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Entschädigungsleistungen bei sexueller Gewalt

Peggy_Marco (CC0), Pixabay
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Schlussanträge des Generalanwalts in der Rechtssache C-129/19Presidenza del Consiglio dei Ministri/BVGeneralanwalt Bobek:
Die Mitgliedstaaten müssen jedes Opfer einer vorsätzlich begangenen Gewalttat entschädigen, unabhängig davon, wo es seinen Wohnsitz hat. Auch wenn eine Entschädigung keinen vollen Ersatz der Schäden bedeutet, darf ihr Betrag nicht rein symbolisch sein.“
Im Oktober 2005 wurde Frau BV Opfer sexueller Gewalt. Die Tat wurde in Italien begangen, wo sie ihren Wohnsitz hatte. Die Täter wurden zu Haftstrafen verurteilt und ihnen wurde auferlegt, ihr umgehend 50000 Euro zu zahlen.
Da die Täter flüchteten, konnte sie diesen Betrag jedoch nicht erlangen. Im Jahr 2009 erhob BV bei den italienischen Gerichten Klage gegen den italienischen Staat und begehrte Schadensersatz, da Italien die Richtlinie 2004/80/EG zur Entschädigung der Opfer von Straftaten nicht umgesetzt habe.
Im Jahr 2016 wurde in einem Urteil des Gerichtshofs festgestellt, dass Italien gegen die Richtlinie verstoßen hat. Im selben Jahr erließ Italien ein Gesetz, mit dem rückwirkend zum 30. Juni 2005, seine nationale Entschädigungsregelung eingeführt wurde, die sowohl innerstaatliche als auch grenzüberschreitende Fälle erfasst. Für Opfer von sexueller Gewalt wurde ein Festbetrag von 4800 Euro als vom italienischen Staat geschuldete Entschädigung für den Fall vorgesehen, dass das Opfer vom Täter keine Entschädigung erlangen kann.
Das vorlegende Gericht, die Corte Suprema di Cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien), die in letzter Instanz über den Fall von BV zu entscheiden hat, fragt den Gerichtshof, ob die Richtlinie jeden Mitgliedstaat verpflichtet, eine Entschädigungsregelung einzuführen, die nur Opfer in grenzüberschreitenden Fällen erfasst, oder ob sämtliche Opfer von in seinem Hoheitsgebiet begangenen vorsätzlichen Gewalttaten erfasst werden müssen.
Außerdem möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die im italienischen Recht für Opfer von sexueller Gewalt festgelegte Entschädigung von 4800 Euro „gerecht und angemessen“ im Sinne der Richtlinie ist. In seinen heutigen Schlussanträgen vertritt Generalanwalt Michal Bobek den Standpunkt, dass der Gerichtshof auf die erste Frage antworten sollte, dass die Richtlinie die Mitgliedstaaten verpflichte, einzelstaatliche Regelungen einzuführen, die eine Entschädigung für jedes Opfer einer in ihren Hoheitsgebieten vorsätzlich begangenen Straftat unabhängig davon vorsähen, wo das Opfer seinen Wohnsitz habe.
Der Generalanwalt legt die Richtlinie dahin aus, dass den Mitgliedstaaten damit zwei verschiedene Verpflichtungen auferlegt würden: 1) die Einführung eines Systems der Zusammenarbeit, um den Zugang zur Entschädigung in grenzüberschreitenden Fällen zu erleichtern, und 2) den Erlass einer nationalen Entschädigungsregelung, die bei jeder in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttat in Anspruch genommen werden könne.
Der Generalanwalt legt dar, dass diese Auslegung erkläre, warum zwei unterschiedliche Fristen für die Umsetzung in nationales Recht vorgesehen worden seien: eine (kürzere) für die Entschädigungsregelung und eine (längere) für das System der Zusammenarbeit.
Trotz der Mehrdeutigkeit der Richtlinie sieht der Generalanwalt drei Argumente, die diese Auslegung stützten. Erstens würden die in Art.1 (Würde des Menschen) und Art.6 (Recht auf Freiheit und Sicherheit) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta) niedergelegten Rechte jeder Person gewährleistet.
Zweitens erlaube Art.21 der Charta (Diskriminierungsverbot) keine unterschiedliche Behandlung von zwei Arten von Situationen, die beide grenzüberschreitende Elemente beinhalteten. Nach dem Wortlaut der Richtlinie liege eine grenzüberschreitende Situation vor, wenn eine vorsätzliche Gewalttat in einem anderem als dem Mitgliedstaat begangen worden sei, in dem das Opfer seinen gewöhnlichen Aufenthalt habe („reisendes Opfer“). Es gebe aber auch –in der Richtlinie nicht ausdrücklich erwähnte– Situationen, in denen der Täter und nicht das Opfer von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht habe („reisender Täter“). Gerade in diesen Situationen könne der Täter leicht flüchten, indem er in sein Land zurückkehre. Daher wäre es nicht gerechtfertigt, solche Fälle vom Anwendungsbereich der Richtlinie auszunehmen.
Schließlich führt der Generalanwalt das Argument der Gewaltenteilung zwischen dem Gesetzgeber und den Gerichten an.
Die Kommission macht geltend, der Rat habe beabsichtigt, den Anwendungsbereich der Richtlinie nicht auf die Regeln für die Entschädigung von Opfern in innerstaatlichen (nicht grenzüberschreitenden) Fällen zu erstrecken. Nach Ansicht des Generalanwalts ist aber eine solche klare Absicht weder aus dem Text der Richtlinie noch aus den vorbereitenden Arbeiten ersichtlich.

Jedenfalls könne der subjektive Wille des historischen Gesetzgebers, der im schließlich erlassenen Recht nirgendwo klar formuliert worden sei, nicht ausschlaggebend und daher für den Gerichtshof nicht bindend sein. In Bezug auf die zweite Frage der Corte Suprema di Cassazione schlägt Generalanwalt Bobek dem Gerichtshof die Antwort vor, dass eine Entschädigung eines Opfers „gerecht und angemessen“ im Sinne der Richtlinie sei, wenn mit ihr ein bedeutsamer Beitrag zum Ersatz des dem Opfer zugefügten Schadens geleistet werde. Insbesondere dürfe der Betrag der gewährten Entschädigung nicht so niedrig sein, dass er rein symbolisch erscheine oder für das Opfer praktisch von vernachlässigbarem oder geringem Nutzen sei. Der Generalanwalt ist der Auffassung, dass die Mitgliedstaaten, die insoweit über ein weites Ermessen verfügten, die Entschädigung als Pauschal- oder standardisierten Betrag festlegen könnten.

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