Mehr Zusammenarbeit in Europa und damit mehr Mitsprache in der Welt oder weniger von beidem – das ist nach Meinung vieler Politiker und Politikerinnen die zentrale Frage bei der bevorstehenden EU-Parlamentswahl Anfang Juni. Der liberale Politiker Guy Verhofstadt sieht wegen des prognostizierten Rechtsrucks gar einen „existenziellen Kampf“ auf die Union zukommen.
Das Europäische Parlament hat entscheidenden Einfluss auf die Gesetzgebung und Verwaltung in den Mitgliedstaaten. Als gleichberechtigter Gesetzgeber auf EU-Ebene verfügt es über Zuständigkeiten in nahezu allen Bereichen. Laut Politologe Andreas Maurer von der Universität Innsbruck sei das EU-Parlament „mächtiger als jedes nationale Parlament in Europa“.
Die national gewählten Abgeordneten befassen sich mit Themen wie dem Ausstieg aus fossilen Brennstoffen, der Wiederherstellung natürlicher Lebensräume, dem Verbot von Plastikverpackungen, den Arbeitsbedingungen von Fahrradkurieren und denjenigen entlang internationaler Lieferketten. Zudem bestimmt das Parlament mit bei internationalen Handelsverträgen, Regelungen zur Künstlichen Intelligenz (KI) und der Gleichberechtigung der Geschlechter.
Der Ministerrat und die Kommission, die anderen beiden großen Machtzentren in der EU, benötigen für fast alle Verordnungen und Richtlinien die Zustimmung des Europäischen Parlaments, erläutert Maurer. Ausnahmen sind die Außen- und Verteidigungspolitik sowie bestimmte Bereiche der Währungs- und Sozialpolitik.
Kaum ein Zuständigkeitsbereich geht am Parlament vorbei, so Maurer weiter. „Das Parlament ist heute auf Augenhöhe mit dem Ministerrat“, gleichberechtigt in der Gesetzgebung wie in einem Zweikammersystem. Das Parlament nutzt seinen Handlungsspielraum dabei oft zu seinen Gunsten, insbesondere gegenüber der Kommission, die vom Parlament bestätigt wird. Maurer spricht sogar von Fällen von „Geiselnahme der Kommission durch das Parlament“.
Die nationalen Regierungen beobachten diese offensiven Tendenzen aufmerksam, klagen aber selten laut und weichen zurück, wenn das Parlament den Europäischen Gerichtshof (EuGH) einschaltet. Die Erfolgschancen vor dem EuGH stünden bei „50:50“, so Maurer. Die Regierungen fürchteten eine Entscheidung zugunsten des Parlaments – „eine Situation, aus der der Rat nie wieder herauskommen würde“.
Der Machtzuwachs des Parlaments geht auf den Vertrag von Lissabon 2009 zurück, eine abgespeckte Version der ursprünglich geplanten EU-Verfassung. Die neue Ordnung zwischen den drei Institutionen der Union musste sich erst etablieren, wobei das Parlament nach und nach fast alle Grauzonen zu seinen Gunsten ausschöpfte.
Im Gegensatz zu nationalen Parlamenten wie dem österreichischen Nationalrat gibt es im EU-Parlament keinen Fraktions- oder Klubzwang. Bei jeder Abstimmung muss eine neue Mehrheit gefunden werden, was Offenheit und Rücksichtnahme erfordert, beschreiben die österreichischen EU-Abgeordneten. Evelyn Regner (SPÖ), eine der Vizepräsidentinnen des Parlaments, hebt zudem die größere Transparenz und den größeren Handlungsspielraum hervor.
Die Abgeordneten wollen mehrheitlich eine Vertiefung der europäischen Integration und einen noch größeren Gestaltungsraum. Nur populistische Parteien rechts der Europäischen Volkspartei (EVP) streben eine Reduzierung der Kompetenzen an. SPÖ-Abgeordnete Regner fordert mehr Einblick in die Arbeit des Ministerrates und mehr Flexibilität beim Stabilitätspakt. Othmar Karas (ÖVP), der nicht mehr kandidiert, betont die Notwendigkeit außertourlicher Budgetmittel für die grüne und digitale Transformation der Union.
720 Abgeordnete werden Anfang Juni gewählt, darunter 20 aus Österreich. Umfragen zeigen, dass die EVP wahrscheinlich die stärkste Gruppierung bleibt, während die Sozialdemokraten (S&D) wieder Zweiter werden dürften. Allerdings könnten die Rechtsaußenparteien deutlich stärker werden, was zu lauteren und härteren politischen Auseinandersetzungen führen könnte.
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