Die 16. große Strafkammer des Landgerichts Halle hat mit Beschluss vom 28.02.2023 (Az.: 16 KLs 2/22) die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen den Oberbürgermeister der Stadt Halle (Saale) und dessen Büroleiterin (die Angeschuldigten) wegen angeblicher Manipulationen bei der Impfreihenfolge im Rahmen von Corona-Impfungen abgelehnt.
Mit Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Halle vom 24.02.2022 wird den Angeschuldigten gemeinschaftlich begangene veruntreuende Unterschlagung (§ 246 StGB) sowie Fälschung beweiserheblicher Daten (§ 269 Abs. 1 StGB) zur Last gelegt.
Die Angeschuldigten sollen den Leiter des Impfzentrums im Januar 2021 angewiesen haben, die Mitglieder des Stadtrats sowie des Katastrophenschutzstabs vorrangig und ohne Rücksicht auf die in der damals geltenden Coronavirus-Impfverordnung festgelegte Impfreihenfolge zu impfen. Dabei sei den Angeschuldigten die Rechtswidrigkeit ihrer Anweisung bewusst gewesen. In Umsetzung dieser Anweisung seien in der Folgezeit sieben Mitglieder des Katastrophenschutzstabs, die Vertreterin eines Mitglieds des Katastrophenschutzstabs, der Fahrer des Angeschuldigten Dr. Wiegand und acht Stadträte geimpft worden, obwohl sie seinerzeit noch keinen Anspruch auf eine Impfung nach der Coronavirus-Impfverordnung gehabt hätten und auch kein verfallsbedingter Verwurf des Impfstoffs gedroht habe.
Die Impfungen der Angeschuldigten selbst sind nicht Gegenstand der Anklageschrift.
Weiterhin wird den Angeschuldigten Fälschung beweiserheblicher Daten zur Last gelegt.
Der Anklage zufolge sollen die Angeschuldigten zur Täuschung des Stadtrats der Stadt Halle (Saale) auf der Grundlage eines rückdatierten und von dem Angeschuldigten Dr. Wiegand in der Öffentlichkeit präsentierten Vermerks ein Protokoll über eine Lagebesprechung des Katastrophenschutzstabs nachträglich zweimal verändert haben, so dass der Eindruck entstanden sei, das Vorgehen der Angeschuldigten sei vom Katastrophenschutzstab genehmigt worden.
Die 16. große Strafkammer hat die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen die Angeschuldigten aus rechtlichen Gründen abgelehnt. Sie ist zu dem Ergebnis gelangt, dass die den Angeschuldigten zur Last gelegten Sachverhalte keinen Straftatbestand erfüllen.
Veruntreuende Unterschlagung ist ein Eigentumsdelikt und setzt voraus, dass der Täter sich oder einem Dritten eine Sache in rechtswidriger Weise zueignet (sog. (Dritt-)Zueignung).
Die Strafkammer ist der Auffassung, die durch die Verabreichung des Impfstoffs an die Mitglieder des Stadtrats und des Katastrophenschutzstabs erfolgte (Dritt-)
Zueignung sei aus mehreren Gründen nicht rechtswidrig gewesen.
Dies folge zum einen aus den unterschiedlichen Schutzzwecken des Straftatbestandes der Unterschlagung einerseits und der Vorschriften der Coronavirus-Impfverordnung andererseits. Der Angeschuldigte Dr. Wiegand habe als Oberbürgermeister der Stadt Halle (Saale) die Verfügungsbefugnis über den Corona-Impfstoff gehabt. Sofern er bei der Ausübung dieser Verfügungsbefugnis die Vorschriften über die Impfreihenfolge in der Coronavirus-Impfverordnung, die der Verteilungsgerechtigkeit dienten, missachtet habe, habe er möglicherweise seine verwaltungsrechtlichen Befugnisse überschritten; eine Eigentumsverletzungshandlung im Sinne einer rechtswidrigen (Dritt-)Zueignung einzelner Impfdosen sei darin jedoch nicht zu erblicken.
Zum anderen seien die im Tatzeitpunkt geltenden Regelungen der Coronavirus-Impfverordnung über die Impfreihenfolge verfassungswidrig gewesen und könnten daher nicht die Rechtswidrigkeit der (Dritt-)Zueignung begründen. Es habe nämlich in zweierlei Hinsicht an einer verfassungskonformen Ermächtigungsgrundlage für diese Regelungen gefehlt: Zunächst seien der Impfzeitpunkt und die Impfreihenfolge von hoher Grundrechtsrelevanz. Deshalb hätte nach der sog. Wesentlichkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch ein förmliches Gesetz, also unter Beteiligung des Parlaments, und nicht durch eine von der Ministerialverwaltung erlassene Verordnung bestimmt werden müssen, nach welchen Kriterien die Impfreihenfolge bestimmt wird. Darüber hinaus habe der Gesetzgeber nicht hinreichend bestimmt vorgegeben, unter welchen Voraussetzungen ein Verstoß gegen die Vorschriften über die Impfreihenfolge in der Coronavirus-Impfverordnung strafbar ist, weswegen auch Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) verletzt sei. Nach Artikel 103 Abs. 2 GG kann eine Tat nur dann bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Dieses Bestimmtheitsgebot setzt voraus, dass der Gesetzgeber selbst die Voraussetzungen der Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens konkret in einem Gesetz festlegt.
Das den Angeschuldigten zur Last gelegte Verhalten im Zusammenhang mit der Veränderung eines Protokolls über eine Lagebesprechung des Katastrophenschutzstabs sei nicht als Fälschung beweiserheblicher Daten strafbar. Dieser Straftatbestand ist erfüllt, wenn jemand zur Täuschung im Rechtsverkehr beweiserhebliche Daten so speichert oder verändert, dass bei ihrer Wahrnehmung eine unechte oder verfälschte Urkunde vorliegen würde, oder derart gespeicherte oder veränderte Daten gebraucht. Die Angeschuldigten hätten weder über den Aussteller des Protokolls getäuscht noch beweiserhebliche Daten im rechtlichen Sinne verfälscht. Aussteller des Protokolls sei der Katastrophenschutzstab der Stadt Halle (Saale). Da die Angeschuldigten zu dessen Mitgliedern gehörten, der Angeschuldigte Dr. Wiegand sogar dessen Leiter gewesen sei, hätten sie durch die ihnen zur Last gelegten Änderungen des Protokolls nicht über dessen Aussteller getäuscht. Die Angeschuldigten hätten das Protokoll auch nicht verfälscht, da sie als Mitglieder des Katastrophenschutzstabs im Zeitpunkt der mutmaßlichen Änderungen des Protokolls noch die Dispositionsbefugnis über dieses Protokoll gehabt hätten.
Gegen den Beschluss der 16. großen Strafkammer steht der Staatsanwaltschaft Halle das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde zu, über die das Oberlandesgericht Naumburg zu entscheiden hat.
gez. Ehm
VPräsLG
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