Die Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (EIOPA) hat heute die Ergebnisse ihres Stresstests 2024 veröffentlicht, bei dem die Fähigkeit europäischer Versicherer untersucht wurde, mit den wirtschaftlichen und finanziellen Folgen einer erneuten Eskalation geopolitischer Spannungen umzugehen. Der Test zeigt, dass Versicherer im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) insgesamt gut kapitalisiert sind und die Solvency-II-Anforderungen auch unter den extremen, aber plausiblen Schocks des Stresstests erfüllen können, die sich aus weit verbreiteten Lieferkettenunterbrechungen, niedrigem Wachstum und erneutem Inflationsdruck ergeben.
Szenario eines geopolitischen Schocks
Im Rahmen des Stresstests wurden europäische Versicherer mit einem negativen Szenario konfrontiert, das durch eine Verschärfung geopolitischer Spannungen und deren weitreichende Auswirkungen gekennzeichnet ist. Dazu zählen unter anderem:
- Gedämpftes Wachstum und höhere Inflation
- Engere Finanzierungsbedingungen
- Eine stärkere Inversion der Zinskurve
- Ausweitende Kreditspreads und steigende Renditen von Staatsanleihen aufgrund von Bedenken hinsichtlich der Schuldennachhaltigkeit
Ergänzt wurden diese makroökonomischen Schocks durch versicherungsspezifische Faktoren wie Massenkündigungen, inflationsbedingte Schadenkosten und sinkende Prämieneinnahmen.
Kapitalergebnisse des Stresstests
Der Stresstest führte zu erheblichen Verlusten bei den Versicherern, doch die Unternehmen hatten ausreichendes Kapital, um die Schocks zu verkraften. Die aggregierte Solvabilitätsquote sank von 221,8 % auf 123,3 %, was einem Kapitalverlust von über 270 Milliarden Euro entspricht. Mit reaktiven Maßnahmen konnten die Unternehmen ihre Solvabilitätsquote auf 139,9 % verbessern.
Liquiditätsmanagement
Der Test zeigte erhebliche Liquiditätsabflüsse, die Versicherer dazu zwangen, liquide Vermögenswerte zu verkaufen. Im Szenario des Stresstests verwandelten sich Versicherer von Netto-Käufern in Netto-Verkäufer von Vermögenswerten im Wert von über 305 Milliarden Euro.
Interview mit Rechtsanwalt Jens Reime, Fachanwalt für Versicherungsrecht
Frage: Herr Reime, EIOPA hat betont, dass europäische Versicherer trotz der positiven Ergebnisse erhebliche Kapital- und Liquiditätsverluste hinnehmen mussten. Wie bewerten Sie diese Ergebnisse aus rechtlicher Sicht?
Jens Reime: Die Ergebnisse zeigen deutlich, wie robust das europäische Versicherungswesen im Hinblick auf regulatorische Anforderungen ist. Dennoch werfen die massiven Kapitalverluste Fragen auf, insbesondere im Hinblick auf die langfristige Stabilität der Branche und die mögliche Belastung von Versicherungsnehmern. Wichtig ist, dass Versicherer ihre Verpflichtungen auch unter extremen Bedingungen erfüllen können, doch die Höhe der notwendigen Maßnahmen verdeutlicht die Dringlichkeit einer noch strengeren Risikokontrolle.
Frage: Ein Kritikpunkt von EIOPA ist die mangelnde Transparenz, da viele Versicherer ihre individuellen Ergebnisse nicht offenlegen möchten. Welche Auswirkungen hat dies auf den Verbraucherschutz?
Jens Reime: Transparenz ist ein zentraler Pfeiler des Verbraucherschutzes. Wenn Versicherer ihre Ergebnisse nicht offenlegen, schürt dies Misstrauen und erschwert es Verbrauchern, fundierte Entscheidungen zu treffen. Ich halte es für erforderlich, dass Regulierungsbehörden wie EIOPA stärkeren Druck auf die Unternehmen ausüben, ihre Ergebnisse offenzulegen. Schließlich sind die Versicherungsnehmer diejenigen, die im Fall von Instabilitäten direkt betroffen wären.
Frage: Der Stresstest zeigte, dass Versicherer in Krisensituationen auf reaktive Maßnahmen wie den Verkauf von Vermögenswerten angewiesen sind. Welche rechtlichen Risiken könnten daraus entstehen?
Jens Reime: Der Verkauf von Vermögenswerten kann sich auf die langfristige Stabilität des Unternehmens auswirken, insbesondere wenn dies überstürzt geschieht. Zudem könnten Fragen zur Angemessenheit solcher Maßnahmen aufkommen, wenn sie beispielsweise zu Lasten bestimmter Kundengruppen gehen. Hier sehe ich die Notwendigkeit einer stärkeren Aufsicht, um sicherzustellen, dass solche Maßnahmen nicht zu einem Nachteil für Versicherungsnehmer führen.
Frage: Was können Versicherungsnehmer tun, um sich in Zeiten geopolitischer Unsicherheiten abzusichern?
Jens Reime: Versicherungsnehmer sollten sich regelmäßig über die finanzielle Stabilität ihres Versicherers informieren, auch durch verfügbare Berichte der Aufsichtsbehörden. Zudem ist es ratsam, Policen auf versteckte Risiken oder potenzielle Einschränkungen zu prüfen, insbesondere in Bezug auf Leistungen, die in Krisensituationen relevant sein könnten.
Frage: Ihr abschließendes Fazit?
Jens Reime: Der Stresstest zeigt, dass europäische Versicherer insgesamt gut aufgestellt sind, aber die Ergebnisse sollten nicht über die bestehenden Herausforderungen hinwegtäuschen. Transparenz, strenge Aufsicht und proaktive Risikokontrolle sind entscheidend, um langfristig Stabilität zu gewährleisten und das Vertrauen der Versicherungsnehmer zu stärken.
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