Lebensqualität oder sogar mit lebensbedrohenden Konsequenzen einher. Dies gilt vor allem für gutartige intrakranielle Tumoren. Strahlenbedingte gutartige Tumoren sollten daher im Strahlenschutz allgemein in der Bewertung von Gesundheitsrisiken durch Strahlenexpositionen berücksichtigt werden. In den ICRP-Empfehlungen spielen benigne Tumoren bisher keine Rolle. Dies sollte in der Zukunft geändert werden. Entweder sollten die benignen Tumoren im Detriment Berücksichtigung finden oder es sollte begründet werden, warum dies nicht notwendig ist.

3.1.6 Katarakte

Nachdem sich etwa zu Beginn der 2000er Jahre herausgestellt hat, dass deutlich niedrigere Strahlendosen als ursprünglich angenommen zu Katarakten (Linsentrübung des Auges, Grauer Star) führen können (Chodick et al. 2008, Minamoto et al. 2004, SSK 2009a, Worgul et al. 2007), gibt es eine intensive Diskussion darüber, ob die Katarakt ein deterministischer oder ein stochastischer Effekt ist oder in dieses Strahlenschutzkonzept gar nicht eingeordnet werden kann. Bis etwa Ende des 20. Jahrhunderts war man sicher, dass es sich um einen deterministischen Effekt mit eindeutigen Schwellendosen handelt. Man ging davon aus, dass die Schwellendosis nach einer akuten Strahlenexposition bei etwa 2 Gy lag und nach einer langjährigen chronischen Exposition bei etwa 5 Gy bis 7 Gy (ICRP 1991a). Daher war der Grenzwert für beruflich Strahlenexponierte relativ hoch bei 150 mSv im Kalenderjahr. Dies änderte die ICRP in ihrem „Statement on Tissue Reactions“ vor dem Hintergrund zahlreicher Studienergebnisse im Jahr 2011 auf 20 mSv pro Jahr (ICRP 2012a).

Zur Charakterisierung deterministischer Effekte beziehungsweise von Gewebereaktionen (tissue reactions) werden benannt:

Zelltod-Prozesse: Für einen deterministischen Effekt würde eine hohe Empfindlichkeit der Linsenepithelzellen gegenüber Zelltod sprechen. Hierfür gibt es jedoch keine Hinweise (Hamada 2017, Harocopos et al. 1998).
Vorliegen einer Schwellendosis: Zurzeit ist nicht klar, ob eine Schwellendosis für Katarakte existiert. Einige epidemiologische Studien zeigen, dass die untere Konfidenzgrenze des zusätzlichen relativen Risikos die Null einschließt, das Fehlen einer Schwellendosis also nicht ausgeschlossen werden kann (Nakashima et al. 2006, Neriishi et al. 2007). Es gibt Hinweise, dass Katarakte, die kurz (innerhalb einer Dekade) nach der Strahlenexposition nachweisbar sind, eine Schwellendosis aufweisen, nicht aber solche, die später entstehen (Hamada et al. 2020). Die ICRP geht in der Publikation 118 (ICRP 2012a) nach wie vor von einer Schwellendosis aus (genauer: von einer „nominellen“ Schwellendosis, das heißt von der Dosis, die bei 1 % der Exponierten zu einer Gewebereaktion führt) und hat für die Katarakt eine Dosis von 0,5 Gy ermittelt.
Dosisabhängigkeit der Schwere der Erkrankung: Ob die Schwere einer Katarakt dosisabhängig ist, ist schwierig zu beurteilen. Es ist bisher nicht klar, ob sich eine einmal begonnene Trübung immer zu einer voll ausgereiften Katarakt entwickelt oder ob es bei einer leichten oder mittelschweren Trübung bleiben kann (Ainsbury et al. 2021, Neriishi et al. 2007). Wenn alle einmal in Gang gesetzten Trübungen zu einer kompletten Trübung führen sollten, dann würde das Kriterium „Schwere der Erkrankung“ für einen deterministischen Effekt entfallen.
Dosis-Leistungseffekte: Früher ging man davon aus, dass die Dosisleistung, die Verteilung der Dosis über die Zeit (also entweder akute oder chronische Exposition), eine große Rolle für das Katarakt-Risiko spielt (ICRP 2012a). Das jedoch konnte in neueren Studien nicht bestätigt werden (Chodick et al. 2008). Damit entfällt dieses Charakteristikum für das Vorliegen eines deterministischen Effektes.

Zwar ist der genaue Mechanismus, der nach Strahlenexposition zu Katarakten führt, nach wie vor nicht bekannt (Ainsbury et al. 2016), aber die Hinweise mehren sich, dass große Ähnlichkeiten zu den Prozessen bestehen, die bei stochastischen Effekten anzutreffen sind (Hamada et al. 2014, Hamada 2017, Hamada et al. 2020, Jacob et al. 2012):

langsame oder fehlerhafte Reparatur
abnorme Differenzierung
exzessive Proliferation
Telomer-Effekte
Alterungsprozesse
morphologische Veränderungen der Linsenkristalline
Entzündungsprozesse.

Nach wie vor steht die Frage im Raum, ob die drastische Senkung des Grenzwertes von 150 mSv im Kalenderjahr auf 20 mSv gerechtfertigt ist. Denn sie hat dazu geführt, dass die Augenlinse nun besser geschützt wird als die Gewebe, in denen Tumoren entstehen können (Hamada et al. 2014). In diesem Zusammenhang spielt außerdem eine gewisse Rolle, dass der operative Linsenersatz heute eine Routinemaßnahme ist, so dass die Folgen der Strahlenkatarakte für die persönliche Lebensführung gegenüber früher stark abgemildert sind.

Fazit: Die derzeitigen Kenntnisse zur Strahlenkatarakt-Entwicklung sind nicht ausreichend, um klar zu entscheiden, ob es sich bei der Katarakt um einen stochastischen, einen deterministischen oder weder einen stochastischen noch einen deterministischen Effekt handelt. Nach dem derzeitigen Kenntnisstand zeichnet sich zumindest ab, dass es eher unwahrscheinlich ist, dass es sich um einen klassischen deterministischen Effekt handelt. Vor dem Hintergrund, dass die Augenlinse durch den Grenzwert von 20 mSv im Kalenderjahr im Vergleich zu den Geweben, in denen Tumoren entstehen können, besser geschützt wird, sollte die Grenzwertsetzung erneut diskutiert werden.

3.1.7 Schutz der Umwelt

Unter dem Begriff „Umwelt“ wird in Deutschland das auf ein konkretes Gebiet bezogene Gesamtsystem von Menschen, Naturhaushalt und Landschaft, Kulturgütern und sonstigen Sachgütern sowie das Wirkungsgefüge zwischen diesen Schutzgütern verstanden. Der Naturhaushalt umfasst die Naturgüter, Wasser, Boden, Luft, Klima, Tiere und Pflanzen sowie das Wirkungsgefüge zwischen ihnen. Ausgehend von den möglichen Wirkungen ionisierender Strahlung sieht die SSK Menschen, Tiere, Pflanzen und andere lebende Organismen sowie Wasser, Boden und Luft als zu berücksichtigende Schutzgüter für den Strahlenschutz an (SSK 2016c). Im Hinblick auf nicht menschliche Arten bestehen die Schutzziele in einer Vermeidung oder Verringerung der Häufigkeit schädlicher Strahleneffekte auf ein Niveau, auf dem die Strahlung nur vernachlässigbare Wirkungen auf den Erhalt der biologischen Vielfalt und die Erhaltung der Arten hat. Über den Schutz nicht menschlicher Arten hinaus sind in den Strahlenschutz auch der Schutz von Umweltmedien und Sachgütern sowie Fragen der Nachhaltigkeit einzubeziehen.

Die ICRP hat zur Beurteilung der Strahlenexposition nicht menschlicher Arten zwölf Referenztiere und -pflanzen (RAPs) als Vertreter von Organismengruppen definiert (ICRP 2008b) und für diese Bereiche der Dosisraten, sogenannte „Derived Consideration Reference Levels“ (DCRLs) empfohlen (ICRP 2014b). Diese Werte sind als Gesamtwerte der Dosisraten (Summe der zivilisatorisch bedingten und natürlichen Dosisbeiträge) zu verstehen. Für die Beurteilung des Schutzes nicht menschlicher Arten sieht es die SSK als ausreichend an, sich auf die zwölf RAPs zu beschränken, da diese einen weiten Bereich verschiedener Arten abdecken und bei den bestehenden Unsicherheiten eine weitergehende Differenzierung nicht angemessen erscheint. Die Beurteilung kann auf die 75 Radionuklide nach (ICRP 2008b) beschränkt werden, insbesondere da bei sehr kurzlebigen Radionukliden für nicht menschliche Arten mit den Dosiskonversionsfaktoren nach (ICRP 2009a) die Strahlenexposition weit überschätzt würde. Wie in Abschnitt 2.2.6 beschrieben, stellt dagegen die ICRP inzwischen mit dem Softwarepaket BiotaDC ein Tool zur Verfügung, mit dem über Masse sowie Form weitere Organismen definiert werden können und die Berechnung von Dosen für alle Radionuklide der ICRP-Publikation 107 möglich ist. Die SSK sieht dies als einen Schritt, der den Strahlenschutz komplizierter macht, ohne dass gemäß heutigem Wissensstand daraus ein zusätzlicher und angemessener Schutz resultiert.

Die SSK sieht den Schutz der RAPs, inklusive der Erhaltung der Arten und der Bewahrung der biologischen Vielfalt, als gewährleistet an, wenn die Strahlenexposition aller relevanten RAPs unterhalb der oberen Werte der jeweiligen DCRL-Bereiche bleibt. Da bei Anwendung des geltenden deutschen Strahlenschutzregelwerks bei geplanten Expositionssituationen die oberen Werte der DCRL-Bereiche nicht überschritten werden, kann für diese Expositionssituationen daher auf Betrachtungen zur Strahlenexposition nicht menschlicher Arten verzichtet werden. Bei bestehenden Ex­positionssituationen sollen die RAPs im Optimierungsprozess angemessen berücksichtigt werden, sofern als Folge anthropogener Veränderungen Expositionen oberhalb der oberen Werte der DCRL-Bereiche auftreten. In Notfall­expositionssituationen muss der Strahlenschutz des Menschen stets im Vordergrund stehen. Soweit bei Notfällen Kontaminationen von Wasser, Boden oder Pflanzen eingetreten sind, sollten Maßnahmen zur Beseitigung solcher Kontaminationen nur erwogen werden, wenn sie unmittelbar dem Schutz des Menschen dienen. Der Schutz nicht menschlicher Arten sollte jedoch bei der Prüfung sonstiger Handlungsoptionen in späten Phasen der Notfallexposi­tionssituationen einbezogen werden.

Um die Umsetzung der Empfehlungen zum Schutz nicht menschlicher Arten zu erleichtern, können aus den Datensätzen der ICRP nuklidspezifische Kontaminationen von Boden, limnischen Gewässern und marinen Gewässern abgeleitet werden, bei deren Einhaltung für keines der zwölf RAPs die oberen Werte der DCRL-Bereiche überschritten werden. Die SSK hat solche Werte für die 75 Radionuklide der (ICRP 2008b) ermittelt und tabelliert (SSK 2016c). Über die Summenformel können sie auch auf Nuklidgemische angewendet werden. Damit ergibt sich ein praktikables Instrument, mit dem bei Umweltbewertungen eine Entscheidung darüber getroffen werden kann, ob nachteilige Auswirkungen auf nicht menschliche Arten möglich sein könnten.

Hinsichtlich des Schutzes von Umweltmedien sollten nach Auffassung der SSK radioaktive Kontaminationen von Wasser und Boden durch Radionuklide in geplanten Expositionssituationen als geringfügig im Hinblick auf den Schutz nicht menschlicher Arten sowie von Ökosystemen angesehen werden, wenn die unteren Werte der DCRL-Bereiche nicht überschritten werden. Soweit in bestehenden oder Notfallexpositionssituationen der Schutz nicht menschlicher Arten sowie von Ökosystemen separat vom Schutz des Menschen zu beurteilten ist, sollen als Maßstab die oberen Werte der DCRL-Bereiche herangezogen werden. Werte zur Beurteilung radioaktiver Kontaminationen der Luft nach ökotoxikologischen Gesichtspunkten müssen nicht eingeführt werden.

Radioaktive Kontaminationen von Sachgütern können zu Beeinträchtigungen von deren Nutzbarkeit führen und erhebliche Nachteile für die jeweiligen Besitzer zur Folge haben. Solche Kontaminationen sollten bei der Planung von Maßnahmen bei Notfallexpositionssituationen berücksichtigt werden. Darüber hinaus sollten Kontaminationen im Wirtschaftskreislauf aber durch eine weiter gefasste Betrachtung der Radioaktivität in Umweltverträglichkeits­prüfungen und strategischen Umweltprüfungen bereits identifiziert werden, um einen unkontrollierten Eintrag in die Stoffströme der Wirtschaft zu vermeiden. Für Sachgüter, deren Radionuklidgehalt durch bestehende oder Notfall­expositionssituationen erhöht wurde, sollen geeignete Regelungen zur Handhabung, Dekontamination, Wiederverwendung oder Entsorgung getroffen werden, die im Bedarfsfall angewendet werden können.

Das Prinzip der Nachhaltigkeit soll zur Gewährleistung einer nachhaltigen Entwicklung auch in den Schutz der Umwelt im Strahlenschutz integriert werden. Dabei sind neben dem Schutz der menschlichen Gesundheit auch der Schutz von nicht menschlichen Arten sowie die zeitliche Stabilität hinreichend geringer Kontamination der Umweltmedien zu verfolgende Ziele. Das Prinzip der Nachhaltigkeit geht damit über das Vorsorgeprinzip hinaus, wobei Letzteres, auch im Sinne einer starken Nachhaltigkeit, sowohl als Instrument der Risikovorsorge als auch als Ressourcenvorsorge bei zu treffenden Entscheidungen über erhebliche Umweltauswirkungen Anwendung finden muss.

Regionale oder lokale Trends radioaktiver Umweltkontaminationen, die ohne geeignete Maßnahmen zu radiologisch relevanten Kontaminationen führen können, sollen daher unter dem Aspekt der Vorsorge bewertet und es soll einer unerwünschten Entwicklung entgegengewirkt werden. Bei einer solchen Bewertung ist die in der Regel begrenzte Dauer von geplanten Ableitungen zu berücksichtigen. Um langfristige Veränderungen der großräumigen bis globalen Konzentrationen von Radionukliden zu vermeiden, die absehbar radiologisch relevant werden können, sollte die Entwicklung der Konzentration langlebiger Radionuklide in Umweltmedien beobachtet werden. Es gibt vielfältige und schon lange bestehende Monitoring-Programme, deren Ergebnisse gezielt auf diesen Aspekt hin ausgewertet werden sollten. Bei der Genehmigung von Anlagen, die einer strahlenschutzrechtlichen Überwachung unterliegen und die Radionuklide in die Umweltmedien ableiten, soll stets geprüft werden, ob durch Umsetzung von Maßnahmen zur Emissionsminderung eine Reduzierung der Freisetzungen im Sinne des ALARA-Prinzips mit vertretbarem Aufwand erreichbar ist.

Fazit: Für die Beurteilung des Schutzes nicht menschlicher Arten sieht es die SSK als ausreichend an, sich auf die zwölf repräsentativen Referenzorganismen und die 75 Radionuklide der ICRP-Publikation 108 zu fokussieren. Durch darüber hinausgehende Betrachtungen würde sich gemäß heutigem Wissensstand kein zusätzlicher und ange­messener Schutz ergeben. Für Umweltbewertungen ist es hilfreich, nuklidspezifische Kontaminationen von Boden, limnischen Gewässern und marinen Gewässern anzugeben, bei denen für alle zwölf RAPs keine nachteiligen Auswirkungen anzunehmen sind. Auch bezogen auf die verschiedenen Expositionssituationen hat die SSK praktikable Empfehlungen zum Schutz nicht menschlicher Arten gegeben. Da der Schutz der Umwelt darüber hinaus alle Umweltmedien sowie den Nachhaltigkeitsgedanken umfassen sollte, hat die SSK Empfehlungen gegeben, wie dies ange­messen umgesetzt werden kann (SSK 2016c).

3.1.8 Geschlechtsspezifische Strahlenempfindlichkeit

In ihrer Empfehlung „Geschlechtsspezifische Unterschiede der Strahlenempfindlichkeit“ bewertet die SSK die epidemiologische, klinische und biologische Datenlage zu diesem Thema (SSK 2009b). Sie stellt dazu fest, dass einschlägige Studien zwar Hinweise auf mögliche geschlechtsspezifische Unterschiede in der Strahlenempfindlichkeit (Endpunkte: Mortalität und Krebs) erbracht haben, dass jedoch eindeutige Beweise dafür fehlen. Die zum Teil in den Stellungnahmen anderer nationaler und internationaler Institutionen zum Ausdruck gebrachte Sicherheit der Aussagen zu einer generell erhöhten Strahlenempfindlichkeit der Frau kann die SSK nach Analyse der Einzelstudien nicht nachvollziehen. Nach sorgfältiger Analyse kommt die SSK daher zu dem Schluss, dass die Berücksichtigung möglicher geschlechtsspezifischer Unterschiede bei der Strahlenempfindlichkeit im Strahlenschutz gegenwärtig nicht notwendig ist. Die SSK sieht allerdings Forschungsbedarf, um mögliche geschlechtsspezifische Unterschiede in der strahleninduzierten Inzidenz von Tumoren in einzelnen Organen und in der Strahlenempfindlichkeit von Gesamtorganismen sicher nachzuweisen und auf der Grundlage der molekularen, zellulären und geweblichen Reaktionen auf Bestrahlung zu verstehen.

In den Jahren seit der Stellungnahme der SSK sind einige wenige Studien zu diesem Thema veröffentlicht worden. Narendran et al. 2019 kommen in ihrem Review zu dem Schluss, dass „available data suggest that long-term radiosensitivity in women is higher than that in men“. Sie zitieren unter anderem eine Untersuchung zu den Auswirkungen des Reaktorunfalls in Tschernobyl, die Hinweise auf eine etwa 2,5-fach höhere Inzidenz von Schilddrüsen-Tumoren bei Frauen im Vergleich zu Männern in kontaminierten Gebieten gibt, wobei allerdings dosimetrische Informationen fehlen (Yablokov et al. 2009). Eine Studie zur Krebsinduktion durch Plutonium-Inkorporation unter den in Mayak Beschäftigten zeigt deutlich erhöhte zusätzliche Relative Risiken bei Frauen im Vergleich zu Männern: zweifach für Lungenkrebs, zehnfach für Leberkrebs, und vierfach für Knochenkrebs (Hunter et al. 2013). Eine neuere Arbeit der gleichen Gruppe findet jedoch für die anderen Krebsarten zusammengenommen keine Erhöhung des zusätzlichen Relativen Risikos (Sokolnikov et al. 2015). Die aktuelle Analyse der Daten aus Hiroshima und Nagasaki (Brenner et al. 2022) weist wie schon frühere Analysen ebenfalls auf geschlechtsspezifische Unterschiede hin. Das zusätzliche relative Risiko pro 1 Gy für alle soliden Tumoren zusammen war 0,60 und 0,64 für Mortalität und Inzidenz bei Frauen, aber 0,28 für beide Endpunkte bei Männern. Obwohl hinsichtlich der Form der Dosis-Wirkungsbeziehungen für unterschiedliche Tumoren noch Klärungsbedarf besteht (siehe Abschnitt 4.1.1), legen diese Ergebnisse doch nahe, dass es geschlechtsspezifische Unterschiede in Hinsicht auf die strahleninduzierte Karzinogenese tatsächlich gibt. Allerdings ist fraglich, ob daraus Konsequenzen für die Praxis des Strahlenschutzes folgen sollten. Eine Plausibilität für eine geschlechtsspezifische Auswirkung auf das Detriment liegt nämlich nicht vor. Wenn geschlechtsspezifische Risiken für spezielle Karzinome berichtet werden, ist deren Anteil am Detriment entweder sehr gering (z. B. Schilddrüse) oder die Schätzung des geschlechtsspezifischen Unterschieds ist mit erheblicher statistischer, epidemiologischer und teilweise auch diagnostischer Unsicherheit verbunden. Der Faktor 2 im zusätzlichen Relativen Risiko in der LSS-Studie scheint sich nicht in einen ähnlichen Faktor im Detriment zu übersetzen. In der Gesamtschau ist daher aus Praktikabilitätsgründen und im Lichte unzureichender wissenschaftlicher Evidenz ein „geschlechtsspezifischer“ Strahlenschutz auch weiterhin nicht zu rechtfertigen.

Unterschiede bezüglich stochastischer Effekte scheinen sich generell nicht auf Gewebereaktionen übertragen zu lassen. Die Feststellung der SSK aus dem Jahre 2009 (SSK 2009b), dass es sowohl bei Frauen als auch bei Männern keine Evidenz für schwerere Nebenwirkungen einer sachgemäßen Strahlentherapie gibt, scheint nach wie vor zu gelten (Foray und Bourguignon 2019).

Fazit: Die SSK stellt fest, dass einschlägige Studien zwar Hinweise auf mögliche geschlechtsspezifische Unterschiede in der Strahlenempfindlichkeit erbracht haben, dass jedoch eindeutige Beweise dafür fehlen. Die SSK sieht gegenwärtig aus Sicht des Strahlenschutzes keinen Anlass für eine Berücksichtigung möglicher geschlechtsspezifischer Unterschiede bei der Strahlenempfindlichkeit im Strahlenschutz. Sie sieht allerdings Forschungsbedarf, um mögliche geschlechtsspezifische Unterschiede in der strahleninduzierten Inzidenz von Tumoren in einzelnen Organen und in der Strahlenempfindlichkeit von Gesamtorganismen sicher nachzuweisen und auf der Grundlage der Reaktionen auf der Ebene von Molekülen, Zellen und Geweben auf Bestrahlung zu verstehen.

3.2 Fragen zur praktischen Umsetzung

Neben grundsätzlichen Aspekten der Strahlenschutzkonzepte spielen Fragen zur praktischen Umsetzung eine wesentliche Rolle, nicht zuletzt hinsichtlich einer anzustrebenden Nachvollziehbarkeit und Transparenz, die Voraussetzung dafür sind, dass der Strahlenschutz und seine Prinzipien von den in der Praxis Tätigen getragen und vermittelt werden. Dabei stellen die Prinzipien der Rechtfertigung, der Optimierung und der Dosisbegrenzung die zentralen Säulen des Strahlenschutzes dar. In diesem Abschnitt wird eine kurze Übersicht über Empfehlungen der SSK im Hinblick auf Dosisgrenzwerte gegeben

für beruflich strahlenexponierte Personen,
für die Bevölkerung sowie
im Hinblick auf Organdosisgrenzwerte.

Unmittelbar im Zusammenhang hiermit stehende Empfehlungen und Stellungnahmen werden mit einbezogen, soweit notwendig.

3.2.1 Grenzwerte für beruflich strahlenexponierte Personen

Die SSK hat in den letzten zwei Jahrzehnten Empfehlungen erarbeitet, die dem Bereich Grenzwerte für beruflich strahlenexponierte Personen zuzuordnen sind, insbesondere zu den Themen Rechtfertigung von Tätigkeiten, Berechnung von Dosen, Einführung von Dosisrichtwerten sowie zur Begründung der Grenzwerte für beruflich strahlenexponierte Personen. Diese Empfehlungen der SSK gehen in Übereinstimmung mit der ICRP-Publikation 103 (ICRP 2007b) davon aus, dass der Schutz des Menschen und der Umwelt vor den schädigenden Wirkungen ionisierender Strahlung auch weiterhin auf der Grundlage der bewährten Prinzipien Rechtfertigung, Begrenzung und Optimierung aufgebaut sein soll.

Von grundlegender Bedeutung für beruflich strahlenexponierte Personen ist die Empfehlung „Einführung von Dosisrichtwerten (Dose Constraints) zum Schutz vor beruflicher Strahlenexposition bei der Umsetzung der Richtlinie 2013/​59/​Euratom in das deutsche Strahlenschutzrecht“ vom Dezember 2014 (SSK 2014a). Diese Empfehlung bezieht sich auf die Umsetzung der Strahlenschutz-Grundnormen von 2013 (Euratom 2014) und dient zur Ausgestaltung von Dosisrichtwerten für beruflich strahlenexponierte Personen unterhalb von bestehenden Dosisgrenzwerten. Sie behandelt die Fragen, inwieweit bereits bestehende Regelungen zu Dosisrichtwerten beziehungsweise Optimierungsinstrumenten mit den Anforderungen der Grundnormen vereinbar sind, ob und gegebenenfalls unter welchen Randbedingungen durch die Einführung von Dosisrichtwerten im Sinne der Richtlinie 2013/​59/​Euratom im Bereich der Kerntechnik eine Verbesserung des beruflichen Strahlenschutzes zu erwarten ist, und ob und in welchen Bereichen außerhalb der Kerntechnik der berufliche Strahlenschutz durch die Einführung von Dosisrichtwerten oder von anderen in kerntechnischen Anlagen genutzten Optimierungsinstrumenten verbessert werden kann. Sie kommt insbesondere für den Bereich Kernkraftwerke und Anlagen der nuklearen Versorgung zum Ergebnis, dass die bestehenden Regulierungen und Optimierungsinstrumente im radiologischen Arbeitsschutz in diesem Bereich mit den Anforderungen der Richtlinie 2013/​59/​Euratom vereinbar sind und dass über die bestehenden innerbetrieblichen Dosisrichtwerte hinaus keine weiteren Dosisrichtwerte im radiologischen Arbeitsschutz notwendig sind. Weiterhin werden die Bereiche Konditionierungsanlagen, Zwischenlagerung radioaktiver Abfälle, Forschungsinstitute, Radionuklidlaboratorien, Medizin, Beschleuniger, industrielle Radiographie, NORM-Industrie, Transporte radioaktiver Stoffe und fliegendes Personal behandelt, für welche jeweils differenzierte Empfehlungen gegeben werden. In den meisten Fällen gelangt die SSK zu der Auffassung, dass eine Einführung von Dosisrichtwerten kein geeignetes Optimierungsinstrument des Strahlenschutzes darstellen würde, sondern dass vielmehr den Ursachen für gegebenenfalls vorhandene auffällige Abweichungen der Expositionen nachgegangen werden sollte. Diese Empfehlung steht somit in unmittelbarer Beziehung zu Abschnitt 5.9 der ICRP-Publikation 103 (ICRP 2007b) und prüft dessen Ausgestaltung im deutschen Regelwerk beziehungsweise im praktischen Strahlenschutz in Deutschland.

Ebenfalls von grundlegender Bedeutung ist die Empfehlung „Grundlagen zur Begründung von Grenzwerten für beruflich strahlenexponierte Personen“ der SSK vom September 2018 (SSK 2018). Ausgegangen wird von der mit der ICRP-Publikation 103 (ICRP 2007b) übereinstimmenden Feststellung, dass die Grenzwerte mit dem Ziel abgeleitet wurden, schädliche deterministische Effekte zu verhindern und die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von stochastischen Effekten auf ein Maß zu beschränken, das als tolerabel angesehen wird. Die detaillierten Empfehlungen der SSK in dieser Unterlage richten sich auf die Themenfelder Schutzkonzepte und Standards für

Arbeitsplätze mit ionisierender Strahlung sowie mit kanzerogenen Stoffen, für welche eine noch weitergehende Angleichung empfohlen wird,
Begrenzung der Berufslebensdosis, für die in Deutschland eine effektive Dosis von 400 mSv gilt und deren prinzipielle Beibehaltung empfohlen wird, jedoch unter Fortführung der Diskussion über die Höhe des Grenzwerts,
Begrenzung der jährlichen Dosis, die seit mehr als 20 Jahren unverändert bei 20 mSv im Jahr liegt und deren Beibehaltung empfohlen wird,
die Identifizierung von Handlungsbedarf, worunter insbesondere Anstrengungen zur Verringerung der bestehenden Unsicherheiten bei der Quantifizierung der Risiken ionisierender Strahlung und Erhöhung der Transparenz der Abschätzungs- und Entscheidungsverfahren zur Verbesserung der Nachvollziehbarkeit von getroffenen Maßnahmen des Risikomanagements verstanden werden.

In diesem Sinne führt diese Empfehlung der SSK (SSK 2018) die ICRP-Publikation 103 (ICRP 2007b) fort und interpretiert sie für die spezifische deutsche Situation (zum Beispiel bezüglich der Berufslebensdosis, welche eine Erweiterung des Konzepts der ICRP darstellt), weicht jedoch nicht von den Grundlagen der ICRP ab.

In direktem Zusammenhang hiermit steht die Empfehlung der SSK „Krebsrisiko durch mehrjährige Expositionen mit Dosen im Bereich des Grenzwertes für die Berufslebensdosis nach § 56 StrlSchV“ vom April 2007 (SSK 2007). Untersucht wird hierin die Frage des Krebsrisikos für Personen, die innerhalb vergleichsweise kurzer Zeit (z. B. durch medizinische Behandlung) Dosen im Bereich der Berufslebensdosis von 400 mSv erhalten, um hieraus Rückschlüsse auf den Grenzwert für die Berufslebensdosis nach § 56 StrlSchV (2001) ziehen zu können. Aus den ausgewerteten Studien zum Krebsrisiko wird der Schluss gezogen, dass nach länger andauernder Exposition mit einer Gesamt-Dosis im Bereich des Grenzwertes der Berufslebensdosis Hinweise auf ein erhöhtes Krebsrisiko bestehen und keine Hinweise darauf bestehen, dass der Risikokoeffizient niedriger wäre als für die akuten Expositionen der Atombombenüberlebenden. Aus Sicht der SSK (SSK 2014b) schließen die Ergebnisse den Wert 2 für den DDREF, wie er von der ICRP empfohlen wird, zwar nicht aus, jedoch weisen sie unter bestimmten Randbedingungen eher darauf hin, dass kein DDREF für Exposition durch niedrige Dosisleistungen verwendet werden sollte. Dies nimmt die SSK zum Anlass, die Beibehaltung eines Reduktionsfaktors für das Krebsrisiko nach Exposition durch niedrige Dosisleistungen nicht zu empfehlen (vergleiche Abschnitt 3.1.1). Mit diesem Inhalt steht diese Empfehlung im Widerspruch zu den Festlegungen in der ICRP-Publikation 103, worin die ICRP ihrer Überzeugung Ausdruck verleiht, „dass die Annahme des LNT-Modells in Verbindung mit einem begründeten Dosis- und Dosisraten-Effektivitätsfaktor (DDREF) eine belastbare Grundlage für die praktischen Zwecke des Strahlenschutzes darstellt, d. h. das Management von Risiken durch Strahlenexpositionen im Bereich kleiner Dosen“, und dass die ICRP „keinen zwingenden Grund [sieht], ihre Empfehlungen eines DDREF von 2 aus dem Jahr 1990 zu verändern“.

In der hiermit unmittelbar zusammenhängenden Empfehlung Dosis- und Dosisleistungs-Effektivitätsfaktor (DDREF) vom Februar 2014 (SSK 2014b) befasst sich die SSK auf Basis einer Sichtung des aktuellen Standes der Wissenschaft noch einmal mit dem DDREF, nachdem UNSCEAR und WHO diesen in neueren Publikationen nicht angewendet haben. Ausgewertet wurden strahlenbiologische und strahlenepidemiologische Studien und es wurden weitere strahlenschutzrelevante Kriterien zur Beurteilung des DDREF herangezogen. In ihrer zusammenfassenden Beurteilung kommt die SSK zu der Aussage, dass auf Grundlage der ausgewerteten Untersuchungen kein einheitliches Bild zum DDREF gegeben werden kann. Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse sieht die SSK keine ausreichende Begründung mehr für den im Strahlenschutz verwendeten DDREF und empfiehlt, diesen nicht mehr zu verwenden. Die SSK regt gleichzeitig eine internationale Abstimmung in diesen Fragen an. Somit wird die zuvor genannte, von der ICRP-Publikation 103 (ICRP 2007b) abweichende Position der SSK (SSK 2014b) hinsichtlich des DDREF bestätigt (vergleiche Abschnitt 3.1.1).

Im Hinblick auf die Berechnung der Körperdosen unter anderem für beruflich strahlenexponierte Personen ist auch die Berechnungsgrundlage für die Ermittlung von Körper-Äquivalentdosen bei äußerer Strahlenexposition vom Dezember 2016 zu nennen (SSK 2016a). In dieser Veröffentlichung stellt die SSK die Vorgehensweise zur Berechnung der Dosis bei Photonenstrahlung, Neutronenstrahlung, Elektronenstrahlung und in gemischten Strahlungsfeldern sowie bei Kontamination der Hautoberfläche zusammen. Bei dieser Veröffentlichung handelte sich um die dritte Auflage, in welcher die seit der vorherigen Auflage eingetretenen Änderungen sowohl bei den radiologischen Basisdaten als auch bei den rechtlichen Rahmenbedingungen im Strahlenschutz berücksichtigt wurden. Hierbei werden insbesondere die von der ICRP empfohlene drastische Senkung des Grenzwertes für die Organ-Äquivalentdosis der Augenlinse und die geänderten Strahlungs- und Gewebe-Wichtungsfaktoren aufgeführt. Somit gestaltet diese Veröffentlichung der SSK den durch die ICRP-Publikation 103 (ICRP 2007b) und die hierauf basierenden weiteren Empfehlungen der ICRP gesetzten Rahmen aus.

Auf das grundlegende Prinzip der Rechtfertigung in allen Bereichen des Strahlenschutzes (Tätigkeiten, Arbeiten, medizinische Verfahren und Anwendungen sowie Interventionen) geht die Empfehlung „Kriterien für die Beurteilung von Tätigkeiten und Verfahren im Hinblick auf eine Rechtfertigung“ vom Februar 2006 ein (SSK 2006b). Die grundsätzliche Haltung der SSK, dass die verbindliche Festlegung eines Verfahrens der Rechtfertigung erforderlich ist, steht in voller Übereinstimmung mit der ICRP-Publikation 103 (ICRP 2007b). Nutzen und Schaden der zu rechtfertigenden Handlungen mit ihren Alternativen ohne Strahlung sind gemäß dem Stand von Wissenschaft und Technik unter Berücksichtigung der Strahlenexposition und des damit verbundenen Risikos, den Folgen für die Umwelt sowie den ökonomischen und sozialen Faktoren zu betrachten. Im Umkehrschluss sind planbare menschliche Handlungen, die eine Strahlenexposition von Mensch und Umwelt zur Folge haben und als nicht gerechtfertigt eingeschätzt werden, nach Gesetzeslage in Deutschland nicht zulässig.

In diesem Kontext ebenfalls zu nennen ist die Empfehlung der SSK „Organisatorische Voraussetzungen für einen erfolgreichen betrieblichen Strahlenschutz“ vom Februar 2020 (SSK 2020b). Hierin befasst sich die SSK mit der Frage, unter welchen Umständen die Einführung eines formalisierten „Management-Systems“ sinnvoll und erforderlich ist, um den Strahlenschutz in einer Organisation umfassend, wirksam und effektiv durchzusetzen, welche Anforderungen an ein solches System zu stellen sind und welche Vorgaben und Anforderungen zweckmäßig sind, um die gute Zusammenarbeit mehrerer für die Erfüllung einer Pflicht oder zusammenhängender Pflichten zuständiger Strahlenschutzbeauftragter sicherzustellen. Die diesbezüglichen Fragestellungen werden in der ICRP-Publikation 103 (ICRP 2007b) insbesondere in Abschnitt 5.5 sowie im Detail in Abschnitt 6.6 behandelt. Mit dieser Empfehlung gibt die SSK Vorgaben für eine erfolgreiche Implementierung des Strahlenschutzes und somit zur Einhaltung von Grenzwerten für beruflich strahlenexponierte Personen, die im Einklang zur ICRP-Publikation 103 stehen.

Fazit: Es sollten weiterhin Anstrengungen zur Harmonisierung der Begrifflichkeiten und Konzepte zur Ableitung von Grenzwerten sowie zur Festlegung von Verfahren zur Abschätzung und Bewertung von gesundheitlichen Risiken an unterschiedlichen Arbeitsplätzen unternommen werden.

Die Begründung für den gegenwärtigen 5-Jahres-Grenzwert von 100 mSv effektiver Dosis sollte nach Auffassung der SSK überprüft werden, insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich zwar die wissenschaftliche Evidenz zur Bewertung strahlenbedingter gesundheitlicher Risiken in diesem Dosisbereich nicht verändert hat, die gesellschaft­liche Bewertung der Risiken aber durchaus Veränderungen unterworfen ist. In offener Diskussion sollte unter Berücksichtigung sowohl wissenschaftlicher als auch gesellschaftlicher Aspekte ein Konsens darüber angestrebt werden, welche Risiken durch berufliche Expositionen als tolerabel gelten sollten.

Das gegenwärtige Strahlenschutzsystem sieht keine Begrenzung der Berufslebensdosis vor. Die SSK schlägt vor, Überlegungen anzustellen, ob die Einführung eines Dosisgrenzwerts für die Berufslebenszeit eine sinnvolle Ergänzung zum bestehenden Jahres-Dosisgrenzwert beziehungsweise 5-Jahres-Dosisgrenzwert sein könnte.

3.2.2 Grenzwerte für die Bevölkerung

Zur Bewertung des aktuell gültigen Grenzwerts für die Exposition von Personen der Bevölkerung von 1 mSv pro Jahr als Folge geplanter Tätigkeiten erarbeitet eine Arbeitsgruppe der SSK eine Stellungnahme zu den „Grundlagen zur Begründung von Grenzwerten der Strahlenexposition für die Bevölkerung“. In dieser Stellungnahme werden zunächst die Dosen, die durch geplante Strahlenexpositionen durch anthropogene Quellen in der Bevölkerung in Deutschland auftreten, zusammengestellt. Die rechnerisch bestimmten effektiven Dosen liegen um mindestens zwei Größenordnungen unter dem Grenzwert von 1 mSv pro Jahr, und außerdem überschätzen diese Berechnungsverfahren die realen Expositionen. Ferner wird der aktuelle Stand der Wissenschaft hinsichtlich der einer effektiven Dosis zuzuordnenden Krebsinzidenzrisiken dargestellt. Es liegt hinreichende Evidenz vor, um Krebsrisiken durch Expositionen durch Röntgen- und Gammastrahlung mit einer jährlichen Dosis von 3 mSv über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten abschätzen zu können, woraus Aussagen bezüglich einer längerfristiger Exposition mit einer jährlichen Dosis in Höhe des Dosisgrenzwertes extrapoliert werden. Da eine solche Abschätzung jedoch mit einer großen Unsicherheit behaftet ist, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht solide bestimmt werden kann, wird der Schluss gezogen, dass eine Verringerung des Grenzwertes keine zusätzliche Schutzwirkung der Bevölkerung bewirken würde. Mit dieser Stellungnahme bestätigt die SSK die aktuelle Grenzwertsetzung der ICRP.

In direktem Zusammenhang hierzu stehen zwei Empfehlungen der SSK, die sich mit den Methoden, wie die Strahlenexposition ermittelt werden soll, befassen. Dies sind einerseits die Empfehlung „Ermittlung der Strahlenexposition“ vom September 2013 (SSK 2013) und andererseits die Empfehlung „Umsetzung des Dosisgrenzwertes für Einzel­personen der Bevölkerung für die Summe der Expositionen aus allen zugelassenen Tätigkeiten“ vom Februar 2015 (SSK 2015b). Beide Empfehlungen behandeln Anforderungen an den Grad an Realität bei der Ermittlung der Strahlenexposition auf der Grundlage radioökologischer Modellierungen, wobei die letztgenannte Empfehlung die konkrete Ausgestaltung einzelner Berechnungsschritte und Modellannahmen beinhaltet und zur Vorbereitung der „AVV Tätigkeiten“ (BMU 2020) diente. Beide Empfehlungen stehen somit im Einklang mit der ICRP-Publikation 103 (ICRP 2007b) und setzen Anforderungen der ICRP-Publikation 101a (Representative Person) um (ICRP 2006).

Im Kontext zu Grenzwerten der Bevölkerung zu nennen ist die Empfehlung „Abgeleitete Richtwerte für Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung bei Ereignissen mit Freisetzungen von Radionukliden“ vom Oktober 2019 (SSK 2019), in welcher insbesondere die Entwicklung abgeleiteter Richtwerte (OILs) als Auslösekriterium für Eingreifrichtwerte für frühe Maßnahmen bei Notfällen und radiologischer Kriterien und abgeleiteter Richtwerte zur (gegebenenfalls schrittweisen) Aufhebung von Maßnahmen in Notfall- und bestehenden Expositionssituationen im Vordergrund standen. Die diversen abgeleiteten Richtwerte für kurze und längere Zeiträume sowie für das Auslösen verschiedener Schutzmaßnahmen stehen im Einklang mit den Empfehlungen in Abschnitt 6.2 der ICRP-Publikation 103 (ICRP 2007b).

Fazit: Es wird angeregt, die ICRP bei der Überarbeitung der Grundsatzempfehlung zu bitten, die Begründung für die Wahl des Wertes 1 mSv pro Jahr als Übergang zwischen der untersten und der mittleren Bandbreite der Dosisricht- und Referenzwerte (Tabelle 5 in ICRP-Publikation 103) und für die Wahl der Dosisbegrenzung für Personen der Bevölkerung klarer zu formulieren. Insbesondere sollte hierbei auf den potenziellen Nutzen oder die potenziellen Nachteile einer Absenkung dieses Wertes eingegangen werden, wobei alle Aspekte des Strahlenschutzes und des hiermit verbundenen Aufwandes (einschließlich der Anpassung der Regelungen für beruflich strahlenexponierte Personen) einbezogen werden sollten.

3.2.3 Organdosisgrenzwerte

Als aktuelle und wesentliche Publikation der SSK zur Anwendung von Organdosisgrenzwerten ist die Empfehlung „Grenzwerte der Organ-Äquivalentdosen für die berufliche Strahlenexposition“ vom Dezember 2020 (SSK 2020a) anzusehen. Hierin wird empfohlen, auf eine Begrenzung von Organ-Äquivalentdosen zu verzichten, die über die in der Richtlinie 2013/​59/​Euratom (Strahlenschutz-Grundnormen) (Euratom 2014) enthaltenen Grenzwerte der Organdosis hinausgeht, wie dies bereits im Strahlenschutzgesetz (StrlSchG) umgesetzt ist. Grundlage dieser Empfehlung ist die Erkenntnis, dass bei Einhaltung der Grenzwerte der effektiven Dosis und der Organ-Äquivalentdosis in Augenlinse, Haut und Extremitäten keine Evidenz dafür vorliegt, dass in den übrigen Organen bei den maximal resultierenden Organ-Äquivalentdosen strahlenbedingte Erkrankungen auftreten können, die weder Krebs noch benigne Tumoren oder vererbbare genetische Erkrankungen sind. Mit dieser Empfehlung prüft die SSK das Dosimetriekonzept nach ICRP-Publikation 103 (ICRP 2007b) für die konkrete Anwendung im Rahmen des deutschen Strahlenschutzrechts. Die in dieser SSK-Empfehlung erarbeiteten Grundlagen bildeten auch die Basis für die Aufgabe von Vorgaben für Grenzwerte für Organdosen bei der Berechnung radiologischer Folgen von Ableitungen im Normalbetrieb, wie sie in der „AVV Tätigkeiten“ (BMU 2020) beschrieben sind.

Für die beiden konkreten Organe Augenlinse und Haut liegen die Empfehlungen „Überwachung der Augenlinsen-Äquivalentdosis“ vom Juli 2015 (SSK 2015a) und „Grenzwerte für die Strahlenexposition der Haut beim beruflichen Umgang mit ionisierender Strahlung“ vom Oktober 2011 (SSK 2011) vor. Die erstgenannte Empfehlung befasst sich vornehmlich mit dem messtechnischen Nachweis und der Eignung der verschiedenen Dosismessgrößen für die Messung der Augenlinsen-Äquivalentdosis, nicht mit dem Organdosisgrenzwert für die Augenlinse. Die letztgenannte Empfehlung kommt zu dem Schluss, dass eine Änderung der bestehenden Begrenzung der Organdosis für die Haut zusammen mit der Begrenzung der effektiven Dosis nicht angezeigt erscheint und steht daher in dieser Hinsicht im Einklang mit der zuvor genannten Empfehlung „Grenzwerte der Organ-Äquivalentdosen für die berufliche Strahlenexposition“ sowie den Empfehlungen der ICRP-Publikation 103 (ICRP 2007b).

Fazit: Der aktuelle Stand des Regelwerks bezüglich der Vorgabe von Organdosisgrenzwerten steht im Einklang mit der ICRP-Publikation 103 (ICRP 2007b). Da in Deutschland aktuell kein weiterer Änderungsbedarf an diesem Stand erkennbar ist, bestehen in dieser Hinsicht keine Vorschläge an die ICRP bezüglich der Überarbeitung der Grundsatzempfehlung.

3.2.4 Operational Intervention Levels (OILs)

In ICRP-Publikation 103 (ICRP 2007b) wird für die Festlegung eines Referenzwertes in einer Notfallexpositionssituation ein Wert von 20 mSv bis 100 mSv verbleibende effektive Dosis im ersten Jahr vorgeschlagen. Es werden für den Anwender jedoch kaum Hinweise gegeben, welcher Wert abhängig von Ausmaß und Schwere der in Betracht gezogenen Schutzmaßnahmen verhältnismäßig und gerechtfertigt ist. Das kann dazu führen, dass inadäquate Referenzwerte angewendet und damit schwerwiegende Eingriffe in das Leben von Personen der allgemeinen Bevölkerung begründet werden. Aus Sicht der SSK (SSK 2019) ist das zum Beispiel bei den Umsiedlungsmaßnahmen nach Fukushima der Fall, wo die Behörden sich auf einen Referenzwert von 20 mSv verbleibende effektive Dosis festgelegt haben, also dem untersten Wert der empfohlenen Bandbreite. Bei der Bewältigung der radiologischen Folgen durch Schutzmaßnahmen scheint sich Japan in erster Linie für restriktive abgeleitete Richtwerte entschieden zu haben, wohl mit der Erwartung, auf diese Weise eher das Vertrauen der Bevölkerung gewinnen zu können. Weitere Beispiele dafür sind die verschärften Nahrungsmittel-Höchstwerte und die in Japan verwendeten Abfallkriterien bei Dekontaminationsmaßnahmen. Es entspricht zwar der im Strahlenschutz sehr gängigen Vorgehensweise, durchgehend konservative Annahmen zu treffen. Gleichwohl kann hierdurch die geforderte Verhältnismäßigkeit und Rechtfertigung von Schutzmaßnahmen bei radiologischen Notfällen in Frage gestellt werden.

Als Ergänzung hierzu dient ein Zitat aus der Empfehlung der SSK „Abgeleitete Richtwerte für Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung bei Ereignissen mit Freisetzungen von Radionukliden“ (SSK 2019):

„In einer Notfallexpositionssituation und nach Übergang zu einer bestehenden Expositionssituation gilt jeweils ein übergeordneter Referenzwert für die verbleibende Dosis pro Jahr. Der Referenzwert für Notfallexpositionssituationen ist gemäß ICRP 103 anfänglich im Bereich 20 mSv bis 100 mSv verbleibende effektive Dosis im ersten Jahr festzulegen. Da zu den in Betracht kommenden Schutzmaßnahmen auch sehr schwerwiegende Eingriffe wie z. B. Umsiedlung zählen, hat die SSK gemäß den Radiologischen Grundlagen (SSK 2014c) einen oberen Referenzwert von 100 mSv verbleibende effektive Dosis im ersten Jahr festgelegt. Dieser Wert ist auch in § 95 StrlSchG (StrlSchG 2017) übernommen worden. Er kann aber im weiteren Verlauf einer Notfallsituation mit der Zielsetzung einer Optimierung herabgesetzt werden. Für bestehende Expositionssituationen muss ein Referenzwert von maximal 20 mSv verbleibende Dosis pro Jahr durch die zuständige Behörde festgesetzt werden, wobei die Zielsetzung besteht, diesen im Laufe der Zeit auf Werte in Richtung von 1 mSv a-1 effektive Dosis zu erniedrigen.“

Zur Ergänzung zum Thema „Umsiedlung“ kann ebenfalls ein Zitat aus Abschnitt 5.6 der Empfehlung der SSK „Abgeleitete Richtwerte für Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung bei Ereignissen mit Freisetzungen von Radionukliden“ (SSK 2019) herangezogen werden:

„Überlegungen zur Anordnung der Schutzmaßnahme „Umsiedlung“

Die Maßnahme „Umsiedlung“ geht in ihrer Konsequenz über die Maßnahme „Evakuierung“ weit hinaus. „Umsiedlung“ bezeichnet die Verlegung der Bevölkerung eines Gebiets in der Nachunfallphase; sie wirkt damit nur noch gegen die äußere Bestrahlung vom Boden und die Inhalation von in die Atemluft resuspendierten radioaktiven Stoffen. Sie stellt einen über einen längeren Zeitraum andauernden sehr schwerwiegenden Eingriff in das private, gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben dar. Daher ist eine Entscheidung nicht nur auf der Basis radiologischer Gesichtspunkte zu treffen, ebenso müssen nicht-radiologische Aspekte berücksichtigt werden. Im Folgenden werden nur die radiologischen Aspekte betrachtet:

Die Entscheidung über die Schutzmaßnahme „Umsiedlung“ sollte erst dann fundiert erfolgen, wenn die radiologische Lage erfasst ist. Diese ist bestimmt durch die Höhe und räumliche Verteilung der Kontamination durch trocken oder nass (Niederschlag) abgelagerte Radionuklide und deren für eine Exposition ausschlaggebende Eigenschaften wie Halbwertszeit, emittierte (z. B. durchdringende) Strahlung, Verhalten in der Biosphäre etc. Die über längere Zeiten wirksame externe Strahlung durch gamma-emittierende Radionuklide ist für die Exposition der Bevölkerung maßgeblich. In Gebieten, in denen bereits zu einem früheren Zeitpunkt eine „Evakuierung“ erfolgt ist, kann diese zunächst kurzfristige Maßnahme in eine „Umsiedlung“ übergehen. Nach Erfassung der entstandenen radiologischen Lage kann über Umsiedlung auf einer wesentlich fundierteren Grundlage mit geringerer Eilbedürftigkeit entschieden werden als über die kurzfristig oder gar vorbeugend zu ergreifenden Maßnahmen wie „Evakuierung“, da mit der Maßnahme Umsiedlung, die über längere Zeitdauern akkumulierten Strahlendosen über externe Exposition durch Gammastrahlung begrenzt werden soll.

Primärer radiologischer Maßstab bei dieser für die betroffene Bevölkerung sehr schwerwiegenden Schutzmaßnahme ist die zu erwartende verbleibende effektive Dosis für repräsentative Personen im ersten Jahr. Ein abgeleiteter Richtwert für die Schutzmaßnahme „Umsiedlung“ wird in dieser Empfehlung nicht festgelegt. Das wird damit begründet, dass in die Entscheidungsfindung über die Durchführung dieser schwerwiegenden Maßnahme diverse erst im Ereignisfall erkennbare Einflussgrößen eine gewichtige Rolle spielen können, wie z. B. Charakteristika des betroffenen Gebietes, zeitliche Entwicklung der ODL in Abhängigkeit von den maßgeblichen Radionukliden der Kontaminationssituation, die Berücksichtigung möglicher Dekontaminationsmaßnahmen und Verhaltensempfehlungen, Reaktionen der Bevölkerung oder soziopsychologische Aspekte, die die Durchführbarkeit der Maßnahme beeinflussen.

Stattdessen werden im Folgenden Hinweise gegeben, welche Gesichtspunkte und Abwägungen aus Sicht des radiologischen Notfallschutzes für die Entscheidung über die Maßnahme „Umsiedlung“ wichtig sind.

Als radiologisches Kriterium für die Maßnahme „Umsiedlung“ ist für das erste Jahr nach Eintritt der Kontaminationssituation der Referenzwert für die verbleibende Dosis von 100 mSv im ersten Jahr die geeignete Vergleichsgröße. Referenzwerte für die folgenden Jahre werden im Voraus nicht festgelegt. Für die Entscheidungsfindung über die Maßnahme „Umsiedlung“ wird die über alle Expositionspfade im ersten Jahr zu erwartende effektive Dosis ermittelt und dem Referenzwert gegenübergestellt. Der Ingestionspfad muss nicht berücksichtigt werden, da vorausgesetzt werden kann, dass genügend nicht oder nur schwach kontaminierte Lebensmittel zur Verfügung stehen. Die Ermittlung dieser verbleibenden Dosis im Verlauf des ersten Jahres sollte möglichst realitätsnah erfolgen und den Einfluss von durchgeführten Schutzmaßnahmen und gängigen Verhaltensweisen der Bevölkerung einbeziehen. Dabei kommt für das jeweilige Gebiet der Bestimmung einer in Bezug auf Aufenthaltsorte und Aufenthaltszeiten repräsentativ ermittelten Dosis besondere Bedeutung zu. Wesentlichen Einfluss auf die Modellierung der Exposition von Personen hat die Annahme, welche Zeit repräsentative Personen im Mittel im betrachteten kontaminierten Gebiet im Freien verbringen.“

3.2.4.1 Abgeleitete Richtwerte (OILs)

Abgeleitete Richtwerte sind im Allgemeinen leicht zugängliche Messgrößen, die für die Entscheidung über angemessene Maßnahmen geeignet sind.

Für diese Entscheidungen zu Schutzmaßnahmen bei Notfallexpositionssituationen und bei bestehenden Expositionssituationen werden abgeleitete Richtwerte (OILs) benötigt. In ICRP-Publikationen findet sich dieser Begriff nicht.

In der Empfehlung der SSK „Abgeleitete Richtwerte für Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung bei Ereignissen mit Freisetzungen von Radionukliden“ (SSK 2019) wird die Vorgehensweise zur Ermittlung von abgeleiteten Richtwerten für eine Reihe von Schutzmaßnahmen ausführlicher behandelt.

3.2.4.2 Festlegung von abgeleiteten Richtwerten (OILs) für Schutzmaßnahmen

Hier ist wichtig, dass der gewählte Richtwert der Dosis so festgelegt wird, dass die Schutzmaßnahme zu einem verhältnismäßigen und gerechtfertigten Strahlenschutz führt. Hierbei muss deutlich zwischen Richtwerten und Grenzwerten unterschieden werden. ICRP-Publikation 103 (ICRP 2007b) differenziert ganz eindeutig zwischen Grenzwerten bei geplanten Tätigkeiten und Richtwerten bei radiologischen Ereignissen, die zu einer Notfall- und bestehenden Expositionssituation führen.

Mit Bedacht ist bei der Empfehlung der SSK zu abgeleiteten Richtwerten (SSK 2019) der Begriff „Richtwert der Dosis“ verwendet worden, um zu verdeutlichen, dass es sich um einen Richtwert und z. B. keinen Grenzwert handelt.

3.2.4.3 Modellierung der Expositionspfade

Hier ist entscheidend, dass bei der Modellierung der einschlägigen Expositionspfade möglichst realitätsnahe Annahmen und Parameter zur Anwendung kommen. Das stellt einige im Strahlenschutz Tätigen insofern vor Probleme, als sie gewohnt sind, bei Analysen zu geplanten Expositionen bevorzugt konservative Annahmen zu treffen. Es kommt hinzu, dass es vielfach leichter ist, konservative Annahmen und Parameter anzuwenden und zu rechtfertigen. Realitätsnahe Annahmen und Parameterfestlegungen erfordern demgegenüber höheren Aufwand und Kompetenz.

Fazit: Abgeleitete Richtwerte sind im Allgemeinen leicht zugängliche Messgrößen, die für die Entscheidung über angemessene Maßnahmen geeignet sind. Für Entscheidungen zu Schutzmaßnahmen bei Notfallexpositionssituationen und bei bestehenden Expositionssituationen werden abgeleitete Richtwerte (OILs) benötigt. In ICRP-Publikationen findet sich dieser Begriff nicht. Es ist wichtig, dass der gewählte Richtwert der Dosis so festgelegt wird, dass die Schutzmaßnahme zu einem verhältnismäßigen und gerechtfertigten Strahlenschutz führt. Dies hat die Verwendung von realitätsnahen Annahmen und Parametern bei der Modellierung eines Expositionspfads als Voraussetzung.

4 Von der SSK zur weiteren Bearbeitung zusätzlich identifizierte Themenfelder

4.1 Grundsatzfragen

In weiten Kreisen des Strahlenschutzes wurde in den letzten Jahren trotz Anerkennung der unbestreitbaren Erfolge über eine Verbesserung und Anpassung des Strahlenschutzes an aktuelle Entwicklungen nachgedacht und es werden durchaus Defizite in einzelnen Bereichen gesehen. Diese betreffen sowohl fachliche Aspekte des Regelwerkes, seiner Umsetzung und Kommunikation als auch – als Folge der Kommunikation – die Wahrnehmung von Radioaktivität, Strahlung und deren Wirkung sowie insbesondere die Akzeptanz von Maßnahmen des Strahlenschutzes in der Gesellschaft.

Die SSK nimmt diese kritischen Diskussionen ernst und sieht folgende Punkte als relevant für die zukünftige Entwicklung des Strahlenschutzes an:

Das Strahlenschutzsystem ist im Laufe der Jahrzehnte immer komplexer geworden; es sollte geprüft werden, ob nicht in wesentlichen Fragen eine Vereinfachung möglich ist.
Größen und Einheiten im Strahlenschutz und die Unterscheidung von Schutzgrößen und operativen Größen müssen klar erläutert werden.
Das System von Grenzwerten, Richtwerten und Referenzwerten und die Einordnung dieser Werte in die verschiedenen Expositionssituationen muss klar beschrieben und gut begründet werden.
Gerade die Rolle der Dosisrichtwerte (dose constraints) muss überzeugend dargelegt werden, um Missverständnisse zu vermeiden.
Es muss mehr Klarheit geschaffen werden, was in den verschiedenen Expositionssituationen als tolerabel beziehungsweise ohne weitere Optimierung nach dem ALARA-Prinzip als akzeptabel gelten soll.
Es sollten Hilfen entwickelt werden, wie die Grundlagen des Strahlenschutzes wissenschaftlich korrekt und dennoch allgemein verständlich kommuniziert werden können (z. B. die unterschiedlichen Dosis-Risiko-Modelle – insbesondere das LNT-Modell – gerade auch vor dem Hintergrund der großen Unsicherheiten).
Zweck, Möglichkeiten und vor allem Grenzen von epidemiologischen Studien bei der Beurteilung von Risiken niedriger Strahlendosen sollten aufgezeigt werden.
Nicht gerechtfertigte Konservativitäten sollten vermieden werden.
Die ICRP sollte vermeiden, Empfehlungen auszusprechen, bevor sich ein breiter wissenschaftlicher Konsens herausgebildet hat (problematische Beispiele aus der Vergangenheit: Radon, Katarakt, Schutz der Umwelt).
Die Risiken durch Inkorporation im Vergleich zu denjenigen durch externe Bestrahlung müssen verständlich erklärt werden.
Die Lehren aus dem Unfall von Fukushima Dai-ichi, wie sie umfassend von UNSCEAR und der SSK dargestellt worden sind, sollten in zukünftige Empfehlungen einfließen.

4.1.1 Das LNT-Modell

Viele Entscheidungen im Strahlenschutz hängen von der Abschätzung des mit einer bestimmten Dosis einhergehenden stochastischen Risikos ab, insbesondere des Risikos der Krebsentstehung oder -mortalität. Für mittlere und hohe effektive Dosen, etwa oberhalb von 50 mSv bis 100 mSv, liegen einigermaßen robuste Daten aus der Langzeitstudie der Atombombenüberlebenden von Hiroshima und Nagasaki und anderen epidemiologischen Untersuchungen vor (z. B. Ozasa et al. 2012, Grant et al. 2017). Im Strahlenschutz sind aber in der Regel niedrige Dosen in der Größenordnung von einigen Millisievert von Interesse, über deren mögliche Wirkung weit weniger gesicherte Erkenntnisse bestehen. Es ist daher unumgänglich, für das stochastische Risiko in diesem Dosisbereich bestimmte Annahmen zu machen, zu denen vor allem die Extrapolierbarkeit von höheren zu niedrigen Dosen gehört. Das überwiegend zugrunde gelegte Modell ist das der linearen Dosisabhängigkeit ohne Schwellendosis, das heißt es wird angenommen, dass das Krebsrisiko proportional mit der Dosis ansteigt, ohne dass es eine Dosis gibt, bei der gar kein Risiko besteht (linear non-threshold model – LNT).

Die ICRP hat bereits vor mehr als 50 Jahren in ihrer Publikation 9 (ICRP 1966) die Annahme einer solchen Dosisabhängigkeit empfohlen: „…as the existence of a threshold dose is unknown, it has been assumed that even the smallest doses involve a proportionately small risk of induction of malignancies.“ Diese Annahme hat sich seither nicht verändert, auch wenn die zur Begründung angeführten Argumente nicht immer die gleichen waren. In ihrer Publikation 103 (ICRP 2007b) schreibt die ICRP: „The LNT model is not universally accepted as biological truth, but rather, because we do not actually know what level of risk is associated with very-low-dose exposure, it is considered to be a prudent judgement for public policy aimed at avoiding unnecessary risk from exposure.“ Es geht hier also weniger um die wissenschaftliche Evidenz für die Extrapolierbarkeit des Krebsrisikos von höheren zu niedrigen Dosen als um eine pragmatische Annahme, die einerseits wohl eine gewisse Plausibilität besitzt, andererseits den ethischen Grundsatz der „prudence“ im Sinne von Vorsicht oder Umsicht (auch Besonnenheit, Mäßigung) widerspiegelt (ICRP 2018b).

Die SSK hat eine solche Verwendung des LNT-Modells immer wieder befürwortet und ihren eigenen Erwägungen zugrunde gelegt. So werden zum Beispiel in der Empfehlung „Grundlagen zur Begründung von Grenzwerten für beruflich strahlenexponierte Personen“ (SSK 2018) eine Reihe von neueren Studien besprochen, in denen nicht nur die Risikoabschätzungen für die Atombombenüberlebenden aktualisiert, sondern auch Daten aus weitere Kohorten in ähnlicher Weise analysiert wurden. Zu diesen Kohorten gehörten unter anderem über 20 000 Beschäftigte in der russischen Nuklearanlage von Mayak (Hunter et al. 2013, Sokolnikov et al. 2015), fast 60 000 Beschäftigte in der französischen Nuklearindustrie (Metz-Flamant et al. 2013), über 300 000 Beschäftigte der französischen, britischen und US-amerikanischen Nuklearindustrie (Leuraud et al. 2015) sowie 30 000 Anwohnende des Flusses Techa in Russland, die durch Radioaktivität im Trinkwasser einer chronischen Strahlenexposition ausgesetzt waren (Schonfeld et al. 2013, Davis et al. 2015). Während die Mayak-Studie das zusätzliche relative Risiko als etwas geringer einschätzt als die Studie von Hiroshima und Nagasaki, stützen die Ergebnisse der anderen Studien weitgehend die bisherige Abschätzung. Das ist nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt bemerkenswert, als es bei den genannten Kohorten nicht um akute Bestrahlung ging wie in Hiroshima und Nagasaki, sondern um unregelmäßige Exposition mit geringen Teildosen beziehungsweise eine chronische Exposition über viele Jahre hinweg. Die Ergebnisse müssen daher auch im Zusammenhang mit dem bisher angenommenen Dosis- und Dosisleistungs-Effektivitätsfaktor diskutiert werden (siehe Abschnitt 3.1.1). Im Hinblick auf die Annahme einer linearen Dosisabhängigkeit ohne Schwellendosis ist auf jeden Fall von Bedeutung, dass keine der neueren Studien auf Abweichungen von der Linearität hinweist, wobei allerdings eine Schwellendosis im Bereich unterhalb von 50 mSv bis 100 mSv wegen der relativ großen statistischen Unsicherheiten auch nicht ausgeschlossen werden kann.

Von der SSK bisher nicht diskutiert worden sind Synthesen und Meta-Analysen, die in den letzten fünf Jahren veröffentlicht wurden (Überblick bei Rühm et al. 2022). So kam z. B. das US National Council on Radiation Protection and Measurements (NCRP) zu dem Schluss: „The most recent epidemiologic studies show that the assumption of a dose-threshold model is not [just] a prudent pragmatic choice for radiation protection purposes. The consistency of the better-designed and larger studies with dose-response functions that are essentially linear or LQ, argues for some risk at low doses“ (Shore et al. 2018). Ähnlich argumentierten die Autoren einer vom US National Cancer Institute herausgegebenen Monographie: „…new epidemiological studies directly support excess cancer risks from low-dose ionizing radiation. Furthermore, the magnitude of the cancer risks from these low-dose radiation exposures was statistically compatible with the radiation dose-related cancer risks of the atomic bomb survivors“ (Hauptmann et al. 2020). Weniger eindeutig waren die Schlussfolgerungen einiger Studien, die sich mit der Dosisabhängigkeit für einzelne Krebsentitäten beschäftigten. Während es keinen Hinweis auf Abweichungen von der Linearität gab, wenn Lungen-, Brust-, Leber-, Uterus-, ZNS- und Prostata-Krebs getrennt voneinander analysiert wurden, deuteten sich bei der zusammenfassenden Untersuchung verschiedener Gruppen von Krebserkrankungen Unterschiede an. So ergaben detaillierte Auswertungen der neuesten Daten aus Hiroshima und Nagasaki, dass für männliche Exponierte die Dosisabhängigkeit besser durch ein linear-quadratisches Modell angepasst werden konnte, während es für weibliche Exponierten keinen Hinweis auf eine Abweichung von der Linearität gab (Grant et al. 2017). Für Männer verschwand allerdings die quadratische Komponente der Anpassung weitgehend, wenn ZNS-, Speiseröhren-, Knochen-, Schilddrüsen- und (nicht melanozytärer) Hautkrebs ausgeschlossen wurden; für Frauen wurde sie dagegen stärker, wenn man Brust-, Magen- und Schilddrüsenkrebs außer Acht ließ. Die Autoren schlossen aus diesen Befunden: „analysis based on all solid cancer as a single outcome is not the optimal method“ (Cologne et al. 2019). Für Hautkrebs (Sugiyama et al. 2014) lieferte eine lineare Dosiswirkungsbeziehung mit einer Schwellendosis bei 0,63 die beste Anpassung (vergleiche Abschnitt 3.1.3)

Allen diesen Hinweisen auf Abweichungen von einer strikten Linearität wird die ICRP bei ihrer Diskussion der epidemiologischen Evidenz sicher nachgehen wollen. Auch die grundsätzliche Frage der Plausibilität des LNT-Modells im Bereich kleiner Dosen wird sie nicht umgehen können. Zwar lag die kritische Studie der französischen Akademie der Wissenschaften, die sich sehr vehement für die Annahme einer Schwellendosis aussprach (Tubiana et al. 2005), bei den Beratungen der ICRP zur Vorbereitung ihrer jüngsten generellen Empfehlungen schon vor und fand durchaus Beachtung (ICRP 2007b), sie wurde aber nicht im Detail diskutiert und ihre Befürworter sind nicht müde geworden, ihre Argumente immer wieder vorzubringen (Calabrese 2021, Scott 2021). Auch der Bericht der „High Level Expert Group“ (European Commission 2009), der zur Gründung verschiedener europäischer Strahlenforschungs-Netzwerke führte und die Forschungsschwerpunkte von EURATOM seither wesentlich mitbestimmt hat, vertrat die Auffassung, dass neuere Erkenntnisse über die Mechanismen der Strahlenwirkung bisher zu wenig Eingang in die wissenschaftliche Begründung des Strahlenschutzes gefunden haben. Die relevanten biologischen Themen sind unter anderem folgende: Adaptive Response, Bystander Effect, Genomische Instabilität, Gewebeeffekte, Hormesis (Überblick bei Averbeck et al. 2018). Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass diese Effekte, wenn sie denn eine Bedeutung für das Krebsrisiko bei kleinen Dosen haben sollten, keineswegs alle in Richtung einer Schwellendosis deuten, sondern teilweise auch eine sogenannte Supralinearität nahelegen könnten.

Fazit: Die SSK sieht gegenwärtig keine Begründung dafür, dass Erkenntnisse über biologische Effekte, die einen nichtlinearen Dosis-Wirkungszusammenhang nahelegen könnten, der Verwendung des LNT-Modells zu Strahlenschutzzwecken widersprechen würden. Sie empfiehlt jedoch, die zugrunde liegende Argumentation einer gründlichen Prüfung zu unterziehen. Es sollte allerdings stets hervorgehoben werden, dass die Annahme einer linearen Dosis-Wirkungsbeziehung als Grundlage für Risikoschätzungen im Strahlenschutz nicht unterstellt, dass die zugrunde liegenden biologischen Wirkungsmechanismen linear verlaufen. Das LNT-Modell ist in diesem Sinne vor allem ein Instrument des Strahlenschutzes und nicht notwendigerweise eine Beschreibung eines Wirkungsmechanismus.

4.1.2 Detriment

Das Detriment-Konzept der ICRP dient dem Zweck, einen quantitativen Vergleich des stochastischen Strahlen­schadens für die verschiedenen Organe zu ermöglichen. Dazu werden die organspezifischen nominellen Risikokoeffizienten mit einer Funktion gewichtet, die den Schweregrad und damit die „Schadensrelevanz“ einer Erkrankung ausdrücken soll. In diese Funktion geht eine Vielzahl von Variablen ein, die nicht nur von Strahlungsparametern abhängen, sondern auch von Merkmalen der Erkrankung selbst.

Der in ICRP-Publikation 103 (ICRP 2007b) beschriebene Schadensbegriff spiegelt weder ein reines Mortalitäts-Risikomodell noch ein reines Inzidenz-Risikomodell wider. Stattdessen definiert die ICRP für jede Krebsart und für Erbschäden eine gewichtete Schadenswahrscheinlichkeit, die sowohl die durch eine Strahlenexposition erhöhte Wahrscheinlichkeit für einen stochastischen Effekt als auch bestimmte „Nicht-Strahlungsparameter“ wie die Letalität einer Krebsart, den Verlust der Lebenserwartung und die Einschränkung der Lebensqualität berücksichtigt. Beispielsweise wird bei gleicher Eintrittswahrscheinlichkeit ein Schilddrüsenkrebs mit guter Prognose geringer bewertet und gewichtet als ein Lungenkrebs mit schlechter Prognose beziehungsweise hoher Letalität. Die in dieser Weise gewichtete Schadenswahrscheinlichkeit wird „Detriment“ (Einheit Sv-1) genannt.

Die Parameter, die in die Ermittlung des Risikokoeffizienten eingehen, wie z. B. das Modell der Linearen Dosis-Wirkungsbeziehung ohne Schwelle (LNT) (vergleiche Abschnitt 4.1.1) oder der Dosis- und Dosisleistungs-Effektivitätsfaktor (DDREF) (vergleiche Abschnitt 3.1.1), finden in der Strahlenschutz-Fachgemeinde starke Beachtung und sind durchaus nicht unumstritten. Die ICRP-Definition der Schadenshöhe wird demgegenüber erstaunlich wenig diskutiert und kaum in Frage gestellt. Dies ist umso bemerkenswerter, als die Art und Weise, in der die Schadenshöhe in das Detriment eingeht und wie die „Schadensparameter“ Letalität, Verkürzung der Lebenszeit und Einschränkung an Lebensqualität Berücksichtigung finden (siehe unten), durchaus sehr unterschiedlich erfolgen kann (Breckow 2020). Sowohl die Wahl der Parameterwerte als auch deren Zusammenhang im ICRP-Detriment-Modell weisen einige nur eingeschränkt objektive Komponenten auf und bedeuten damit bereits eine gewisse Bewertung hinsichtlich der Relevanz oder Bedeutung eines Schadens. Somit stellt das ICRP-Detriment-Modell ein mögliches, jedoch nicht das einzig mögliche Maß für ein schadensgewichtetes Risiko dar. Nicht zuletzt aus diesem Grund hat die SSK in ihrer Empfehlung zum DDREF gefordert, „im Zuge dieser Anpassung [der DDREF-Parameter], auch alle anderen Para­meter, die in das Detriment eingehen, an den aktuellen wissenschaftlichen Stand anzupassen“ (SSK 2014b).

Die ICRP hatte bereits in ihrer Empfehlung 60 aus dem Jahr 1990 (ICRP 1991a) ein ähnliches Modell auf der Grundlage von Mortalitätsdaten entwickelt, mit dem eine gewichtete Schadenswahrscheinlichkeit beschrieben werden konnte. In ICRP-Publikation 103 (ICRP 2007b) wurde dieses Modell weiterentwickelt und beruht nun wesentlich auf der Grundlage von Inzidenzdaten, beschrieben durch den nominellen Risikokoeffizienten RI in Bezug auf eine Krebsart beziehungsweise auf ein Organ. Die Summe aller organspezifischen Detrimente ergibt das „totale“ Detriment, das in ICRP-Publikation 103 für die gesamte Bevölkerung mit 5,7 % pro Sv angegeben wird. Hierin enthalten ist das Detriment für Erbschäden mit 0,1 % pro Sv, das demnach gegenüber dem für Krebserkrankungen eine untergeordnete Rolle spielt.

Das Detriment für jedes Organ beziehungsweise jede Krebsart ergibt sich aus dem Produkt des nominellen Risikokoeffizienten RI mit der Schadenshöhe.

Ein maßgebender Parameter in der Schadensfunktion ist die „minimale Einschränkung der Lebensqualität“ qmin. Je größer qmin ist, als desto einschränkender wird eine (nicht tödliche) Krebserkrankung betrachtet und als desto stärker wird die damit verbundene Einschränkung der Lebensqualität bewertet. Ein größeres qmin bedeutet eine größere Schadenshöhe und damit bei gleicher Eintrittswahrscheinlichkeit ein größeres Detriment. Darüber hinaus bedeutet ein größeres qmin eine weniger ausgeprägte Abhängigkeit von der Letalität (Cléro et al. 2019, Breckow 2020). Von der prinzipiellen Möglichkeit des Detriment-Modells, diese Variabilität abzubilden, macht die ICRP erstaunlicherweise kaum Gebrauch: Nahezu allen Organen wird der gleiche Wert für qmin zugeordnet.

Mit der wichtigen Ausnahme für Hautkrebs (vergleiche Abschnitt 3.1.3) haben die minimale Einschränkung der Lebensqualität qmin und der relative Verlust an Lebenserwartung nur geringen Einfluss auf die Schadenshöhe, wohingegen sich der Letalitätsfaktor sehr stark auswirkt. Dies ist in guter Übereinstimmung mit Untersuchungen von Zhang et al. (Zhang et al. 2020), die in einer Sensitivitätsanalyse den Einfluss verschiedener Parameter auf die Detriment-Berechnung untersucht haben.

Das ICRP-Detriment stellt ein brauchbares Instrument dar, um ein Schadensmaß zu definieren, das neben der Letalität auch „nicht tödliche“ Anteile berücksichtigt. Es bietet die Möglichkeit, unterschiedliche Krebsarten beziehungsweise Organe hinsichtlich ihres Beitrags zum Gesamtrisiko zu vergleichen. Die Schadenshöhe, die als Wichtungsgröße in das Detriment eingeht und von keinerlei Strahlungsparametern abhängt, ist einem zeitlichen Trend unterworfen, der die verbesserte Prognose durch Fortschritte in der Krebsdiagnostik und -therapie widerspiegelt (Breckow 2020). Das bedeutet aber auch, dass das Detriment, also das „Strahlenrisiko“, mit der Zeit kleiner wird, auch wenn der nominelle Risikokoeffizient unverändert bleibt. Dieser Umstand ist nicht ohne Akzeptanzprobleme und wirft durchaus Fragen auf, ob mit dieser Art der Definition eines Detriments das Strahlenrisiko überhaupt angemessen repräsentiert ist.

In die Schadenshöhe gehen eine Reihe von Parametern ein, die den Schweregrad einer Krebserkrankung repräsentieren sollen. Es wären jedoch auch andere Werte und sogar auch noch weitere Parameter denkbar, wie z. B. die Belastung durch eine Krebstherapie und deren Nebenwirkungen, die Eingang in das Modell finden könnten. Auch ganz andere Modelle wären vorstellbar. Doch nicht nur eine „Verfeinerung“ des Modells, sondern im Gegenteil auch ein gröberes Modell würde die angestrebte Zielsetzung, die mit dem Detriment-Konzept verfolgt wird, erfüllen. Ein denkbares Modell, das in diese Richtung zielt, könnte beispielsweise ein Ansatz sein, der lediglich die Mortalität und keine weiteren Parameter berücksichtigt.

Das Detriment-Modell der ICRP dient unter anderem dem Zweck, über die Bestimmung der Gewebe-Wichtungs­faktoren wT die Grundlage für das Konzept der effektiven Dosis zu legen. Die wT-Werte für die verschiedenen Organe bilden in grober Weise das Verhältnis der jeweiligen Detrimente zum Gesamt-Detriment ab. Diese Verhältnisse, sowie auch andere Merkmale der effektiven Dosis, müssten sich durch die Wahl eines anderen, unter Umständen einfacheren Modells jedoch nicht notwendigerweise ändern.

Die effektive Dosis und das ihr zugrunde liegende Detriment dient lediglich Strahlenschutzzwecken und ist ungeeignet, Risikoschätzungen für einzelne Personen oder besondere Personengruppen durchzuführen (z. B. SSK 2003). Grenzwertfestlegungen beruhen zwar auf Risikobetrachtungen, doch welche Risiken als noch „tolerabel“ betrachtet werden und infolgedessen mit einem Grenzwert verknüpft werden, wird weder im Strahlenschutz noch in anderen Bereichen des Umwelt- und Arbeitsschutzes auf der Basis eines Detriments, sondern in der Regel durch die Betrachtung der Mortalität entschieden. Dieses Vorgehen wird ausführlich in einer Empfehlung der SSK zur Begründung von Grenzwerten beschrieben (SSK 2018). Im Umwelt- und Arbeitsschutz sind verschiedene schadensgewichtete Risikogrößen bekannt, so z. B. das DALY-Konzept (Disability adjusted life years) der Weltbank und der WHO (beschrieben z. B. in SSK 2018). Das Detriment-Konzept der ICRP findet sich so jedoch nirgends außerhalb des Strahlenschutzes. Somit kann schon aus diesem Grund auf dessen Basis keine Vergleichbarkeit mit kanzerogenen Stoffen aus anderen Bereichen erzielt werden.

Fazit: Das Detriment-Konzept zur Schadensgewichtung hat sicherlich eine gewisse Eleganz und scheint tatsächlich einer besseren Berücksichtigung der verschiedenen Risikobeiträge der Organe zu dienen. Diese Subtilität geht allerdings auf Kosten der Transparenz und Verständlichkeit der Risikoschätzungen im Strahlenschutz. Die Frage ist, ob für die Zwecke des Strahlenschutzes diese Feinabstimmung überhaupt gebraucht wird oder ob ein einfacheres und dafür überschaubares Modell ebenso geeignet wäre.

4.1.3 Einführung eines Ampelmodells zur Kommunikation im Strahlenschutz

Mit der ICRP-Publikation 26 im Jahr 1977 formulierte die ICRP ein komplettes Strahlenschutzkonzept (ICRP 1977a). Sie unterschied nun stochastische und nicht stochastische Effekte und regte an, den Strahlenschutz auf Beschäftigte und die allgemeine Bevölkerung auszudehnen.

Sie empfahl nicht nur Grenzwerte, sondern auch die Strahlenschutzgrundsätze der Rechtfertigung und Optimierung, Letztere konkretisiert durch das ALARA-Prinzip (As Low As Reasonably Achievable – Dosen sollen so gering sein wie vernünftigerweise erreichbar unter Berücksichtigung ökonomischer und gesellschaftlicher Faktoren). ICRP-Publikation 26 gab auch eine generelle Begründung für die Dosisgrenzwerte:

„The aim of radiation protection should be to prevent detrimental non-stochastic effects and to limit the probability of stochastic effects to levels deemed to be acceptable.“

Wesentlich schwieriger als bei den nicht stochastischen Effekten, die durch eine Schwellendosis charakterisiert sind, stellt sich die Situation bei den stochastischen Effekten dar. Im Strahlenschutz geht man davon aus, dass stochastische Risiken (wie bösartige Tumoren, Leukämien, Erbkrankheiten) keine Schwellendosen aufweisen, die Anzahl betroffener Personen also mit zunehmender Strahlendosis ansteigt, wobei die Schwere der Erkrankung aber nicht von der Höhe der Strahlendosis abhängig ist. Damit stellt sich allerdings die Frage, was unter „acceptable“ zu verstehen ist. ICRP-Publikation 26 verfolgte das Konzept, das strahleninduzierte stochastische Strahlenrisiko beruflich Strahlenexponierter mit Risiken in anderen als „sicher“ geltenden Berufszweigen zu vergleichen: „comparing this risk with that for other occupations recognized as having high standards of safety“. Über diesen Weg kam ICRP unter zusätzlicher Berücksichtigung einiger weiterer Annahmen zu dem Schluss, dass das mit 50 mSv pro Jahr Äquivalentdosis verbundene Risiko „akzeptabel“ sei. Dieses Konzept lehnte sich an das Vorgehen bei anderen Berufszweigen an und wurde in den ICRP-Publikationen 27 (ICRP 1977b) und 45 (ICRP 1985) ausführlich erläutert. Es ist hier anzu­merken, dass der Begriff „akzeptabel“, wie in diesen frühen ICRP-Publikation verwendet, dem Begriff „tolerabel“ in ICRP-Publikation 60 entspricht, der in dieser Bedeutung auch im Folgenden benutzt wird.

ICRP-Publikation 60 (ICRP 1991a) verfolgte den oben genannten Ansatz des Vergleichs mit Risiken anderer Berufe allerdings nicht weiter. Vielmehr bemühte man sich jetzt um eine Definition von „unacceptable“, „tolerable“ und „acceptable“. „Unacceptable“ bedeutet, dass unter üblichen Arbeitsbedingungen ein Risiko nicht hinnehmbar ist, was sich jedoch nach Unfällen oder Katastrophen durchaus ändern kann. „Tolerable“ sind Situationen, die zwar nicht willkommen sind, aber hingenommen werden können, während „acceptable“ meint, dass diese Risiken nach Optimierung akzeptiert werden können. ICRP-Publikation 60 zog die Grenze zwischen tolerabel und unakzeptabel bei einem strahleninduzierten beruflichen Todesfall pro Jahr pro 1 000 Personen. Die damalige Begründung lautete (ICRP 1991a, Annex C, Kap. C14):

„A report of a Study Group of the British Royal Society (1983) concluded that imposing a continuing annual occupational probability of death of 1 in 100 would be unacceptable, while they found the situation less clear with regard to an annual probability of death of 1 in 1000. They felt that the latter probability level could „hardly be called totally unacceptable provided the individual at risk knew of the situation, judged he had some commensurable benefit as a result, and understood that everything reasonable had already been done to reduce the risk“. However, the annual probability of death is only one of the attributes which are appropriate to take into account. In the following, a number of other aspects will be considered.“

Aus dieser Überlegung und aufgrund neuerer epidemiologischer Daten zum Krebsrisiko in Hiroshima und Nagasaki sowie der Berücksichtigung eines multiplikativen Modells zur Risikoabschätzung resultierte für beruflich strahlen­exponierte Beschäftigte der Grenzwert von 20 mSv pro Jahr, also 100 mSv pro fünf Jahre, wobei in keinem Jahr mehr als 50 mSv auftreten dürfen. Die jüngsten Empfehlungen der ICRP-Publikation 103 (ICRP 2007b) gehen auf diese Problematik nicht noch einmal ein, sondern schreiben die bestehenden Grenzwerte fort.

Erfahrungsgemäß werden Grenz-, Richt- und Referenzwerte vielfach nicht eindeutig unterschieden und häufig in ihrer Bedeutung missverstanden. Daher sollen hier diese Begriffe nach dem Glossar von ICRP-Publikation 103 und nach dem StrlSchG (StrlSchG 2017) noch einmal erläutert werden.

Ein Dosisgrenzwert (dose limit) ist ein Wert der effektiven Dosis oder der Organdosis einer einzelnen Person aus geplanten Expositionssituationen, der nicht überschritten werden darf.
Ein Dosisrichtwert (dose constraint) dient der prospektiven und quellenbezogenen Beschränkung der individuellen Dosis aus einer Quelle. Der Dosisrichtwert stellt ein grundlegendes Niveau des Schutzes für die höchste quellenbezogene Exposition einer Person dar und dient als Obergrenze des Dosiswertes bei der Optimierung des Schutzes gegenüber dieser Quelle. Für berufliche Strahlenexpositionen ist der Dosisrichtwert die individuelle Dosis, die verwendet wird, um den Bereich der Möglichkeiten zu beschränken, die im Optimierungsverfahren betrachtet werden. Für Expositionen der Bevölkerung ist der Dosisrichtwert eine Obergrenze für die jährliche Dosis, die Personen der Bevölkerung durch den geplanten Betrieb einer überwachten Quelle erhalten könnten.
Ein Referenzwert (reference level) gibt bei Notfallexpositionen oder bestehenden kontrollierbaren Expositions­situationen den Dosis- oder Risikowert an, bei dessen Überschreitung Expositionen als unangemessen betrachtet werden und bei dessen Unterschreitung eine Optimierung des Schutzes durchgeführt werden soll. Der genaue Zahlenwert, der als Referenzwert gewählt wird, hängt von den jeweiligen Umständen der betrachteten Exposition ab. Die ICRP empfiehlt in der Publikation 103 zwar explizite Werte für die Grenz- und Referenzwerte, unterlässt es aber, Begründungen für die Wahl dieser Werte zu geben.

Zur Festlegung von Grenz-, Richt- und Referenzwerten sollte auch die klare Definition von „tolerabel“ und „akzeptabel“ in Bezug auf die Strahlendosen und -risiken gehören. In den bisherigen grundlegenden Empfehlungen der ICRP wird dagegen der Gebrauch der Begriffe „tolerabel“ und „akzeptabel“ nicht immer eindeutig genug unterschieden.

Was akzeptabel und was tolerabel ist, hängt von der jeweiligen Situation und den Umständen sowie gesellschaftlichen Faktoren ab. Nicht alles, was wünschenswert oder sinnvoll ist, ist machbar. Nicht alles, was machbar ist, ist wünschenswert oder sinnvoll. Was im Notfall tolerabel beziehungsweise akzeptabel sein könnte, mag in bestehenden oder geplanten Expositionssituationen weder tolerabel noch akzeptabel sein.

Zur Vermittlung des Systems von Grenz-, Richt- und Referenzwerten (vergleiche Abschnitte 3.2.1 und 3.2.2) kann ein Ampelmodell als Kommunikationsmittel verwendet werden:

Der obere Referenzwert für bestehende und Notfallexpositionssituationen bezeichnet die Grenze zwischen tolerabel (gelb) und nicht mehr tolerabel (rot). Im tolerablen Bereich soll optimiert werden, im intolerablen Bereich sind bei Notfallexpositionssituationen Maßnahmen erforderlich und nahezu immer gerechtfertigt.
Der untere Referenzwert für bestehende und Notfallexpositionssituationen ist die Grenze zwischen akzeptabel (grün) und tolerabel. Im tolerablen Bereich soll optimiert werden. In Notfallexpositionssituationen sollte bei Unterschreitung des unteren Referenzwertes die Situation als bestehende Expositionssituation behandelt werden.
Ein Grenzwert trennt in geplanten Expositionssituationen tolerabel von nicht mehr tolerabel. Er darf nicht überschritten werden. Unterhalb des Grenzwertes ist zu optimieren.
Ein De-minimis-Wert bezeichnet in geplanten Expositionssituationen einen Dosiswert, unterhalb dessen zusätzliche Dosen aus einer Quelle aus gesetzlichen Regelungen ausgeschlossen oder ausgenommen sind. Solche Dosen sind akzeptabel. Ob ein solcher De-minimis-Wert generell die Grenze zwischen akzeptabel und tolerabel markiert, ist Gegenstand kontroverser Diskussionen.
Ein Richtwert (im Sinne des deutschen Rechts) impliziert in bestehenden und Notfallexpositionssituationen, dass alles, was darunter liegt, akzeptabel ist. Hier ist eine weitere Optimierung des Schutzes nicht mehr erforderlich.
Ein Richtwert (constraint nach ICRP-Publikation 103) liegt in geplanten Expositionssituationen im tolerablen Bereich. Unterhalb des Richtwertes ist zu optimieren. Für bestehende und Notfallexpositionssituationen gibt es (nach ICRP 103) keine Richtwerte, sondern lediglich Referenzwerte (siehe oben).

Es muss darauf hingewiesen werden, dass durch die Grenzwertsetzung im Strahlenschutz bisher nur die Grenze zwischen tolerabel und nicht mehr tolerabel klar definiert ist. Zu Akzeptabilität von Strahlenexpositionen gibt es keine für alle Bereiche allgemein gültige Definition, obwohl sowohl aus dem Regelwerk als auch aus der Literatur Hinweise abgeleitet werden können. Für geplante Expositionssituation gibt es nur das ALARA-Prinzip, das für Expositionen unterhalb der Toleranzschwelle keine generelle untere Begrenzung kennt. Angestrebt wird jeweils das, was „vernünftigerweise erreichbar ist“ (ICRP 2007b). Daraus könnte eine Akzeptanzschwelle abgeleitet werden.

Eine Ampel mit Toleranz- und Akzeptanzschwellen wäre für die Kommunikation im Strahlenschutz aufgrund ihrer intuitiv leichten Verständlichkeit eine mögliche Lösung.

Das Toleranzrisiko entspräche dem Grenzwert der Dosis in geplanten Expositionen und dem oberen Referenzwert in bestehenden und Notfallexpositionssituationen. Überschreitungen würden als nicht tolerierbar angesehen. Im gelben Bereich (unterhalb des Grenzwertes in geplanten Expositionssituationen beziehungsweise zwischen den jeweiligen Referenzwerten in bestehenden und Notfallexpositionssituationen) soll Optimierung stattfinden: ALARA unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen und ökonomischen Gegebenheiten. Es sollte diskutiert werden, ob auch für geplante Expositionen ein generelles Akzeptanzrisiko festgelegt werden kann. In allen drei Expositionssituationen würde dann gelten: Unterhalb des Akzeptanzrisikos ist keine weitere Optimierung erforderlich.

Die Nutzung und Darstellung eines Ampelmodells müsste jeweils an die einzelnen Expositionssituation angepasst werden.

Fazit: Obwohl sich das generelle Konzept des Strahlenschutzes als umsetzbar und praktikabel erwiesen hat, ist es zumindest in Teilen nur schwer kommunizierbar. Dies gilt insbesondere für die Begriffe des tolerablen und akzeptablen Risikos und die Bedeutung von Richt- und Referenzwerten als Instrumente der Optimierung. Als ein mögliches Hilfsmittel zur Verbesserung der diesbezüglichen Kommunikation könnte ein „Ampelmodell“ dienen in Anlehnung an mittlerweile vertraute Anwendungen in zahlreichen Gebieten des Umwelt-, Arbeits- oder Lebensmittelschutzes.

4.1.4 Praktikabilität, Realismus, Individualisierung des Strahlenschutzsystems

Das System des Strahlenschutzes, wie es in ICRP-Publikation 26 (ICRP 1977a) bis ICRP-Publikation 103 (ICRP 2007b) niedergelegt ist, ist durchaus praktikabel. Daher sollte nach Einschätzung der SSK der Grundsatz lauten: Prinzipiell nur dann eine Veränderung im System, wenn dadurch ein relevant besserer Strahlenschutz erzielt wird.

Es wird von der SSK als notwendig erachtet, dass bei der Überarbeitung von ICRP-Publikation 103 neue Empfehlungen unter den Gesichtspunkten der Praktikabilität und der Auswirkungen in der Praxis jeweils kritisch hinterfragt werden. Insbesondere wäre eine Vereinfachung des Systems sehr wünschenswert, um es der Gesellschaft besser kommunizieren zu können. Leider haben Anstrengungen in dieser Richtung jeweils zu einer noch größeren Kom­plexität und Variation der verwendeten Parameter geführt.

Die Bedeutung der Rechtfertigung muss betont werden. Nicht nur Tätigkeiten müssen gerechtfertigt sein. Auch Schutzmaßnahmen sind auf ihre Rechtfertigung hin zu prüfen, da Schutzmaßnahmen sowohl gewünschte als auch unerwünschte Folgen zeitigen können. Im Rahmen der Rechtfertigung werden im Allgemeinen prospektive Dosisermittlungen und Risikoschätzungen durchgeführt. Dazu empfiehlt die SSK, stets auch Gesamtrisiken und Gesamt­dosen zu betrachten und dabei praxisnah so realistisch wie möglich vorzugehen.

Nach ICRP-Publikation 103 soll jede Entscheidung, die die Strahlenexposition verändert, mehr nutzen als schaden. Dieser auch für die Praxis wichtige Grundsatz (vergleiche Tote durch Evakuierungen nach Fukushima) ist auch einem Laienpublikum leicht zu vermitteln und kann helfen, Forderungen nach ungerechtfertigten Maßnahmen im Strahlenschutz abzuwehren.

Praktisch anwendbare Empfehlungen und Realismus bei der Dosis- und Risikoermittlung erleichtern auch die Kommunikation mit der Bevölkerung und mit den beruflich strahlenexponierten Personen. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, ein möglichst einfaches System im Strahlenschutz zu verwenden. Überkonservativitäten bei Risiko- und Dosisabschätzungen können zu kontraproduktiven Strahlenschutzmaßnahmen führen, die mehr Schaden als Nutzen bringen. Generell sind realistische Einschätzungen von Dosen und Risiken eine wesentliche Grundlage eines guten Strahlenschutzes (SSK 2013).

Während eine Individualisierung des Strahlenrisikos in der medizinischen Therapie und Diagnostik mit Strahlung nach Einschätzung der SSK eine wichtige und nutzbringende Möglichkeit der Optimierung darstellt, sollten die Nachteile bei einer Anwendung dieses Prinzips im allgemeinen Strahlenschutz gut bedacht werden. Dies gilt vor allem dann, wenn die ICRP Überlegungen anstellt, vom dosisbasierten Konzept des Strahlenschutzes auf ein individuelles, risikobasiertes Konzept im Strahlenschutz zu wechseln. Denkbar sind solche Ansätze nur bei Überexpositionen, wenn alle möglichen Nachteile (z. B. Verwendung des individuellen Strahlenrisikos in der Versicherungswirtschaft oder bei der Berufsfindung) ausgeschlossen sind.

Fazit: Generell sind realistische Einschätzungen von Dosen und Risiken eine wesentliche Grundlage eines guten Strahlenschutzes. Daher sollten Konservativitäten bei Dosisberechnungen so weit wie möglich vermieden werden und realistische Zahlen für Dosen und Risiken angegeben werden. Das Strahlenschutzsystem sollte vereinfacht werden. Insbesondere könnte eine Individualisierung des allgemeinen Strahlenschutzes zu weiterer Komplexität und zu Nachteilen für die betroffenen Personen führen.

4.1.5 Unsicherheiten im Strahlenschutz

In allen Teilbereichen des Strahlenschutzes sind Unsicherheiten und Variabilität zu berücksichtigen. Dies gilt für Messungen der Aktivität von Strahlenquellen und Radionukliden in der Umwelt über die Dosimetrie bis hin zu epidemiologischen Risikoschätzungen und – nicht zuletzt – bis zu den Modellen, die benutzt werden. Ohne die Berücksichtigung von Unsicherheiten können weder die Konformität mit Anforderungen noch die Nachweisbarkeit von physikalischen oder chemischen Effekten beurteilt werden. In Bezug auf die metrologischen und epistemologischen Aspekte sei hier auf eine international anerkannte Methodik der JCGM-Guides verwiesen, die auch bei der Über­arbeitung von ICRP-Publikation 103 Anwendung finden sollte.

Die Behandlung von Unsicherheiten und Variabilität sollte nach einer international akzeptierten Methodik erfolgen, wie sie in den sogenannte JCGM Guides (JCGM 2008a, 2008b, 2012a, 2012b, 2020) niedergelegt ist.2

Das Joint Committee for Guides in Metrology (JCGM) ist eine Zusammenarbeit des Bureau International des Poids et Mesures (BIPM), der International Electrotechnical Commission (IEC), der International Federation of Clinical Chemistry and Laboratory Medicine (IFCC), der International Laboratory Accreditation Cooperation (ILAC), der International Organization for Standardization (ISO), der International Union of Pure and Applied Chemistry (IUPAC), der International Union of Pure and Applied Physics (IUPAP) und der International Organization of Legal Metrology (OIML).

Die JCGM Guides (JCGM 2008a, 2008b, 2012a) richten sich nach der Terminologie, die im International Vocabulary of Metrology, dem sogenannten VIM (JCGM 2012b), niedergelegt ist. Danach ist die Unsicherheit, auch Standardunsicherheit genannt, ein Parameter, der die Dispersion der (wahren) Werte einer Messgröße auf der Grundlage der benutzten Information beschreibt.

Unabhängig von der betrachteten Größe ist ein genereller Aspekt der Unsicherheiten in Betracht zu ziehen. Der sogenannte GUM (Guide for the Expression of Uncertainty in Measurement) (JCGM 2008b) unterscheidet zwei Arten von Unsicherheiten, die als Typ A- und Typ B-Unsicherheiten bezeichnet werden, die von UNSCEAR als statistische und epistemische Unsicherheiten bezeichnet werden. Diese Unterscheidung stellt nicht unterschiedliche Qualitäten der Unsicherheiten dar, sondern bezieht sich auf die Art und Weise, wie die Unsicherheiten ermittelt werden. Typ A-Unsicherheiten werden durch wiederholte oder zählende Messungen ermittelt, während Typ B-Unsicherheiten aus anderen Quellen stammen. Typ B-Unsicherheiten können nicht mittels frequentistischer Statistik behandelt werden, sondern benötigen den Wahrscheinlichkeitsbegriff der Bayes Statistik. In vielen Fällen dominieren Typ B-Unsicherheiten die Gesamtunsicherheit.

Sowohl Unsicherheiten als auch Variabilität werden durch Wahrscheinlichkeitsdichten (englisch: probability density functions, PDFs) beschrieben. Beide PDFs hängen von der verfügbaren Information ab. Die PDFs beschreiben vollständig die Unsicherheit über die unbekannten und unerkennbaren wahren Werte der Größen, die aufgrund von Schätzwerten diesen zugeordnet werden müssen. Über die wahren Werte können nur Wahrscheinlichkeitsaussagen auf der Grundlage der Information über die in eine Auswertung eingehenden Eingangsgrößen gemacht werden.

Es ist das Ziel jeder Messung, Analyse und Auswertung, einen Schätzwert für den wahren Wert einer Größe zu erhalten. Die Information über den unbekannten und unerkennbaren wahren Wert der Größe wird vollständig durch eine (posterior) PDF beschrieben. Die PDFs sind Bayessche Wahrscheinlichkeiten.

In einem Bayesschen Ansatz (Weise und Wöger 1993) können die PDFs mit Hilfe des Bayes Theorems oder dem Prinzip der Maximalen Informationsentropie (Jaynes 1982) abgeleitet werden. Das GUM Supplement 1 (JCGM 2008a) gibt detaillierte Anweisungen, wie die zugehörigen PDFs auf der Grundlage der verfügbaren Information aufzustellen sind.

Das GUM Supplement entscheidet jedoch nicht darüber, ob die verfügbare Information hinsichtlich Qualität und Belastbarkeit hinreichend ist zur Beurteilung einer Fragestellung. Siehe dazu z. B. (Barthel und Thierfeldt 2015).

Die gemeinsame PDF der Eingangsgrößen beschreibt dann die unvollständige Kenntnis über die betrachtete Größe und gegebenenfalls die Wahrscheinlichkeitsdichte der Größe in einer Population. Unsicherheiten und Variabilitäten können mit denselben Verfahren beschrieben werden und sind vielfach schwer zu unterscheiden. Die Posterior-PDF der betrachteten Größe kann aus der gemeinsamen PDF der Eingangsgrößen mit Hilfe des Modells der Auswertung über die sogenannte Markov-Formel unter Verwendung von Monte Carlo-Methoden berechnet werden (ISO 2019a).

Die PDFs können vollständig grafisch dargestellt werden oder durch geeignete Momente der Verteilungen wie Mittelwerte, Mediane und spezifizierte Quantile beschrieben werden. Der beste Schätzwert einer Größe ist der Erwartungswert der Posterior-PDF und die ihm zugeordnete Standardunsicherheit die Wurzel aus der Varianz der PDF. Der Begriff Überdeckungsintervall (englisch: coverage interval) wird für ein Intervall benutzt, das den wahren Wert der Messgröße mit einer vorgewählten Wahrscheinlichkeit enthält. Das Überdeckungsintervall ist vom Vertrauensbereich (englisch: confidence interval) zu unterscheiden, der lediglich Aussagen über die Ergebnisse zukünftiger Messungen erlaubt.

Charakteristische Werte der Verteilungen wie Erkennungsgrenzen, Nachweisgrenzen und Grenzen von Überdeckungsintervallen können nach ISO 11929 (alle Teile) (ISO 2019a, 2019b, 2019c, ISO 2020) ermittelt werden. Die Normenserie ISO 11929 wird auch in verschiedenen Normen zur Messung der Umweltradioaktivität empfohlen, ist jedoch nicht darauf beschränkt.

Mit Standardmessunsicherheiten und den Grenzen von Überdeckungsintervallen nach ISO 11929 kann auch die Konformität mit Anforderungen behandelt werden (SSK 2016b). Mit Erkennungsgrenzen und Nachweisgrenzen nach ISO 11929 können einzelne Messungen bewertet werden sowie die Eignung von Messverfahren für einen Messzweck geprüft werden.

Das Thema Unsicherheiten muss heutzutage auch unter dem übergeordneten Aspekt der Digitalisierung mitgedacht werden: Laut der Task Group on the Digital SI des International Committee for Weights and Measures (CIPM) besteht die größte Herausforderung bei der Weiterentwicklung des metrischen Systems in der Entwicklung und Etablierung eines weltweit einheitlichen, eindeutigen und sicheren Datenaustauschformats für den Einsatz in IoT(Internet of Things)-Netzwerken auf der Basis des Internationalen Einheitensystems (SI). Die Umstellung auf eine vollständig digitale Darstellung ist notwendig, um effiziente Prozesse in der Industrie, der Qualitätsinfrastruktur und ihren Organisationen, in der modernen Forschung und Entwicklung weltweit zu ermöglichen.

Unter dem Vorzeichen der Digitalisierung müssen deshalb neue Werkzeuge zur Datenanalyse in Betracht gezogen werden: Methoden der künstlichen Intelligenz. Aktuell fehlen die messtechnischen Werkzeuge, um Unsicherheiten mittels KI zu bestimmen. Neben der Methodik als solche müssen auch Möglichkeiten der Bewertung in Hinsicht auf Erklärbarkeit und Robustheit entwickelt werden. Eine unabhängige Evaluation oder Zertifizierung der Algorithmen kann nur auf der Basis von Referenzdaten erfolgen, die nicht Bestandteil der Trainingsdaten sein dürfen. Siehe hierzu auch Abschnitt 4.2.4.

Generell sollen Aussagen der ICRP auch die beteiligten Unsicherheiten und Variabilitäten aller beteiligten Größen auf der Grundlage der verfügbaren Informationen nach den JCGM Guides berücksichtigen. Dazu gehört auch, ob die verfügbare Information hinreichend für eine fundierte Aussage ist. Dies ist zum Beispiel nicht erfolgt im Falle der Empfehlungen zum Thema Radon. Dies hat zu der unerfreulichen Situation geführt, dass Empfehlungen der ICRP zur Dosimetrie von Radon nicht mehr konsistent mit denen von UNSCEAR sind.

Es ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass die Radon-Problematik, aber auch generell die Risikoschätzungen mit Modellunsicherheiten zu kämpfen haben. Für diese Problematik gibt es ebenfalls eine Empfehlung der JCGM (JCGM 2020). Dieser Ansatz sollte auch von der ICRP verfolgt werden.

Vielfach werden Festlegungen von Grenz- oder Referenzwerten danach ausgerichtet, was erkennbar ist, z. B., wann ein Risiko signifikant vom Hintergrundrisiko abweicht. Die Frage der Erkennbarkeit sollte nach den Festlegungen von ISO 11929 (ISO 2019a, 2019b, 2019c, ISO 2020) beantwortet werden.

Die Erkennbarkeit eines Risikos bedeutet allerdings nicht, dass dieses Risiko relevant für den Strahlenschutz oder die Festlegung von Grenz- oder Referenzwerten ist. Die Erkennbarkeit ist eine naturwissenschaftliche Fragestellung, für die eine eindeutige Antwort gegeben werden kann. Dies gilt nicht für die Frage nach der Relevanz der Beobachtung, deren Beantwortung jedoch eine Wertung darstellt.

Fazit: Generell sollen Aussagen der ICRP auch die Unsicherheiten und Variabilitäten aller beteiligten Größen auf der Grundlage der verfügbaren Informationen nach den JCGM Guides berücksichtigen. Dazu gehört auch die Beurteilung, ob die verfügbare Information hinreichend für eine fundierte Aussage ist. Die Frage der Erkennbarkeit von erhöhten Risiken, z. B. wann ein Risiko signifikant vom Hintergrundrisiko abweicht, sollte nach den Festlegungen von ISO 11929 beantwortet werden. Die Wertung, ob ein Risiko relevant ist, ist eine Frage, die darüber hinausgeht.

4.1.6 Ethische Aspekte

In den fast 100 Jahren ihres Bestehens hat sich die ICRP in ihren Empfehlungen selten explizit auf ethische Werte bezogen. Wissenschaft und Technik sowie Erfahrung wurden gewöhnlich als die einzigen Quellen betrachtet, aus denen relevante Informationen und Ideen gewonnen werden konnten und sollten. Die ersten Veröffentlichungen der ICRP, die sich ausdrücklich auf Werte bezogen, waren die zum Strahlenschutz nicht menschlicher Arten (ICRP-Publikation 91, ICRP 2003) und zur Entsorgung radioaktiver Abfälle (ICRP-Publikation 122, ICRP 2013d). Es dauerte noch ein paar weitere Jahre, bis eine ICRP-Publikation vollständig ethischen Fragen gewidmet wurde, und zwar den ethischen Grundlagen des Strahlenschutzsystems (ICRP-Publikation 138, ICRP 2018b). Inzwischen ist Ethik ein Thema, dem sich die ICRP immer wieder widmet, so in den gerade zur Diskussion stehenden Entwürfen „Ethics in Radiological Protection for Medical Diagnosis and Treatment“ (TG 109) und „Radiological Protection in Veterinary Practice“ (TG 110). Das kürzlich von den Mitgliedern der scheidenden Kommission veröffentlichte Grundsatzpapier (Clement et al. 2021), in dem Schwerpunkte der nächsten allgemeinen Empfehlungen nach der ICRP-Publikation 103 (ICRP 2007b) skizziert werden, erwähnt ethische Aspekte an prominenter Stelle und schlägt vor, dass die „Überprüfung des Systems (des Strahlenschutzes) Bereiche identifizieren sollte, in denen die ausdrückliche Einbeziehung der ethischen Grundlage neben der wissenschaftlichen Grundlage von Vorteil wäre.“

Obwohl sich die SSK bisher in keiner ihrer Veröffentlichungen vorrangig mit ethischen Fragen beschäftigt hat, sind diese Entwicklungen in ihren Beratungen immer wieder thematisiert worden und die Bemühungen der ICRP um eine stärkere Integration von Naturwissenschaft und Technik auf der einen Seite und Sozialwissenschaften und Ethik auf der anderen werden ausdrücklich befürwortet. Diskussionsbedarf sieht die SSK vor allem hinsichtlich der in ver­schiedenen ICRP-Dokumenten als grundlegend dargestellten Werte. Während etwa in ICRP-Publikation 138, die von den ethischen Grundlagen des Strahlenschutzsystems handelt, vier zentrale und drei prozedurale Werte herausgearbeitet werden (Beneficence/​Non-Maleficence, Prudence, Justice, Dignity, as well as Transparency, Accountability, Inclusivity), stehen diese etwas unvermittelt neben den zuvor in ICRP-Publikation 91 für Umweltfragen als wesentlich erachteten sechs Werten (Sustainable Development, Conservation, Preservation, Maintenance of Biodiversity, Environmental Justice, Human Dignity). Die erwähnten noch nicht abschließend diskutierten Entwürfe, in denen ethische Fragen der Medizin und Tiermedizin betrachtet werden, nehmen auf diese Begriffe Bezug, sehen diese allerdings nicht als ausreichend an und ergänzen sie durch weitere Begriffe.

Fazit: Der ICRP sollte daran gelegen sein, die Übersichtlichkeit und Geschlossenheit des Strahlenschutzsystems zu erhalten. Hierzu sollte der Zusammenhang der in speziellen Bereichen (etwa Medizin, Umweltschutz) genannten Wertvorstellungen mit denjenigen der grundlegenden Empfehlung ICRP-Publikation 138 (Beneficence/​Non-Maleficence, Prudence, Justice, Dignity, Transparency, Accountability, Inclusivity) diskutiert und erläutert werden.

4.1.7 Strahlenschutzkultur

Im Bereich der Arbeitssicherheit spricht man heute von einem etablierten Begriff der Sicherheitskultur. Viele sind der Ansicht, dass Strahlenschutzkultur ein Teil der allgemeinen Sicherheitskultur sein sollte. Siehe hierzu (Michel 2009, IRPA 2014). Daher ist es im Hinblick auf eine Definition von Strahlenschutzkultur sinnvoll, den Gebrauch des Begriffs Sicherheitskultur zu betrachten. Er wird benutzt, um zu beschreiben, wie Sicherheit am Arbeitsplatz bewerkstelligt wird, und umfasst die „Einstellungen, Überzeugungen, Auffassungen und Werte, die Beschäftigte in Bezug auf Sicherheit teilen“ (Cox und Cox 1991).

Historisch wurde das Bestreben nach einer Sicherheitskultur durch die Aufmerksamkeit gefördert, die die Sicherheitskultur durch den Unfall von Tschornobyl erhielt, in dem die Auswirkungen von Missmanagement und menschlicher Faktoren auf die Sicherheit eklatant deutlich wurden (Flin et al. 2000, IAEA 1986). Der Begriff „safety culture“ wurde erstmals im „Summary Report on the Post-Accident Review Meeting on the Chernobyl Accident“ (IAEA 1986) benutzt. Dieses Konzept wurde eingeführt als ein Mittel, um zu erklären, wie ein Mangel an Wissen und Verständnis über Risiko und Sicherheit durch eine Organisation und die in ihr Beschäftigten zum Ergebnis der Katastrophe beitrugen.

Seitdem wurden verschiedene Definitionen des Begriffs Sicherheitskultur gegeben. Die Kultur des Strahlenschutzes kann zwar als ein Teil der allgemeinen industriellen Sicherheitskultur betrachtet werden, sie geht aber darüber hinaus, dort wo in der Medizin, der Forschung und im täglichen Leben Radioaktivität und Strahlung die Notwendigkeit des Strahlenschutzes begründen. Strahlenschutzkultur muss ein konsistentes System in allen Anwendungsbereichen bieten.

Die UK Health and Safety Commission hat folgende Definitionen einer Sicherheitskultur vorgeschlagen: „The safety culture of an organization is the product of individual and group values, attitudes, perceptions, competencies and patterns of behaviour that determine the commitment to, and the style and proficiency of, an organization’s health and safety management“ (HSE 1993).

Darauf aufbauend haben der Fachverband für Strahlenschutz und die International Radiation Protection Association (IRPA) die Bedeutung einer Strahlenschutzkultur hervorgehoben (Michel 2009, IRPA 2014). Dabei kann folgende Definition der Kultur im Strahlenschutz als Grundlage dienen: „Der Begriff „Strahlenschutzkultur“ beschreibt, wie Strahlenschutz am Arbeitsplatz, in der Medizin und im täglichen Leben gesetzlich geregelt, verwaltet, durchgeführt, erhalten und wahrgenommen wird. Strahlenschutzkultur spiegelt die Einstellungen, Überzeugungen, Auffassungen, Ziele und Werte wider, die Beschäftigte, Fachleute, Regulierungsbehörden und die Gesellschaft als Ganzes in Bezug auf den Strahlenschutz teilen.“

Fazit: Die ICRP sollte sich für eine Stärkung der Strahlenschutzkultur im Sinne der von der IRPA und auch vom FS formulierten Prinzipien einsetzen.

4.2 Einzelfragen

4.2.1 Operationelle Messgrößen ICRU 95 (ICRP und ICRU)

Die ICRU (International Commission on Radiation Units and Measurements) hat in ihrem Bericht ICRU Report 95 „Operational Quantities for External Radiation Exposure“ („Operative Größen für externe Strahlenexposition“) (ICRU 2020) neue operationelle Strahlenschutzmessgrößen empfohlen. Das Dokument wurde von der ICRU erarbeitet und dann von 2017 bis 2020 im Nachgang zu einer öffentlichen Konsultation gemeinsam mit der ICRP verabschiedet.

Operationelle Größen für Strahlungsmessungen ergänzen die Schutzgrößen (vor allem effektive Dosis), die ihrer Natur nach nicht messbar sind. Operationelle Messgrößen werden für prospektive und retrospektive Bewertungen von Strahlungsfeldern durch Messung oder Berechnung verwendet. Messinstrumente wie Orts- und Personendosimeter sind für die operationellen Messgrößen ausgelegt und werden routinemäßig mit Referenzfeldern dafür kalibriert.

Der ICRU-Vorschlag zu den neuen Messgrößen wurde beim Bureau International des Poids et Mesures (BIPM) im Rahmen des Consultative Committee for Units (CCU) von der ICRU vorgestellt. Dabei ist wichtig festzuhalten, dass Strahlenschutz kein vorrangig metrologisches Thema ist, so dass Kompetenz und Interesse seitens CCU und CCRI (Consultative Committee for Ionizing Radiation) bezüglich der Einheiten und Messgrößen im Strahlenschutz nur eingeschränkt vorhanden war. Deshalb war keine Intervention von CCU erwartbar, was aufgrund der aktuellen Arbeitsteilung auch richtig ist. Trotzdem muss man die Frage stellen, ob dieser Prozess im Interesse einer effizienten Ressourcenlenkung war. Die Umsetzung des Vorschlags der ICRU wird sehr hohe Kosten verursachen. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Frage besondere Bedeutung, ob durch die Einführung der neuen Messgrößen der Strahlenschutz tatsächlich verbessert wird. Angesichts dieser Wahrnehmung sollte die ICRU gemeinsam mit der ICRP überlegen, ob eine Verbesserung ihrer Prozesse für die Zukunft möglich ist. Um das zu erreichen, müssten ICRU und ICRP ihre Kompetenz zu metrologischen Fragestellungen deutlich ausbauen. Nur so kann man sicherstellen, dass der Strahlenschutz die gleichen Entwicklungsmöglichkeiten wie andere Themenfelder erhält und die Belange des Strahlenschutzes erfolgreich vertreten werden.

Ob die Messgrößen eingeführt werden oder nicht, ist eine nationale Entscheidung. Da der Prozess sich dahingehend verselbstständigt hat, dass nach der Publikation des Reports einige Länder mit der Umsetzung begannen, insbesondere weil die ICRP dem Report zugestimmt hat, wächst der Druck auf andere Länder, sich diesem Vorgehen ebenfalls anzuschließen.

4.2.2 Probleme bei der Einführung der neuen Messgrößen

Entgegen der Darstellung im ICRU-Report 95, nach der die vorhandenen Dosimeter durch eine andere Kalibrierung auf die neuen Messgrößen einfach umgestellt werden können, sind fast alle eingesetzten Orts- und Personendosimeter – insbesondere Ganzkörperdosimeter – nicht einfach auf diese neuen Messgrößen umzustellen. Dosimetrie­systeme mit nur einem Detektor werden im niederenergetischen Bereich die geforderte Winkelabhängigkeit nicht erfüllen und damit künftig nicht mehr zur Anwendung kommen können. Es müssten daher bis auf wenige Ausnahmen neue Dosimeter zur Umsetzung der neuen Messgrößen entwickelt und baumustergeprüft werden.

Die vorgeschlagenen neuen Messgrößen wurden mit dem Ziel einer besonders guten Abschätzung der Schutzgröße (z. B. effektive Dosis), nicht aber der möglichst einfachen Messung, konzipiert. Hinsichtlich der in der Dosimetrie üblicherweise und unverändert geforderten relativ geringen, aber konservativen Messgenauigkeit (Faktor 2) ist der Gewinn durch die neuen Messgrößen für den praktischen Strahlenschutz sehr fraglich.

Die Optimierung im Strahlenschutz erfolgt meist durch vergleichende Vorher-/​Nachher-Messungen, die nahezu unabhängig von der Bezugsmessgröße sind.

Zudem bewegen sich die aus der Dosimetrie ermittelten Werte in den meisten Fällen sehr weit von den Grenzwerten. Erst wenn die Werte sich den Grenzwerten nähern, werden präzisere Berechnungen vorgenommen. Dabei stellen die aus der Dosimetrie gewonnenen Werte nur eine von vielen Eingangsgrößen dar, wie z. B. Richtung des Strahleneinfalls, Trageort des Dosimeters. Selbst wenn die neuen Messgrößen hier eine bessere Abschätzung bieten würden, ist der Gewinn an Genauigkeit im Hinblick auf das gesamte System des Strahlenschutzes eher als gering zu bewerten.

Durch die vorgeschlagenen neuen Messgrößen können sich, bei unveränderten Expositionsbedingungen, die Dosiswerte für Tätigkeiten im Bereich Röntgendiagnostik um bis zu einen Faktor 2 verringern. Daraus wird sich ein hoher Bedarf an Kommunikation entwickeln, um der Vermutung entgegenzutreten, dass die Veränderung der Messgrößen vor allem das Ziel verfolge, kleinere Werte für die Strahlenexposition in den nationalen Dosisregistern aufnehmen zu können.

EURADOS hat eine Arbeitsgruppe zusammengestellt, die in ihrem Bericht „Evaluation of the Impact of the New ICRU Operational Quantities and Recommendations for their Practical Application“ (EURADOS 2022) zu grundlegenden Feststellungen bezüglich

der Notwendigkeit von Neuentwicklungen von Dosimetern und Messinstrumenten
der scheinbaren Dosisreduzierungen
der Kalibrierung und Typprüfungen
der Auswirkungen für die Weltraum- und Flugbesatzungsdosimetrie
den Nutzen und Kosten

bei der Einführung der Messgrößen kommt, die im Folgenden in deutscher Übersetzung wiedergegeben werden:

Viele Arten von passiven Dosimetern und einige Messinstrumente müssen in gewissem Umfang umgestaltet werden, und in einigen Fällen − typischerweise bei Ein-Detektor-Dosimetern − wird diese Umgestaltung recht umfassend und kostspielig sein.

Bei einigen Gerätetypen wird es möglich sein, einfach die Kalibrierung zu ändern, z. B. den Kalibrierungsfaktor eines Instruments oder die effektive Kalibrierungsenergie für ein Dosimeter.
Bei anderen Typen kann es möglich sein, nachträglich Änderungen vorzunehmen, z. B. durch Hinzufügen einer anderen Filterung, um ein akzeptables Ansprechen zu erzielen.
Die bestehende Überempfindlichkeit einiger Dosimetertypen – einschließlich derjenigen, die „herkömmliches“ Lithiumfluorid LiF (Mg, Ti) verwenden – wird sich im niederenergetischen Photonenenergiebereich noch verstärken.
Bei Dosimetern mit mehreren Filtern sollte es möglich sein, Algorithmen anzuwenden oder anzupassen, um ein akzeptables Ansprechen zu erreichen. Es sind weitere Arbeiten erforderlich, um dies zu bestätigen. Auch die erwartbaren Messunsicherheiten müssen bewertet werden.
Gelingt dies nicht, müssen die Dosimeter umgestaltet werden, um eine zufriedenstellend flache Ansprechcharakteristik über die erforderlichen Energie- und Winkelbereiche zu erreichen.
Extremitäten-Dosimeter werden nur dann gute Schätzungen der neuen Größen liefern können, wenn die Kerma-Approximation mit den zugehörigen Konversionskoeffizienten verwendet werden.
In Anbetracht der Tatsache, dass einige der notwendigen Änderungen umfassend sein werden, wird von EURADOS bezweifelt, dass die Änderungen, wie von der ICRU und ICRP behauptet, „einigermaßen einfach“ sind.

Die Einführung der neuen Messgrößen wird zu einer scheinbaren Verringerung der kollektiven Ganzkörperdosen bei diagnostischen/​interventionellen Verfahren führen.

Die Verringerung ist jedoch nur scheinbar – die tatsächlichen Dosen, wie sie durch die Schutzgrößen dargestellt werden, werden sich nicht ändern. Dies sollte nicht zu einer Lockerung der Strahlenschutzmaßnahmen führen.
Im Gegensatz dazu werden sich die Dosen für Augenlinsen nicht ändern. Es wird daher sehr viel schwieriger werden, die Augenlinsendosen durch Kontrolle der Ganzkörperdosen zu kontrollieren.

Wenn die neuen Messgrößen eingeführt werden, werden die gemessenen Ganzkörperdosen aus diagnostischen/​interventionellen Verfahren nicht nur im medizinischen Bereich, sondern auch in der Veterinär- und Zahnarztpraxis erheblich (um den Faktor 2 oder mehr) sinken. Die verringerten Dosen ergeben sich daraus, dass die Konversionskoeffizienten in dem bei diagnostischen und interventionellen Röntgenverfahren verwendeten Energiebereich für die Personenäquivalentdosis Hp niedriger sind als die für Hp(10). Die Verringerung ist zu begrüßen, da die neuen Messgrößen eine bessere Schätzung der Schutzgrößen liefern als die alten in diesem Bereich. Allerdings ist bei der Interpretation dieser niedrigeren Dosen Vorsicht geboten. Insbesondere muss man sich darüber im Klaren sein, dass sich die „wahren“ Dosen, die der Einzelne erhält, nicht ändern. Eine Lockerung der Strahlenschutzmaßnahmen ist daher nicht zu rechtfertigen.

Die Augenlinsendosis wird sich nicht wesentlich ändern. Die Konversionskoeffizienten für Augenlinsen sind, außer bei hohen Photonenenergien, ähnlich wie die für Hp(3). Das bedeutet, dass alle Verfahren, bei denen die Ermittlung der Augenlinsendosis durch eine Ganzkörperüberwachung erfolgt, vermutlich nicht mehr funktionieren werden.

Die Herausforderung bei Beta-Referenzfeldern besteht darin, dass sie nicht monodirektional sind und nicht einfach gemessen werden können. Ein vollständiger Satz von Koeffizienten für die neuen Größen zur Verwendung mit Kalibrierquellen wurde jedoch bereits berechnet (Behrens 2021) und steht für die Aufnahme in die nächste Revision der ISO 6980 zur Verfügung.

Für Neutronen sind lediglich neue Konversionskoeffizienten von Fluenz- in Dosisgrößen zu implementieren. Für monoenergetische Neutronen können die Konversionskoeffizienten, gegebenenfalls nach einer Interpolation, direkt aus der ICRU 95 übernommen werden, während die Koeffizienten für häufig verwendete Radionuklidquellen in diesem Bericht vorgestellt werden.

Für die Weltraumdosimetrie schlägt die ICRP nicht die Verwendung der neuen Messgrößen vor. Empfohlen wird stattdessen die Berechnung der effektiven Äquivalentdosis unter Verwendung von Konversionskoeffizienten der Teilchenfluenz in mittlere Energiedosen in Organen oder Geweben sowie von mittleren Qualitätsfaktoren für Protonen, Neutronen, geladene Pionen, Alphateilchen und schwere Ionen (2 < Z ≤ 28) für Frauen und Männer unter Verwendung des Referenz-Voxel-Phantoms (ICRP 2009f). Obwohl die neuen operationellen Größen eine Dosisberechnung bis zu höheren Strahlungsenergien ermöglichen, ändert dies nichts an der Position der ICRP.

Die neuen Größen dürften Vorteile mit sich bringen, die zu einem besseren Strahlenschutz im Sinne einer besseren Abschätzung der effektiven Dosis führen werden. Dies gilt vor allem für Strahlungen im diagnostischen/​interventionellen Photonenenergiebereich und für energiereichere Strahlungen, wie sie in Teilchenbeschleunigern erzeugt werden.

Die neuen Werte ermöglichen eine bessere Risikoabschätzung als die derzeitigen Werte der ICRU-Publikation 47 (ICRU 1992). Dies war eine der Hauptintentionen für die Entwicklung der neuen Größen, die so konzipiert sind, dass sie die Schutzgrößen besser ersetzen und daher das Risiko besser abschätzen können.

Die Umstellung auf die Energiedosis D für Gewebereaktionen („tissue effects“) bringt einige Vorteile mit sich, z. B. bei der Unterscheidung zwischen Gewebereaktionen und den mit der Personenäquivalentdosis Hp verbundenen stochastischen Effekten. Die ICRP prüft jedoch noch, ob es korrekt ist, die Bildung von Katarakten auf der Augenlinse als Gewebereaktion zu behandeln (siehe Abschnitt 3.1.6). Es ist daher noch zu früh, um die Umstellung vollständig zu befürworten.

Bei medizinischen diagnostischen/​interventionellen Anwendungen, die Röntgenstrahlen verwenden, wird die Verwendung der neuen Messgrößen die derzeitige Überschätzung der effektiven Dosis verringern. Es ist Aufklärung erforderlich, um sicherzustellen, dass die Beteiligten verstehen, dass zwar die gemessenen Dosen sinken, die effektiven Dosen – die am ehesten eine Schädigung beschreiben – jedoch gleich bleiben.

Die Auswirkungen der neuen Messgrößen in der Weltraum- und Flugzeugdosimetrie werden minimal sein. In anderen Hochenergiebereichen, z. B. in der Umgebung von Teilchenbeschleunigern und Protonentherapieanlagen, dürften die neuen Größen jedoch eine einheitliche Bewertung der beruflichen Strahlenexposition und eine effizientere Nutzung der Strahlenschutzressourcen ermöglichen.

Für die vollständige Umsetzung der neuen Messgrößen müssen zusätzliche Ressourcen bereitgestellt werden.

Außerdem ist es wahrscheinlich, dass die einzelnen Länder die neuen Messgrößen in unterschiedlichem Tempo einführen werden. Dies ist nicht verwunderlich, denn es spiegelt die Geschichte der bestehenden operativen Messgrößen wider. Im vorliegenden Fall könnten jedoch Bedenken hinsichtlich der Kosten insbesondere Länder betreffen, deren Strahlenschutzressourcen begrenzt sind. Diese Überlegungen bedeuten, dass die vollständige Einführung möglicherweise erst in den späten 2030er Jahren erreicht wird. Während einer so langen Übergangszeit würde es zwangsläufig zu einem Verlust an Harmonisierung kommen, da verschiedene Länder unterschiedliche Größen verwenden würden.

Mit der Einführung der neuen Messgrößen besteht nach Ansicht der SSK die Gefahr, dass der Strahlenschutz die bisher weltweite Einheitlichkeit in den Messgrößen verliert, die für ein gemeinsames Verständnis und für den praktischen Austausch von Daten unerlässlich ist.

Aus diesem Grund ist der Prozess zwischen ICRU und ICRP trotz der Bemühungen um Transparenz und Beteiligung kritisch zu bewerten.

Zum jetzigen Zeitpunkt ist nicht klar, ob die Vorteile, die sich aus der Einführung der neuen Größen ergeben, die Nachteile überwiegen werden. Weitere Arbeiten zu diesem Thema werden empfohlen.

Fazit: Da die Folgen der Einführung neuer Messgrößen weitreichend sind und die Entwicklung neuer Messsysteme und Verfahren Zeit und Investitionen erfordert, empfiehlt die SSK, dass die ICRP den Dialog mit der ICRU sucht, um die Einführung der neuen Messgrößen unter den jetzt vorliegenden Ergebnissen von EURADOS kritisch zu über­denken. Ein Austausch mit CCRI und der IAEA zu diesem Thema wird ebenfalls empfohlen.

4.2.3 Relative Biologische Wirksamkeit und Strahlungs-Wichtungsfaktor

Die Energiedeposition in Geweben und Organen ist je nach Strahlenart verschieden. Sie kann durch den sogenannten Linearen Energietransfer (LET) charakterisiert werden, der bei Durchdringung eines Mediums durch eine bestimmte Strahlung die Dichte der an Sekundärelektronen übertragenen Energie pro Wegstrecke angibt. Der LET von Röntgen- und Gammastrahlung sowie Elektronenstrahlen ähnlicher Energien liegt etwa bei 0,2 keV µm-1 (locker ionisierende Strahlung), während für Neutronen, beschleunigte Ionen und Alpha-Teilchen Werte von 10 keV µm-1 bis 100 keV µm-1 oder mehr gefunden werden (dicht ionisierende Strahlung).

Wegen der unterschiedlichen Energiedepositionsmuster besitzen locker und dicht ionisierende Strahlung nicht die gleiche Relative Biologische Wirksamkeit (RBW). Diese Größe ist definiert als das Verhältnis der Energiedosis Dref einer Referenzstrahlung (in der Regel 200 kV Röntgenstrahlung), die einen bestimmten biologischen Effekt hervorruft, zur Dosis Dtest der jeweils untersuchten Test-Strahlung, die für das Eintreten der gleichen Wirkung unter gleichen Bedingungen am gleichen biologischen Objekt notwendig ist. Für unterschiedliche biologische Endpunkte beziehungsweise unterschiedliche Effektniveaus ergeben sich unter Umständen sehr verschiedene RBW-Werte. Aus diesem Grund ist die RBW auch abhängig von der Dosis.

Im Strahlenschutz werden verschiedene Strahlenarten durch die Organ-Äquivalentdosis HT = wR DT charakterisiert, die man durch Multiplikation der Energiedosis D im Organ T mit einem Strahlungs-Wichtungsfaktor wR erhält. Dieser Faktor reflektiert typische und relevante Werte der Relativen Biologischen Wirksamkeiten in Hinsicht auf stochastische Effekte. Im Gegensatz zur RBW ist der Strahlungs-Wichtungsfaktor dosisunabhängig. Er beruht bis zu einem ge­wissen Grad auf experimentellen Daten, ist aber letztlich ein normativ festgelegter Wert, der eine vereinfachte Handhabung unterschiedlicher Strahlenarten im Strahlenschutz ermöglichen soll. Es muss daher immer wieder diskutiert werden, welche Relativen Biologischen Wirksamkeiten als „typisch und relevant“ anzusehen sind und welche Strahlungs-Wichtungsfaktoren einen angemessenen Schutz vor den jeweils diskutierten Strahlenarten gewährleisten. Dementsprechend hat die ICRP einige ihrer Empfehlungen für die Strahlungs-Wichtungsfaktoren im Laufe der letzten Jahrzehnte mehrfach revidiert.

Für Neutronen zum Beispiel wurde in ICRP-Publikation 26 (ICRP 1977a) ein Wichtungsfaktor von 10 angegeben. Man erkannte aber später, dass die Relative Biologische Wirksamkeit in Hinsicht auf Krebsinduktion sehr stark von der Neutronenenergie abhängt, weshalb ICRP-Publikation 60 (ICRP 1991a) fünf verschiedene Werte zwischen 5 und 20 für fünf verschiedene Energiebereiche angab. Das wurde in ICRP-Publikation 103 (ICRP 2007b) weiter verfeinert, indem neben der stufenförmigen Abhängigkeit des Faktors auch eine kontinuierliche (drei stetige Funktionen für drei Dosisbereiche) angeboten wurde. Der höchste Faktor blieb allerdings weiterhin 20, und zwar bei einer Neutronenenergie von 1 MeV.

Eine besondere Rolle für die Abschätzung des Neutronenrisikos spielt der Unterschied in der Neutronenkomponente der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki. Sasaki et al. (Sasaki et al. 2016) schließen aus einer geringfügigen Supralinearität des ERR bei Kolon-Dosen von 200 mGy bis 400 mGy, die in Nagasaki, aber nicht in gleichem Maße in Hiroshima beobachtet wurde, auf eine zugrunde liegende Dosisabhängigkeit der Relativen Biologischen Wirksamkeit von Neutronen. Ihren Berechnungen zufolge sollte die RBW für Neutronendosen zwischen 10 mGy und 100 mGy bei 10 bis 30 liegen, für geringere Dosen jedoch bis etwa 85 ansteigen. Mit zunehmender Verfügbarkeit von Daten aus der Life Span Study wird dieser Punkt Gegenstand weiterer Analysen und Diskussionen sein.

Was die RBW von Protonen betrifft, so senkte die ICRP ihre Empfehlung für einen Strahlungs-Wichtungsfaktor von 10 in ICRP-Publikation 26, über 5 in ICRP-Publikation 60 zu 2 in ICRP-Publikation 103. Hier liegen aber weniger neue strahlenbiologische Erkenntnisse zugrunde als vielmehr die Tatsache, dass die vor 1977 in strahlenbiologischen Experimenten verwendeten Protonen relativ geringe Energien und damit einen hohen LET aufwiesen, während in den darauffolgenden Jahren höherenergetische Protonen im Mittelpunkt der Untersuchungen standen, bis hin zu solchen mit Energien von 100 MeV bis 200 MeV, wie sie seit etwa 2000 in der Strahlentherapie eingesetzt werden. Letztere haben einen so geringen LET, dass sie kaum noch als „dicht ionisierende Strahlung“ zu bezeichnen sind. Trotz der beschriebenen Verschiebung des Interesses zu höheren Energien ist zu überlegen, ob die ICRP nicht auch für Protonen (und schwerere Ionen) verschiedene Strahlungs-Wichtungsfaktoren je nach Energie angeben könnte und sollte, wie das für Neutronen bereits der Fall ist.

Für Alpha-Teilchen gilt seit ICRP-Publikation 26 der gleiche Strahlungs-Wichtungsfaktor von 20, und es scheinen keine experimentellen oder epidemiologischen Daten vorzuliegen, die eine Änderung dieser Empfehlung nahelegen würden. Dennoch sollte dieser Punkt wesentlich eingehender untersucht werden, da der Strahlungs-Wichtungsfaktor für Alpha-Strahlung bei der Dosimetrie der Radon-Exposition eine zentrale Rolle spielt und nach wie vor Diskrepanzen zwischen dosimetrischem Ansatz und epidemiologischem Ansatz bei der Radon-Dosiskonversion bestehen (siehe Abschnitt 3.1.2)

Die Relative Biologische Wirksamkeit spielt nicht nur eine Rolle für die Abschätzung von stochastischen Risiken (und damit als Basis für die Festlegung von Strahlungs-Wichtungsfaktoren), sondern auch für die Abschätzung von Ge­webereaktionen (oder deterministischen Effekten). Bei der Tumortherapie mit Neutronen, Protonen und schwereren Ionen findet immer auch eine Exposition des den Tumor umgebenden Gewebes statt. Für eine Berechnung der daraus resultierenden Risiken ist die Äquivalentdosis nicht in jedem Fall geeignet, da die Strahlungs-Wichtungsfaktoren, wie gerade dargestellt, eine Gewichtung bezüglich stochastischer Risiken widerspiegeln. Für diese Art von Effekten sind die Relativen Biologischen Wirksamkeiten häufig um ein Vielfaches größer als diejenigen für Gewebereaktionen. So wurden für reproduktiven Zelltod, Apoptose und Zellzyklusstörungen durch Neutronen mit 14 MeV (Maximalenergie) Werte im Bereich von 2 bis 6 gefunden (Slabbert et al. 2000, Oya et al. 2008, Zölzer und Streffer 2008). Bei einer höheren Neutronenenergie von 66 MeV (Maximalenergie) lag die RBW für reproduktiven Zelltod eher im Bereich 2 bis 3 (Slabbert et al. 2000). Bei 14 MeV, nicht jedoch bei 66 MeV, hing die RBW von der Empfindlichkeit gegenüber Gammastrahlung und damit vermutlich von der Reparaturkapazität der bestrahlten Zellen ab.

Etwas geringere RBW-Werte im Bereich von 1,2 bis 2,2 wurden für zelluläre Effekte von therapeutisch genutzten Protonen berichtet (Sorensen et al. 2021). Für den „spread-out Bragg peak“ (SOBP) wird in der Regel eine RBW von 1,1 bis 1,3 angenommen, mit einer möglichen Erhöhung bis zu 2,1 kurz vor dem Dosisabfall hinter dem Tumor (Durante 2014). Es wird aber auch diskutiert, dass genauere Bestimmungen des LET vor, im und hinter dem Tumor erforderlich sein könnten, um eine genauere Abschätzung der RBW für Gewebereaktionen zu ermöglichen (Kalholm et al. 2021).

Eine relativ breite Variabilität der RBW wurde für die Wirkung von dicht ionisierender Strahlung auf das reproduktive System und die fötale Entwicklung festgestellt. Die Werte bewegten sich im Allgemeinen im Bereich von 2 bis 7, es wurden aber vereinzelt auch um eine Größenordnung höhere Werte berichtet, insbesondere für inkorporierte Radionuklide (Wang und Yasuda 2020).

Zunehmende Beachtung findet auch die Frage, inwieweit die Prozesse auf der Ebene von Molekülen, Zellen und Geweben, die durch dicht ionisierende Strahlung in Gang gesetzt werden, sich grundsätzlich von denen im Falle locker ionisierender Strahlung unterscheiden (Durante 2014, Durante und Flanz 2019, Permata et al. 2021, Walenta und Mueller-Klieser 2016).

Fazit: Die SSK sieht eine Reihe von Hinweisen aus RBW-Studien, die Anlass zu einer Überprüfung der Strahlungs-Wichtungsfaktoren geben. Insbesondere für Alphastrahlung, die bei der Dosimetrie der Radon-Exposition eine zentrale Rolle spielt, ist nicht klar, ob der gegenwärtige Wert von 20 deren Risikobeitrag angemessen wiedergibt.

4.2.4 Digitalisierung, KI

Die Auswirkungen der Digitalisierung im Strahlenschutz folgen den internationalen und nationalen Umsetzungsstrategien für die digitale Transformation.

Für den Strahlenschutz ist es von großer Bedeutung, dass der internationale Abstimmungsprozess konstruktiv begleitet wird und eigene Belange und Interessen benannt werden. Es ist deshalb die Empfehlung der SSK, dass ICRU und ICRP prüfen, ob es möglich ist, sich gemeinsam dem „Joint Statement of Intent on the digital transformation in the international scientific and quality infrastructure“3 (BIPM et al. 2022) anzuschließen und dann bei der Weiterentwicklung und Ausgestaltung als Mitgestaltende aktiv zu werden.

Das BIPM, die Internationale Organisation für gesetzliches Messwesen (OIML), die International Measurement Confederation (IMEKO), der Internationale Wissenschaftsrat (ISC) und sein Datenausschuss (CODATA) haben am 30. März 2022 eine gemeinsame Absichtserklärung zur digitalen Transformation der internationalen Wissenschafts- und Qualitätsinfrastruktur unterzeichnet. Die gemeinsame Erklärung bietet den unterzeichnenden Organisationen eine Plattform, um ihre Unterstützung für die Entwicklung, Umsetzung und Förderung des SI Digital Framework als Teil einer umfassenderen digitalen Transformation der internationalen Wissenschafts- und Qualitätsinfrastruktur in einer für ihre jeweilige Organisation angemessenen Weise zu bekunden. Es wird erwartet, dass weitere internationale Organisationen die gemeinsame Erklärung in Zukunft unterzeichnen werden. Die gemeinsame Erklärung ist Teil einer laufenden Initiative des Internationalen Komitees für Maße und Gewichte (CIPM) und seiner Task Group on the Digital SI (CIPM-TG-DSI) zur Entwicklung und Einführung eines weltweit einheitlichen und sicheren Datenaustauschformats auf der Grundlage des Internationalen Einheitensystems (SI).

Neben der internationalen Entwicklung spielen für den Strahlenschutz auch die nationalen Erfahrungen eine große Rolle. Die digitale Transformation berührt das gesetzliche Messwesen im besonderen Maße (Mess- und Eichgesetz und die Mess- und Eichverordnung, diese ist auch relevant für den Bereich „Digitalisierung der Energiewende“) (MessEG 2013, MessEV 2014, Thiel und Leffler 2013).

Die Qualitätssicherung der erhobenen Messdaten ist durch das MessEG/​MessEV in besonderem Maße gegeben. Diese sehr hohen Qualitätsstandards werden bei der messtechnischen Erfassung von anderen Expositionsarten (Beta- oder Neutronenstrahlung, sowie Radon-Exposition) nicht erreicht. Das macht Additionsverfahren zur Be­stimmung einer Gesamtdosis problematisch, da die Daten eine unterschiedliche Grundlage und Qualität besitzen. Dies kann die Akzeptanz erschweren und stellt auch eine bürokratische Hürde innerhalb der Anwendung des MessEG dar.

Fazit: Es sollte geprüft werden, inwieweit sich die Qualitätssicherungsverfahren im Strahlenschutz für die Erfassung unterschiedlicher Expositionsarten angleichen lassen und sich dieses im Rahmen der digitalen Transformation einbetten lässt.

4.2.5 Citizen Science im Strahlenschutz

Citizen Science ist ein wissenschaftlicher Ansatz, bei dem Mitglieder der Bevölkerung – „Bürgerwissenschaftler“ – in den Forschungsprozess einbezogen werden und ihnen eine aktive Rolle zukommt. Diese „Bürgerwissenschaftler“ sind nicht hauptberuflich in der fachzugehörigen Wissenschaft, wie beispielsweise der Strahlenforschung, tätig. Die Mitarbeit in Citizen-Science-Projekten durch diese „Bürgerwissenschaftler“ erfolgt ehrenamtlich. Die Beteiligung umfasst beispielsweise die Erhebung von Expositionsdaten, wie Gamma-Ortsdosisleistung im jeweiligen Wohngebiet (Bonn et al. 2016). Üblicherweise werden solche Citizen-Science-Projekte durch die institutionelle Wissenschaft initialisiert, geleitet und ausgewertet. Die „Bürgerwissenschaftler“ bringen eigenständig erhobene Daten ein. Diese Projekte haben in der Regel die Form eines Top-down-Ansatzes (Bonney et al. 2009). Daneben existieren auch solche Citizen-Science-Projekte, die von der organisierten Zivilgesellschaft initiiert werden und erst ab einem bestimmten Zeitpunkt institutionell wissenschaftlich tätige Personen einbeziehen (Bonn et al. 2016). Diese Citizen-Science-Projekte werden als Grassroots Citizen Science bezeichnet und folgen einem Bottom-up-Ansatz (Van Oudheusden und Abe 2021).

4.2.5.1 Beispiele für Citizen Science im Strahlenschutz

Im Bereich Strahlenschutz können Citizen-Science-Projekte eine entscheidende Rolle sowohl bei der Datengewinnung als auch bei der Kommunikation mit der Bevölkerung spielen. Durch den heutigen technologischen Fortschritt könnte insbesondere für die Datengewinnung die Beteiligung von „Bürgerwissenschaftlern“ im Strahlenschutz gestärkt werden. Mobile Anwendungen (mobile apps) für den Strahlenschutz und das Monitoring sind jedoch noch recht neu und wurden im Wesentlichen nach dem Fukushima-Unfall entwickelt (Liutsko et al. 2018).

Ein Beispiel für die Verknüpfung von Expositionsmessung, Monitoring und Kommunikationsaspekten in die Bevölkerung ist das Citizen-Science-Projekt Safecast (Brown et al. 2016), welches zu den Grassroots-Citizen-Science-Projekten zählt (Van Oudheusden und Abe 2021). Safecast wurde im Zuge der Katastrophe von Fukushima im März 2011 initiiert und ist eine internationale, von Freiwilligen getragene gemeinnützige Organisation, deren Ziel es ist, nützliche, zugängliche und detaillierte Umweltdaten zu erstellen. Alle Safecast-Daten werden kostenlos unter der Lizenz CC0 veröffentlicht. Bereits kurz nach der Katastrophe begannen Einzelpersonen aus der Bevölkerung und kleine Gruppen von Mitgliedern der Bevölkerung mit Messungen von Strahlungswerten, indem sie sich Messgeräte ausliehen oder kauften, um eigene Daten über die durch radioaktive Kontamination verursachte Strahlung zu ermitteln. Diese Bemühungen entstanden als Reaktion auf den dringenden Bedarf der Öffentlichkeit an zuverlässigeren und verwertbaren Daten, da Regierungsbehörden, Kernkraftwerksbetreiber und Notfalldienste es versäumten, der Öffentlichkeit nach der Katastrophe solche Daten zur Verfügung zu stellen und sogar absichtlich verzerrte Informationen verbreiteten, um eine Illusion von Sicherheit aufrechtzuerhalten (Morita et al. 2013). Dieses Citizen-Science-Projekt wuchs schnell in Größe, Umfang und geografischer Reichweite (Safecast 2022). Das Ziel von Safecast in Japan ist das Monitoring und der offene Austausch von Informationen über Umweltradioaktivität sowie weiteren Schadstoffen. Die Gruppe um Safecast hat eine partizipative Open-Source-Lösung zur Kartierung von Strahlung im Sinne eines ODL(Ortsdosisleistung)-Messnetzes entwickelt und die im Zuge dieses Projekts gewonnenen Informationen haben sich sowohl für die Nutzung von Personen mit Expertise, politischen Entscheidungstragenden als auch der Kommunikation mit der Öffentlichkeit als nützlich erwiesen (Brown et al. 2016). Als eines der zentralen Erkenntnisse des Projekts Safecast wird die Möglichkeit bezeichnet, dass Mitglieder der Bevölkerung ihre eigenen Häuser und Umgebung nach der Katastrophe selbstständig überwachen und sich hierdurch von der Regierung unabhängig machen konnten. Die Autorenschaft einer zu Safecast gehörenden Publikation berichtet, dass diese eigenverantwortlichen Messungen die Mitglieder der Bevölkerung in ihrer Selbstständigkeit und Eigenständigkeit stärken und eine nützliche Entscheidungshilfe sein können (Brown et al. 2016), beispielsweise hinsichtlich des Verbleibens am angestammten Wohnort. Die Wahrnehmung der Menschen, welches Strahlenrisiko akzeptabel ist, ist sehr unterschiedlich und abhängig von Wissensstand, beruflichem Hintergrund und aktueller Situation. Im Rahmen des Projekts Safecast wurde es vermieden vorzugeben, was als sicher wahrgenommen werden sollte. Vielmehr sollten den beteiligten Mitgliedern der Bevölkerung Werkzeuge und Ressourcen bereitgestellt werden, welche sie befähigen, die Komplexität von Strahlenmessungen zu verstehen und ihre eignen Entscheidungen treffen zu können. Gleichwohl resümieren die Autoren, dass, auch wenn Safecast dazu beitragen konnte, dass entscheidende Lücken zur Expositionssituation zeitnah geschlossen werden konnten und die Mitglieder der Bevölkerung dazu befähigt wurden, informierte Entscheidung über beispielsweise den Verbleib am Wohnort treffen zu können, es final die Aufgabe und Verantwortung einer Regierung sei, solche Informationen bereitzustellen und zu kommunizieren (Brown et al. 2016).

4.2.5.2 Positive Effekte und Limitationen von Citizen Science

Grundsätzlich können Citizen Science und die damit verbundenen Forschungsprojekte eine Reihe von positiven Effekten sowohl für die beteiligten „Bürgerwissenschaftler“ als auch für institutionell wissenschaftlich Tätige und schlussendlich die gesamte Gesellschaft haben (Kenens 2020, Kenens et al. 2020). Für die „Bürgerwissenschaftler“ bietet Citizen Science die Möglichkeit, zum wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn beizutragen und daran teilzuhaben, was dem Wissenschaftsverständnis zugutekommen kann. Zusätzlich bietet Citizen Science auch die Möglichkeit, innovative Ideen in die Wissenschaft einbringen zu können. Dies kann allgemein zu mehr Akzeptanz und Verständnis für wissenschaftliche Problemstellungen und deren Bearbeitung führen. Nicht zuletzt kann das Mitwirken am Erkenntnisgewinn je nach Forschungsfrage sowohl zur Verbesserung der Umwelt und Gesellschaft als auch zur individuellen Freude beitragen (Bürger schaffen Wissen – Die Citizen Science Plattform, Wissenschaft im Dialog 2023). Für institutionelle Wissenschaftler schafft die Einbindung von „Bürgerwissenschaftler“ die Möglichkeit der Erhebung großer, räumlich und zeitlich skalierter Datensätze und die Inspiration und Generierung von Forschungsfragen aus der Gesellschaft heraus. Zusätzlich kann es Akzeptanz von Forschungsergebnissen in der Gesellschaft stärken. Für die Gesellschaft liegt der Vorteil in der Mitgestaltung an transparenter Forschung sowie der besseren Übertragung von Forschungsergebnissen in die Praxis durch frühzeitige Einbindung von gesellschaftlichen Akteuren und damit in der Stärkung der Zivilgesellschaft und Verwaltung (Bürger schaffen Wissen – Die Citizen Science Plattform, Wissenschaft im Dialog 2023). Die Einbeziehung von „Bürgerwissenschaftlern“ in die laufende Forschung zusammen mit Fach­kräften für Dosimetrie, für Sozialwissenschaften und für Notfallmaßnahmen sowie Behörden in interdisziplinäre Projekte kann das Verständnis und Vertrauen zwischen den verschiedenen Agierenden im Bereich Strahlenschutz und Notfall­maßnahmen verbessern. Darüber hinaus bieten Citizen-Science-Projekte die Möglichkeit, die Kommunikation von Strahlenschutzthemen in die Bevölkerung zu stärken. Dies könnte zum Beispiel durch den Kontakt von Fachkräften des Strahlenschutzes zu Schulen und anderen Bildungseinrichtung erzielt werden, insbesondere, wenn aktive Teilnehmende an Citizen-Science-Projekten im Strahlenschutz gewonnen werden können (Van Oudheusden et al. 2019). Diese Teilnehmenden wiederum könnten in ihrem direkten Umfeld als Multiplikatoren für diese Thematik dienen.

Gleichwohl fehlen aktuell regulatorische Richtlinien – ein „Good Practice Citizen Science in Radiation Protection“ – der einen Rahmen mit qualitativen Mindeststandards für die Durchführung solcher Studien gibt, insbesondere im Hinblick auf die Expositionsmessungen, aber auch auf die Interaktion zwischen institutionellen und „Bürgerwissenschaftlern“. Erfolgreich durchgeführte Citizen-Science-Projekte im Strahlenschutz könnten dann auch zu einer gezielten Kommunikation von Ergebnissen „aus der Bevölkerung, in die Bevölkerung“ verwendet werden. Die European Radiation Dosimetry Group (EURADOS) hat in ihrer Strategic Research Agenda (SRA), welche den zukünftigen Forschungsbedarf im Bereich Dosimetrie in der Strahlenforschung in Europa beschreibt, bereits das Thema Citizen Science verankert. EURADOS konstatiert, dass im Falle eines nuklearen Zwischenfalls eine schnelle, effiziente und zuverlässige Abschätzung der Dosen für die betroffenen Personen eine Grundvoraussetzung für die weiteren Entscheidungsfindungen der zuständigen Behörden sei. Die Dosisabschätzung wird dadurch erschwert, dass mehrere Expositionsszenarien gleichzeitig vorliegen können, z. B. interne Exposition durch inkorporierte Radionuklide zusammen mit externer Exposition aus verschiedenen Quellen. Das Monitoring oder die Dosisleistungsmessung mit verschiedenen Methoden (manuell, stationär, im Auto, in der Luft) sind in der Regel der erste Schritt zur Bewertung der Dosen für Bevölkerungsgruppen und zur Ermittlung kritisch exponierter Untergruppen. Aufgrund der Verfügbarkeit von erschwinglichen Dosisleistungsmessgeräten für die Öffentlichkeit können „Bürgerwissenschaftler“ einen wichtigen Beitrag hierzu leisten. EURADOS weist in ihrer SRA darauf hin, dass hierfür allerdings die Entwicklung standardisierter und validierter Protokolle erforderlich sei. Zusätzlich sei die Entwicklung und Bewertung zugänglicher, benutzerfreundlicher, genauer und zuverlässiger Messinstrumente mit klaren Anleitungen zur Handhabung durch die „Bürgerwissenschaftler“ zur Durchführung eigener Strahlenmessungen essenziell. Im Februar 2019 wurde in Brüssel für Strahlenschutzforschende, Mitglieder von Sicherheitsbehörden, Vertretende der Zivilgesellschaft und politische Entscheidungstragende ein Workshop unter dem Titel „Learning from Citizen Science after Fukushima – Probing the Role and Potential of Citizen Science in Nuclear Science and Technology Governance in Japan and Belgium“ abgehalten. Im Rahmen dieses Workshops wurden Herausforderungen von Citizen Science im Bereich Strahlenschutz nach Notfallsituationen benannt und Empfehlungen ausgesprochen (Van Oudheusden et al. 2019). Als Limitation wurde auch beschrieben, dass es aktuell keine standardisierten Vorgaben zum Umgang mit Grassroots-Citizen-Science-Projekten gibt. Wiederkehrende Fragen in diesem Kontext seien „Wie können wir mit ‚Bürgerwissenschaftlern‘ zusammen­arbeiten“ und „Wie unterstützen wir sie?“ (Van Oudheusden et al. 2019). Weiterhin wurde betont, dass die Berücksichtigung von Kontextfaktoren in der Zusammenarbeit von institutionellen wissenschaftlich Tätigen und „Bürger­wissenschaftlern“ wichtig sei. Damit ist beispielsweise die Berücksichtigung von politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen im Kontext nuklearer Sicherheit gemeint. In Japan hat Safecast ein Monitoring von Strahlung durch Mitglieder der Bevölkerung unmittelbar nach einem lebensverändernden katastrophalen Ereignis initialisiert, welches von einem dringenden öffentlichen Sicherheitsbedürfnis ausgelöst wurde, das nach Ansicht vieler von den offiziellen Institutionen und der Regierung nicht erfüllt wurde (NAIIC 2012). In Europa wiederum hat ein solches Ereignis nicht stattgefunden (auch wenn der Unfall von Tschernobyl 1986 Teil des kollektiven Gedächtnisses ist und zu einigen Initiativen zur Überwachung der Strahlung durch die Bürgerschaft geführt hat), was dazu beitragen könnte, dass das Interesse in der Bevölkerung an dieser Thematik weniger stark ausgeprägt ist als in Japan (Van Oudheusden et al. 2019). Als weitere Herausforderung im Bereich-Citizen-Science-Projekte im Strahlenschutz wurden sowohl begrenzte zeitliche als auch monetäre Ressourcen, Fragen der Verantwortlichkeit und Erwartungen an ein Citizen-Science-Projekt genannt. Des Weiteren weisen die an dem Workshop Teilnehmenden auf die Gestaltung einer möglichst symmetrischen Beziehung zwischen institutionell wissenschaftlich Tätigen und „Bürgerwissenschaftlern“ hin. „Bürgerwissenschaftler“ sollten nicht nur als „Liefernde“ von Expositionsdaten gesehen werden, sondern ihnen sollte eine aktive Rolle in der wissenschaftlichen Ausgestaltung von Citizen-Science-Projekten zukommen (Van Oudheusden et al. 2019), im Sinne der co-design-Methode (Slattery et al. 2020).

Fazit: Aktuell gibt es keine Empfehlung der ICRP zur Durchführung von Citizen-Science-Projekten im Kontext des Strahlenschutzes, wie beispielsweise nach einer Katastrophe wie in Fukushima. Würde ICRP nach Prüfung die Durchführung solcher Projekte als gewinnbringend betrachten, wäre die Erarbeitung und Etablierung von regulatorischen Richtlinien – ein „Good Practice Citizen Science in Radiation Protection“ – empfehlenswert.

4.2.6 Strahlenschutzfragen bei der Anwendung neuer Verfahren in der Medizin

Neben der natürlichen Strahlenexposition erfahren Personen auch eine Exposition gegenüber zivilisatorischen Quellen. Diese zivilisatorische Exposition resultiert fast vollständig aus medizinischen Anwendungen. Für Deutschland beträgt die durchschnittliche hieraus resultierende jährliche effektive Dosis derzeit ca. 1,7 mSv pro Person der Be­völkerung (BMUV 2022).

Stetige Weiterentwicklungen, zum Beispiel in der Gerätetechnik, der Radiopharmazie und der Informationstechno­logie, führen fortlaufend zur Etablierung neuer Verfahren und Anwendungen in der klinischen Routine. Neue Technologien und Anwendungen, die im Zusammenhang mit dem Einsatz ionisierender Strahlung stehen, sollten möglichst auch im Hinblick auf die Strahlenexposition sowohl für zu untersuchende oder zu behandelnde als auch für anwendende Personen Verbesserungen im Vergleich zu den bereits etablierten Verfahren bieten. Die Anwendung neuer Technologien und Methoden in der Medizin kann grundsätzlich auch zu erhöhten Expositionen für zu behandelnde oder zu untersuchende Personen führen. Dies kann akzeptabel sein, wenn die höhere Exposition gerechtfertigt ist, indem hieraus z. B. ein Informationsgewinn oder eine verbesserte Prognose resultieren. Nicht akzeptabel dagegen ist, wenn unsachgemäße Anwendung, unreflektierter Einsatz ohne ausreichende Indikationsstellung, fehlende Qualitätssicherung oder nicht zuletzt technische Probleme bei Einsatz neuer Technologien zu erhöhten Expositionen oder einer Reduktion des diagnostischen oder therapeutischen Nutzens führen.

Anwendungsfehler entstehen häufig aus einer Kombination von technischer Fehlfunktion und Problemen in der Bedienung. Insbesondere ist bei neuen Verfahren zu berücksichtigen, dass Erfahrungen über mögliche Probleme und Fehlerquellen nur in geringerem Umfang vorliegen als bei etablierten Verfahren. Daher ist im klinischen Einsatz eine sorgfältige Einweisung in neue Techniken und Schulung der anwendenden Personen mit dem Ziel einer größtmög­lichen Sicherheit für anwendende sowie für zu untersuchende oder zu behandelnde Personen essenziell. Zudem ist eine kritische Evaluierung von möglichen neuen Risiken durch neue Verfahren erforderlich. Idealerweise sollten bereits bei ersten klinischen Tests und damit weit vor der breiten Einführung in die klinische tägliche Routine systematische und geplante Studien zur Strahlenexposition durchgeführt werden. Ziel solcher Studien ist die Erfassung der Dosis und die Optimierung der Untersuchungs- und Behandlungsprotokolle, um sicherstellen zu können, dass die medizinische Strahlenexposition so gering wie sinnvollerweise möglich gehalten wird.

Das oben Beschriebene spiegelt sich in der Richtlinie 2013/​59/​EURATOM (Euratom 2014) wider und ist im deutschen Strahlenschutzrecht bereits verankert. So müssen gemäß der EURATOM-Richtlinie neue Tätigkeitsarten gerechtfertigt sein (Artikel 55 Absatz 2 Buchstabe a). Hierbei stellt eine kritische Nutzen-Risiko-Abwägung neben der Sicherstellung eines angemessenen Qualitätsniveaus eine zentrale Forderung von Euratom dar und trägt den Grundprinzipien des Strahlenschutzes (Rechtfertigung, Dosisbegrenzung und Optimierung) Rechnung. In Deutschland besteht unter anderem die Pflicht, dass bei Anwendungen im Rahmen medizinischer Forschung die Exposition der in das Forschungsvorhaben eingeschlossenen Personen abgeschätzt wird (§ 138 Absatz 5 StrlSchV).

Jenseits der originären Fragen des medizinischen Strahlenschutzes sollte die Basis jeder Entscheidung zur Einführung einer neuen Technologie in der Medizin ein Health Technology Assessment bilden (WHO 2011). Einen möglichen Anhalt für das Vorgehen bietet (WHO 2021), wobei die Eigenheiten der Anwendung ionisierender Strahlung zu berücksichtigen sind. Für die Bewertung von Nutzen und Risiko beim Einsatz ionisierender Strahlung in neuen Technologien oder Verfahren wäre es hilfreich, wenn international akzeptierte Kriterien vorlägen.

Was beim Einsatz neuartiger Gerätetechnologien im Hinblick auf die Nutzen-Risiko-Abwägung und die Definition von Qualitätsstandards zu berücksichtigen sein kann, sei am Beispiel der PET-CT (Positronen-Emissions-Tomographie in Kombination mit Computertomographie) illustriert, die am Anfang der 2000er Jahre in die klinische Routine eingeführt wurde. Bei diesem bildgebenden Verfahren werden in einer Untersuchung sowohl verschiedene Stoffwechselfunktionen mittels radioaktiv markierter Arzneimittel als auch anatomische Eigenschaften der untersuchten Körperregion mittels Röntgenstrahlung dargestellt.

Dieses Verfahren ermöglicht zum einen eine verbesserte PET-Aufnahmetechnik durch eine CT-gestützte Absorptionskorrektur. Abhängig von der Indikation der Untersuchung kann statt der hierfür und zur anatomischen Orientierung oft ausreichenden niedrig-Dosis-CT eine dosisintensivere diagnostische CT-Aufnahme erforderlich sein. Zum anderen ermöglicht die Kombination von PET und CT eine erheblich verbesserte Möglichkeit der Diagnose verschiedener Krankheiten durch die Fusion von Informationen sowohl über die Physiologie als auch über die Morphologie, wodurch eine anatomische Zuordnung ermöglicht wird. Dies ist von erheblichem Mehrwert z. B. für die Tumortherapie, da Tumoren und Metastasen von anderen Strukturen deutlich unterschieden werden können, was mit den vorher verfügbaren Verfahren nicht mit derselben Aussagekraft möglich war.

Bei der Rechtfertigung des Einsatzes von PET-CT muss sorgfältig auf eine gute Anwendungspraxis geachtet werden, da hier sowohl Expertise im Bereich Nuklearmedizin als auch Radiologie erforderlich ist (IAEA 2008) und z. B. im Fall der PET-CT-gestützten Strahlentherapie auch in der Radioonkologie. Eine umfassende Schulung des Personals ist von größter Bedeutung. Nutzen und Risiko sind nicht nur für CT und PET getrennt zu bewerten, sondern auch für deren Kombination. Dabei sind sowohl die für die zu untersuchende oder zu behandelnde Person resultierende Exposition als auch die Art und Schwere der Erkrankung zu berücksichtigen. Die Qualitätssicherung muss sich nicht nur auf jede Gerätemodalität einzeln, sondern auch auf die Kombination erstrecken.

Fazit: Im Interesse der Patientensicherheit ist eine Nutzen-Risiko-Bewertung unabdingbar, die den Grundprinzipien der Rechtfertigung des Strahlenrisikos und der Dosisreduktion beziehungsweise -optimierung Rechnung trägt. Die ICRP sollte hier die Formulierung von einheitlichen und standardisierten Kriterien zur Nutzen-Risiko-Bewertung diskutieren.

5 Stellungnahme

In den Kapiteln 2 bis 4 wurden eine Reihe von Themenfeldern identifiziert, die prinzipiell geeignet sind, in eine künftige Überarbeitung der ICRP-Grundsatzempfehlungen Eingang zu finden. Dabei handelt es sich in der dortigen Darstellung jedoch zunächst nur um eine reine Auflistung und Beschreibung der Themen ohne jegliche Rangordnung hinsichtlich der Relevanz und ohne Berücksichtigung der damit für den Strahlenschutz verbundenen Konsequenzen.

In der folgenden Stellungnahme ordnet die SSK den genannten Themenfeldern eine Rangordnung zu, anhand derer eine Priorisierung der zu diskutierenden Schwerpunkte erkennbar beziehungsweise ableitbar ist. Diese Priorisierung betrifft sowohl die Relevanz in Bezug auf die angestrebte Überarbeitung und Aktualisierung von ICRP-Publikation 103 und richtet sich demzufolge als Empfehlung der SSK an die ICRP, sie zeigt aber auch aus Sicht der SSK den Bedarf an Forschung und Beratung im nationalen Rahmen und richtet sich demnach in Erfüllung des in Kapitel 1 genannten Beratungsauftrags an das BMUV.

Die Verabschiedung der Grundsatzempfehlung in ICRP-Publikation 103 bedeutete zwar einen äußerst wichtigen Meilenstein in der Entwicklung des Strahlenschutzes, sie war jedoch keinesfalls der Abschluss von Diskussionen in Hinsicht auf grundsätzliche Aspekte des Strahlenschutzes und seiner konzeptionellen Struktur. Zu den Themen­feldern, die sowohl vor als auch nach der ICRP-Publikation 103 nahezu permanent in der internationalen Fachwelt, teilweise sehr kontrovers, diskutiert wurden und werden, gehört die Grundannahme, dass die Dosis-Risikobeziehung für stochastische Wirkungen durch einen linearen Zusammenhang ohne Schwellendosis angepasst werden kann (LNT-Modell). Das LNT-Modell für den Strahlenschutz ist eine der wichtigsten, wenn nicht sogar die wichtigste Annahme, auf die sich große Teile des gesamten Strahlenschutzes stützen. Eng mit dem Grundprinzip des LNT verknüpft sind weitere Annahmen, Modelle und Parameter, die konzeptionell in den Strahlenschutz eingebunden sind. Dazu gehört vor allem das Konzept des Dosis- und Dosisleistungs-Effektivitätsfaktors (DDREF), des Detriments und des Strahlungs- und Gewebe-Wichtungsfaktors.

Übergeordnet zu diesen Konzepten sind stets Überlegungen, die insbesondere auch die Praktikabilität, Transparenz, Individualisierung, Resilienz und Akzeptanz von Strahlenschutzstrukturen betreffen. Es muss eine angemessene Balance hergestellt werden zwischen Konservativität und Realismus, zwischen Kontinuität und Bedarf an Anpassung an neue Erkenntnisse oder Anforderungen und zwischen zahlreichen weiteren Zielkonflikten.

Ebenso sollte die Betrachtung der Unsicherheiten und ihrer Quellen im Strahlenschutz eine größere Beachtung finden.

Auch aus Sicht der SSK haben die genannten Themenfelder eine hohe Priorität. Sie stellt dazu fest:

LNT (vergleiche Abschnitt 4.1.1): Die SSK sieht gegenwärtig keine Begründung dafür, dass Erkenntnisse über biologische Effekte, die einen nichtlinearen Dosis-Wirkungszusammenhang nahelegen, der Annahme des LNT-Models zu Strahlenschutzzwecken widersprechen würden. Sie empfiehlt jedoch, die zugrunde liegende Argumentation einer gründlichen Prüfung zu unterziehen. Es sollte allerdings stets hervorgehoben werden, dass die Annahme einer linearen Dosis-Wirkungsbeziehung als Grundlage für Risikoschätzungen im Strahlenschutz nicht unterstellt, dass die zugrunde liegenden biologischen Wirkungsmechanismen linear verlaufen. Das LNT-Modell ist in diesem Sinne vor allem ein Instrument des Strahlenschutzes und nicht notwendigerweise eine Beschreibung eines Wirkungs­mechanismus.
DDREF (vergleiche Abschnitt 3.1.1): Die SSK empfiehlt, den DDREF an aktuelle Erkenntnisse anzupassen und gegebenenfalls abzuschaffen. Aufgrund seiner Bedeutung für die Risikobewertung und die Konsequenzen für den Strahlenschutz empfiehlt sie ferner, im Zuge einer eventuellen generellen Anpassung auch alle anderen Parameter, die in das Detriment, das heißt in die Angabe des Strahlenschadens eingehen, an den aktuellen wissenschaftlichen Stand anzupassen.
Detriment (vergleiche Abschnitt 4.1.2): Die SSK betrachtet das Detriment-Konzept als geeignetes Mittel zur Schadensgewichtung. In der gegenwärtigen Form ist es prinzipiell in der Lage, die verschiedenen Risikobeiträge der Organe angemessen zu berücksichtigen. Allerdings geschieht dies auf nur schwer nachvollziehbare Weise, basierend auf einer Reihe von Parametern, deren Zustandekommen kaum begründet wird. Diese Subtilität geht auf Kosten der Transparenz und Verständlichkeit der Risikoschätzungen im Strahlenschutz. Es sollte künftig sowohl der Frage nachgegangen werden, ob die Wahl der Parameter und ihrer Werte für die Berechnung des Detriments angemessen ist, als auch der Frage, ob für die Zwecke des Strahlenschutzes diese Feinabstimmung überhaupt gebraucht wird oder ob ein einfacheres und dafür überschaubares Modell ebenso geeignet wäre. Ein Vergleich mit anderen Konzepten der Schadensgewichtung aus anderen Bereichen des Umwelt- oder Arbeitsschutzes und gegebenenfalls die Übernahme oder Anpassung einzelner Aspekte daraus sollte aus Sicht der SSK angestrebt werden.
Wichtungsfaktoren (vergleiche Abschnitte 3.1.3, 3.1.8, 4.2.2): Die SSK sieht eine Reihe von Hinweisen aus RBW-Studien, die Anlass zu einer Überprüfung der Strahlungs-Wichtungsfaktoren geben. Insbesondere für Alpha-Strahlung ist nicht klar, ob der gegenwärtige Wert von 20 deren Risikobeitrag angemessen wiedergibt.
Die Gewebe-Wichtungsfaktoren ergeben sich im Wesentlichen aus dem Verhältnis des organspezifischen Detriments zum Gesamtrisiko. Deren Überprüfung anhand neuerer Studien erscheint aus Sicht der SSK sinnvoll. Hierbei spielt insbesondere das Detriment für Hautkrebs eine besonders herausragende Rolle. Für fast alle Organe unterscheiden sich der Risikokoeffizient und das Detriment, in das vor allem die Letalität eingeht, um nicht mehr als einen Faktor 2. Hautkrebs dagegen hat nicht nur den mit Abstand größten Inzidenz-Risikokoeffizienten aller Organe (größer als alle anderen zusammen), sondern aufgrund der angenommenen sehr geringen Letalität des dominierenden Basalzellkarzinoms nur ein sehr kleines Detriment und damit einen kleinen Gewebe-Wichtungsfaktor. Neuere Auswertungen der LSS-Kohorte legen nahe, dass Hautkrebs unterhalb von etwa 0,5 Gy nicht strahleninduzierbar ist, das heißt, dass Haut aus der Liste der Organe mit Gewebe-Wichtungsfaktor herausfallen würde.
Die SSK stellt fest, dass einschlägige Studien zwar Hinweise auf mögliche geschlechtsspezifische Unterschiede in der Strahlenempfindlichkeit erbracht haben, dass jedoch eindeutige Beweise dafür fehlen. Die SSK sieht gegenwärtig keinen Anlass für eine Berücksichtigung möglicher geschlechtsspezifischer Unterschiede bei der Strahlenempfindlichkeit im Strahlenschutz. Sie sieht allerdings Forschungsbedarf, um mögliche geschlechtsspezifische Unterschiede in der strahleninduzierten Inzidenz von Tumoren in einzelnen Organen und in der Strahlenempfindlichkeit von Gesamtorganismen sicher nachzuweisen und auf der Grundlage der molekularen, zellulären und geweblichen Reaktionen auf Bestrahlung zu verstehen.
Praktikabilität, Realismus (vergleiche Abschnitte 3.1.8, 4.1.4): Bei der künftigen Überarbeitung von ICRP-Publikation 103 sollten neue Empfehlungen unter den Gesichtspunkten der Praktikabilität und der Auswirkungen in der Praxis jeweils kritisch hinterfragt werden. Dazu gehört auch, die Bedeutung der Rechtfertigung zu betonen. Nicht nur Tätigkeiten müssen gerechtfertigt sein. Auch Schutzmaßnahmen sind auf ihre Rechtfertigung zu prüfen, da Schutzmaßnahmen sowohl gewünschte als auch unerwünschte Folgen zeitigen können.
Bei den erforderlichen prospektiven Dosisermittlungen und Risikoschätzungen empfiehlt die SSK stets auch, Gesamtrisiken und Gesamtdosen zu betrachten und dabei so realistisch wie möglich vorzugehen. Konservativitäten bei Dosisberechnungen sollten soweit wie möglich vermieden werden und realistische Zahlen für Dosen und Risiken angegeben werden. Das Strahlenschutzsystem sollte vereinfacht werden. Insbesondere könnte eine Individualisierung des allgemeinen Strahlenschutzes zu weiterer Komplexität und zu Nachteilen für die betroffenen Personen führen. Prinzipiell sollte der Grundsatz lauten, nur dann eine Veränderung im System vorzunehmen, wenn dadurch ein relevant besserer Strahlenschutz erzielt wird.
Unsicherheiten im Strahlenschutz (vergleiche Abschnitt 4.1.5): Generell sollen Aussagen der ICRP auch die Unsicherheiten und Variabilitäten aller beteiligten Größen auf der Grundlage der verfügbaren Informationen nach den JCGM Guides berücksichtigen. Dazu gehört auch die Beurteilung, ob die verfügbare Information hinreichend für eine fundierte Aussage ist. Die Frage der Erkennbarkeit von erhöhten Risiken, z. B. wann ein Risiko signifikant vom Hintergrundrisiko abweicht, sollte nach den Festlegungen von ISO 11929 beantwortet werden. Die Wertung, ob ein Risiko relevant ist, ist eine Frage, die darüber hinausgeht.
Herz-Kreislauferkrankungen (vergleiche Abschnitt 3.1.4): Über viele Jahre hinweg standen für den Strahlenschutz vor allem die stochastischen Strahleneffekte im Vordergrund. Seit einigen Jahren finden jedoch Arbeiten zu strahleninduzierten Herz-Kreislauferkrankungen zunehmend Beachtung, die nicht ohne Weiteres in die klassischen Kategorien von stochastischer und deterministischer Wirkung einzuteilen sind, und für die schwer entscheidbar ist, wie deren Dosis-Wirkungsbeziehungen aussehen. Insbesondere ist ungeklärt, ob mit einem LNT-Modell eine angemessene Konvention gefunden ist, um Strahlenschutzbelangen adäquat Genüge zu tun. Demnach ist auch unklar, inwieweit sie in das bestehende Strahlenschutzsystem einzugliedern sind oder ob dieses in Hinblick auf die Einbeziehung von strahleninduzierten Herz-Kreislauferkrankungen erweitert werden muss.

Neben den oben genannten Themenfeldern zu grundsätzlichen Fragen des Strahlenschutzes betrachtet die SSK die Radon-Thematik mit ihrer besonderen Rolle im Strahlenschutz als ein Themenfeld mit hoher Priorität. Insbesondere die Umrechnung von einer Radon-Aktivitätskonzentration in eine Dosis, d. h. der Radon-Dosiskoeffizient, ist ein noch nicht befriedigend gelöstes Problem. Hierzu stellt sie fest:

Radon (vergleiche Abschnitte 2.2.4, 3.1.2): Eine erneute Abwägung aller vorliegenden Erkenntnisse zur Dosisberechnung, einschließlich der neuen Auswertung der Wismut-Daten und der PUMA-Studie (Pooled Uranium Miners Analysis), sollte zu einer konsensfähigen und praktikablen Empfehlung der ICRP hinsichtlich des Dosiskoeffizienten führen. Darüber hinaus sollte angestrebt werden, Empfehlungen zum Schutz vor Radon zukünftig generell auf Aktivitätskonzentrationen beziehungsweise auf Expositionswerte anstelle von Dosiswerten zu beziehen und damit auf Dosisumrechnungen weitgehend zu verzichten.

Über die Themenfelder mit hoher Priorität hinaus sieht die SSK eine Reihe von Einzelfragen, die in einer künftigen Überarbeitung der ICRP-Grundsatzempfehlung Berücksichtigung finden sollten. Ohne eine weitere Rangfolgenlistung vorzunehmen, sind dies im Einzelnen:

Operationelle Messgrößen (vergleiche Abschnitt 4.2.1): Da die Folgen der Einführung neuer Messgrößen weit­reichend sind und die Entwicklung neuer Messsysteme und Verfahren Zeit und Investitionen erfordert, empfiehlt die SSK, dass die ICRP den Dialog mit der ICRU sucht, um die Einführung der neuen Messgrößen unter den jetzt vorliegenden Ergebnissen von EURADOS kritisch zu überdenken. Ein Austausch mit CCRI und der IAEA zu diesem Thema wird ebenfalls empfohlen.
Strahlenschutzfragen bei neuen Verfahren in der Medizin (vergleiche Abschnitt 4.2.5): Im Interesse der Patientensicherheit ist eine Nutzen-Risiko-Bewertung unabdingbar, die den Grundprinzipien der Rechtfertigung des Strahlenrisikos und der Dosisreduktion beziehungsweise -optimierung Rechnung trägt. Die ICRP sollte hier die Formulierung von einheitlichen und standardisierten Kriterien zur Nutzen-Risiko-Bewertung diskutieren.
Digitalisierung, KI (vergleiche Abschnitt 4.2.3): Nach Auffassung der SSK sollte geprüft werden, inwieweit sich die Qualitätssicherungsverfahren im Strahlenschutz für die Erfassung unterschiedlicher Expositionsarten angleichen lassen und sich dieses im Rahmen der digitalen Transformation einbetten lässt.
Citizen Science im Strahlenschutz (vergleiche Abschnitt 4.2.5): Aktuell gibt es keine Empfehlung der ICRP zur Durchführung von Citizen-Science-Projekten im Kontext des Strahlenschutzes, wie beispielsweise nach einer Katastrophe wie in Fukushima. Würde die ICRP nach Prüfung die Durchführung solcher Projekte als gewinnbringend betrachten, wäre die Erarbeitung und Etablierung von regulatorischen Richtlinien – ein „Good Practice Citizen Science in Radiation Protection“ – empfehlenswert.
Ethische Aspekte (vergleiche Abschnitt 4.1.6): Der ICRP sollte daran gelegen sein, die Übersichtlichkeit und Geschlossenheit des Strahlenschutzsystems zu erhalten. Hierzu sollte der Zusammenhang der in speziellen Be­reichen (etwa Medizin, Umweltschutz) genannten Wertvorstellungen mit denjenigen der grundlegenden Empfehlung ICRP-Publikation 138 (Beneficence/​Non-Maleficence, Prudence, Justice, Dignity, Transparency, Accountability, Inclusivity) diskutiert und erläutert werden.

6 Literatur

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SSK 2006b Strahlenschutzkommission (SSK). Kriterien für die Beurteilung von Tätigkeiten und Verfahren im Hinblick auf eine Rechtfertigung. Empfehlung der Strahlenschutzkommission, verabschiedet in der 205. Sitzung der SSK am 16./​17. Februar 2006. urn:nbn:de:101:1-2013101511656
SSK 2007 Strahlenschutzkommission (SSK). Krebsrisiko durch mehrjährige Expositionen mit Dosen im Bereich des Grenzwertes für die Berufslebensdosis nach § 56 StrlSchV. Empfehlung der Strahlenschutzkommission, verabschiedet in der 215. Sitzung der SSK am 20. April 2007. Bekanntmachung BAnz. Nr. 183a vom 28. September 2007
SSK 2009a Strahlenschutzkommission (SSK). Strahleninduzierte Katarakte. Empfehlung der Strahlenschutzkommission mit wissenschaftlicher Begründung, verabschiedet in der 234. Sitzung der SSK am 14. Mai 2009. Bekanntmachung BAnz. Nr. 180a vom 27. November 2009
SSK 2009b Strahlenschutzkommission (SSK). Geschlechtsspezifische Unterschiede der Strahlenempfindlichkeit – epidemiologische, klinische und biologische Studien. Stellungnahme der Strahlenschutzkommission, verabschiedet in der 236. Sitzung der SSK am 17./​18. September 2009. Bekanntmachung BAnz. Nr. 93a vom 25. Juni 2010
SSK 2011 Strahlenschutzkommission (SSK). Grenzwerte für die Strahlenexposition der Haut beim beruflichen Umgang mit ionisierender Strahlung. Stellungnahme der Strahlenschutzkommission, verabschiedet in der 251. Sitzung der SSK am 25.Oktober 2011. urn:nbn:de:101:1-201309238372. Bekanntmachung BAnz AT 10.04.2013 B6
SSK 2012 Strahlenschutzkommission (SSK). Herz-Kreislauferkrankungen nach zulässigen beruflichen Strahlenexpositionen. Stellungnahme der Strahlenschutzkommission mit wissenschaftlicher Begründung, verabschiedet in der 256. Sitzung der SSK am 19./​20. April 2012. urn:nbn:de:101:1-20160523712. Bekanntmachung BAnz AT 04.05.2016 B5
SSK 2013 Strahlenschutzkommission (SSK). Ermittlung der Strahlenexposition. Empfehlung der Strahlenschutzkommission, verabschiedet in der 263. Sitzung der Strahlenschutzkommission am 12. September 2013. urn:nbn:de:101:1-201405079359. Bekanntmachung BAnz AT 23.05.2014 B4
SSK 2014a Strahlenschutzkommission (SSK). Einführung von Dosisrichtwerten (Dose Constraints) zum Schutz vor beruflicher Strahlenexposition bei der Umsetzung der Richtlinie 2013/​59/​Euratom in das deutsche Strahlenschutzrecht. Empfehlung der Strahlenschutzkommission, verabschiedet in der 273. Sitzung der SSK am 11./​12. Dezember 2014. urn:nbn:de:101:1-201508035580. Bekanntmachung BAnz AT 10.08.2015 B3
SSK 2014b Strahlenschutzkommission (SSK). Dosis- und Dosisleistungs-Effektivitätsfaktor (DDREF). Empfehlung der Strahlenschutzkommission mit wissenschaftlicher Begründung, verabschiedet in der 268. Sitzung der Strahlenschutzkommission am 13./​14. Februar 2014. urn:nbn:de:101:1-201604043407. Bekanntmachung im BAnz AT 03.05.2016 B4
SSK 2014c Strahlenschutzkommission (SSK). Radiologische Grundlagen für Entscheidungen über Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung bei Ereignissen mit Freisetzungen von Radionukliden. Empfehlung der Strahlenschutzkommission, verabschiedet in der 268. Sitzung der Strahlenschutzkommission am 13./​14. Februar 2014. urn:nbn:de:101:1- 2014111925770. Bekanntmachung BAnz AT 18.11.2014 B5
SSK 2015a Strahlenschutzkommission (SSK). Überwachung der Augenlinsen-Äquivalentdosis. Empfehlung der Strahlenschutzkommission, verabschiedet in der 277. Sitzung der Strahlenschutzkommission am 2./​3. Juli 2015. urn:nbn:de:101:1-201604043478. Bekanntmachung BAnz AT 18.03.2016 B4
SSK 2015b Strahlenschutzkommission (SSK). Umsetzung des Dosisgrenzwertes für Einzelpersonen der Bevölkerung für die Summe der Expositionen aus allen zugelassenen Tätigkeiten. Empfehlung der Strahlenschutzkommission, verabschiedet in der 274. Sitzung der SSK am 19./​20. Februar 2015. Bekanntmachung BAnz AT 23.11.2015 B6. urn:nbn:de:101:1-201512213366
SSK 2016a Strahlenschutzkommission (SSK). Berechnungsgrundlage für die Ermittlung von Körper-Äquivalentdosen bei äußerer Strahlenexposition, verabschiedet in der 286. Sitzung der SSK am 1./​2. Dezember 2016. Veröffentlichungen der Strahlenschutzkommission, Band 43, 3., überarbeitete Auflage und erweiterte Auflage, Schnelle Verlag, Berlin, 2017, ISBN 978-3-943422-43-6
SSK 2016b Strahlenschutzkommission (SSK). Methodik zur Berücksichtigung von Messunsicherheiten bei messtechnischen Prüfungen im Geltungsbereich der Röntgenverordnung und der Strahlenschutzverordnung. Empfehlung der Strahlenschutzkommission, verabschiedet in der 283. Sitzung der SSK am 15./​16. September 2016. urn:nbn:de:101:1-201703064227. Bekanntmachung BAnz AT 24.02.2017 B2
SSK 2016c Schutz der Umwelt im Strahlenschutz. Empfehlung der Strahlenschutzkommission, verabschiedet in der 286. Sitzung der SSK am 1. Dezember 2016. urn:nbn:de:101:1-2018042509. Bekanntmachung BAnz AT 02.05.2017 B4
SSK 2017 Strahlenschutzkommission (SSK). Radon-Dosiskoeffizienten. Empfehlung der Strahlenschutzkommission, verabschiedet in der 290. Sitzung der Strahlenschutzkommission am 5./​6. Dezember 2017. Bekanntmachung BAnz AT 24.05.2018 B3. urn:nbn:de:101:1-2018103111265357503494
SSK 2018 Strahlenschutzkommission (SSK). Grundlagen zur Begründung von Grenzwerten für beruflich strahlenexponierte Personen. Empfehlung der Strahlenschutzkommission mit wissenschaftlicher Begründung, verabschiedet im Umlaufverfahren am 7. September 2018. Bekanntmachung BAnz AT 14.11.2019 B5
SSK 2019 Strahlenschutzkommission (SSK). Abgeleitete Richtwerte für Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung bei Ereignissen mit Freisetzungen von Radionukliden. Empfehlung der Strahlenschutzkommission, verabschiedet in der 303. Sitzung der Strahlenschutzkommission am 24./​25. Oktober 2019. urn:nbn:de:101:1-2020040313335986790823. Bekanntmachung BAnz AT 22.04.2020 B3
SSK 2020a Strahlenschutzkommission (SSK). Grenzwerte der Organ-Äquivalentdosen für die berufliche Strahlenexposition. Empfehlung der Strahlenschutzkommission mit wissenschaftlicher Begründung, verabschiedet in der 309. Sitzung der Strahlenschutzkommission am 9./​10. Dezember 2020.
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SSK 2020b Strahlenschutzkommission (SSK). Organisatorische Voraussetzungen für einen erfolgreichen betrieblichen Strahlenschutz. Empfehlung der Strahlenschutzkommission, verabschiedet in der 305. Sitzung der SSK am 11./​12. Februar 2020. urn:nbn:de:101:1-2020070917032228527622. Bekanntmachung BAnz AT 21.07.2020 B4
SSK in Vorbereitung Strahlenschutzkommission. Risikoabschätzung für Hautkrebs durch ionisierende Strahlung, noch nicht verabschiedet
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UNSCEAR 2019 United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation (UNSCEAR). UNSCEAR 2019 Report, Sources and effects and risks of ionizing radiation, with Scientific Annexes A: Evaluation of selected health effects and inference of risk due to radiation exposure and B: Lung cancer from exposure to radon. United Nations, New York, 2019, ISBN 978-92-1-139184-8
Van Oudheusden et al. 2019 Van Oudheusden M, Kenes J, Yoshizawa G, Mizushima N. Workshop Report – Learning from Citizen Science after Fukushima. In. Brussels: SCK CEN
Van Oudheusden und Abe 2021 Van Oudheusden M, Abe Y. Beyond the Grassroots: Two Trajectories of „Citizen Sciencization“ in Environmental Governance. Citizen Science: Theory and Practice.6(1), doi: 10.5334/​cstp.377
Walenta und Mueller-Klieser 2016 Walenta S, Mueller-Klieser W. Differential Superiority of Heavy Charged-Particle Irradiation to X-Rays: Studies on Biological Effectiveness and Side Effect Mechanisms in Multicellular Tumor and Normal Tissue Models. Front Oncol. 2016;6:30, doi: 10.3389/​fonc.2016.00030, Epub 2016/​03/​05
Wang und Yasuda 2020 Wang B, Yasuda H. Relative Biological Effectiveness of High LET Particles on the Reproductive System and Fetal Development. Life (Basel). 2020 Nov 20;10(11), doi: 10.3390/​life10110298, Epub 2020/​11/​26
Weise und Wöger 1993 Weise K, Wöger W. A Bayesian theory of measurement uncertainty. Meas Sci Technol. 1993;4(1):1-11, doi: 10.1088/​0957-0233/​4/​1/​001
WHO 2013 World Health Organization (WHO). Health Risk Assessment from the nuclear accident after the 2011 Great East Japan Earthquake and Tsunami based on a preliminary dose estimation. WHO Pres, Geneva, 2013, ISBN 978 92 4 150513 0
WHO 2021 World Health Organization (WHO). Institutionalizing health technology assessment mechanisms: a how to guide. World Health Organization.°Bertram M, Dhaene G, Tan-Torres Edejer T, 56, 2021, ISBN 9789240020665 (electronic version), 9789240020672 (print version)
Wissenschaft im Dialog 2023 Wissenschaft im Dialog. Bürger schaffen Wissen. https:/​/​www.buergerschaffenwissen.de/​, zuletzt aufgerufen am 12. April 2023
Worgul et al. 2007 Worgul BV, Kundiyev YI, Sergiyenko NM, Chumak VV, Vitte PM, Medvedovsky C, Bakhanova EV, Junk AK, Kyrychenko OY, Musijachenko NV, Shylo SA, Vitte OP, Xu S, Xue X, Shore RE. Cataracts among Chernobyl clean-up workers: implications regarding permissible eye exposures. Radiat Res. Feb;167(2):233-43, doi: 10.1667/​rr0298.1, Epub 2007/​03/​30
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Zhang et al. 2020 Zhang W, Laurier D, Clero E, Hamada N, Preston D, Vaillant L, Ban N. Sensitivity analysis of parameters and methodological choices used in calculation of radiation detriment for solid cancer. Int J Radiat Biol. May;96(5):596-605, doi: 10.1080/​09553002.2020.1708499, Epub 2020/​01/​09
Zölzer und Streffer 2008 Zölzer F, Streffer C. Relative biological effectiveness of 6 MeV neutrons with respect to cell inactivation and disturbances of the G1 phase. Radiat Res. 2008 Feb;169(2):207-13, doi: 10.1667/​RR0486.1, Epub 2008/​01/​29
Anhang

Task Groups der ICRP, deren Beratungen noch nicht abgeschlossen sind (Stand 30. November 2022)

TG 36 Radiation Dose to Patients in Diagnostic Nuclear Medicine
TG 91 Radiation Risk Inference at Low-dose and Low-dose Rate Exposure for Radiological Protection Purposes (vergleiche Abschnitt 4.1.1 Das LNT-Modell)
TG 96 Computational Phantoms and Radiation Transport
TG 97 Application of the Commission’s Recommendations for Surface and Near Surface Disposal of Solid Radioactive Waste
TG 98 Application of the Commission’s Recommendations to Exposures Resulting from Contaminated Sites from Past Industrial, Military and Nuclear Activities
TG 99 Reference Animal and Plant (RAP) (vergleiche Abschnitt 3.1.7 Schutz der Umwelt)
TG 102 Detriment Calculation Methodology (vergleiche Abschnitt 4.1.2 Detriment)
TG 103 Mesh-type Reference Computational Phantoms (MRCP)
TG 105 Considering the Environment when Applying the System of Radiological Protection (vergleiche Abschnitt 3.1.7 Schutz der Umwelt)
TG 106 Application of the Commission’s Recommendations to Activities involving Mobile High Activity Sources
TG 108 Optimisation of Radiological Protection in Digital Radiography, Fluoroscopy, and CT in Medical Imaging
TG 109 Ethics in Radiological Protection for Medical Diagnosis and Treatment (vergleiche Abschnitt 4.1.6 Ethische Aspekte)
TG 110 Radiological Protection in Veterinary Practice
TG 111 Factors Governing the Individual Response of Humans to Ionising Radiation
TG 112 Emergency Dosimetry (vergleiche Abschnitt 3.2.4 Operational Intervention Levels (OILs))
TG 113 Reference Organ and Effective Dose Coefficients for Common Diagnostic X-ray Imaging Examinations
TG 114 Reasonableness and Tolerability in the System of Radiological Protection (vergleiche Abschnitt 4.1.3 Einführung eines Ampelmodells zur Kommunikation im Strahlenschutz)
TG 115 Risk and Dose Assessment for Radiological Protection of Astronauts
TG 116 Radiological Protection Aspects of Imaging in Radiotherapy
TG 117 Radiological Protection in PET and PET/​CT
TG 118 Relative Biological Effectiveness (RBE), Quality Factor (Q), and Radiation Weighting Factor (wR) (vergleiche Abschnitt 4.2.3 Relative Biologische Wirksamkeit und Strahlungs-Wichtungsfaktor)
TG 119 Effects of Ionising Radiation on Diseases of the Circulatory System and their Consideration in the System of Radiological Protection (vergleiche Abschnitt 3.1.4 Herz-Kreislauferkrankungen)
TG 120 Radiological Protection for Radiation Emergencies and Malicious Events (vergleiche Abschnitt 3.2.4 Operational Intervention Levels (OILs))
TG 121 Effects of Ionising Radiation Exposure in Offspring and Next Generations
TG 122 Update of Detriment Calculation for Cancer (vergleiche Abschnitt 4.1.2 Detriment)
TG 123 Classification of Harmful Radiation-induced Effects on Human Health for Radiological Protection Purposes
TG 124 Application of the Principle of Justification (vergleiche Abschnitt 4.1.6 Ethische Aspekte)
TG 125 Ecosystem Services in Environmental Radiological Protection (vergleiche Abschnitt 3.1.7  Schutz der Umwelt)
TG 126 Radiological Protection in Human Biomedical Research
TG 127 Exposure Situations and Categories of Exposure
1
https:/​/​journals.sagepub.com/​doi/​suppl/​10.1177/​ANIB_​48_​2-3/​suppl_​file/​OIR_​Data_​Viewer_​for_​P134-P137-P141.zip
2
https:/​/​www.bipm.org/​en/​committees/​jc/​jcgm/​publications
3
https:/​/​www.bipm.org/​documents/​20126/​42177518/​Joint-Statement-Digital-Transformation.pdf/​c2a4d4c5-3b93-39a6-4378-676406ac2845?t=1648563803442

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