Kurzbeschreibung: Der Verwaltungsgerichtshof (VGH) hat im Anschluss an die mündliche Verhandlung vom 2. Juni 2022 Normenkontrollanträge dreier Unternehmen gegen die Betriebsschließungen vom Frühjahr 2020 abgelehnt.
Die seinerzeitigen Corona-Verordnungen der Landesregierung waren – so der 1. Senat des VGH in diesen ersten Hauptsacheentscheidungen zum ersten Lockdown – zwar zwischenzeitlich formell rechtswidrig, da im Zeitpunkt ihrer Notverkündung im Internet die aus rechtsstaatlichen Gründen notwendige Ausfertigung der jeweiligen Verordnung nicht vorlag. Dieser Mangel wurde jedoch jeweils mit der Verkündung im Gesetzblatt geheilt. Materiell-rechtlich waren die Corona-Verordnungen des Frühjahrs 2020 rechtmäßig. Insbesondere beruhten sie auf einer ausreichenden Rechtsgrundlage und verletzten die Inhaber der geschlossenen Betriebe nicht in ihren Grundrechten.
Verfahrensgegenstand
Mitte März 2020 wurden durch die Corona-Verordnung der Landesregierung zahlreiche Geschäfte und Einrichtungen geschlossen. Dagegen gerichtete Eilanträge wies der VGH im April 2020 zurück und führte zur Begründung damals u.a. aus, es sei offen, ob das Infektionsschutzgesetz im Hinblick auf den Parlamentsvorbehalt eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage für die landesweite Schließung bestimmter Arten von Betrieben sei. Von dieser offenen, im Hauptsacheverfahren zu klärenden Frage abgesehen, sei die durch die Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Betrieben und Verkaufsstellen wegen der hohen Bedeutung des Schutzes vor dem Coronavirus voraussichtlich zumutbar (siehe Pressemitteilungen vom 9. April 2020, 24. April 2020 und 29. April 2020).
In drei Hauptsacheverfahren klagen ein Fitnessstudio (1 S 926/20), ein Inhaber von drei Restaurants (1 S 1067/20) und ein Betreiber von Parfümerien (1 S 1079/20) auf Feststellung, dass die Schließung ihrer Betriebe im ersten Lockdown rechtswidrig war. Fitnessstudios blieben bis zum 1. Juni 2020 geschlossen, Gaststätten bis zum 17. Mai 2020. Nicht grundversorgungsrelevante Einzelhandelsgeschäfte mit einer Verkaufsfläche von nicht mehr als 800 Quadratmetern – zu denen die Parfümerien der Antragstellerin im Verfahren 1 S 1079/20 gehörten – konnten ab dem 20. April 2020 öffnen. Die Eilanträge der drei Antragstellerinnen gegen die Schließungen blieben im Frühjahr 2020 erfolglos.
Die Corona-Verordnungen des ersten Lockdowns, die Betriebsschließungen anordneten, sind außer Kraft getreten. Daher klagen die Antragstellerinnen auf nachträgliche Feststellung, dass die Vorschriften zur Schließung ihrer Betriebe unwirksam waren, und machen geltend, im Hinblick auf Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche ein rechtliches Interesse an der Feststellung zu haben.
Urteile des 1. Senats und Bedeutung der Verfahren
Der 1. Senat des VGH hat in umfangreich begründeten Urteilen die Feststellungsanträge als zulässig angesehen, aber als unbegründet abgelehnt. Die Urteile haben eine über die drei Einzelfälle hinaushegende Bedeutung, da es sich um die ersten Hauptsacheentscheidungen zum Lockdown des Frühjahrs 2020 in Baden-Württemberg handelt und bundesweit Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtmäßigkeit des ersten Lockdowns noch nicht vorliegen.
Formelle Rechtmäßigkeit der Corona-Verordnungen
Der 1. Senat des VGH führt in den Urteilsgründen zur formellen Rechtmäßigkeit der Corona-Verordnungen des Frühjahrs 2020 aus: Die Landesregierung (Antragsgegner) hat vor Erlass der Corona-Verordnung vom 17. März 2020 und nachfolgender Änderungsverordnungen die Kommunalen Landesverbände rechtzeitig gemäß Art. 71 Abs. 4 Landesverfassung (LV) angehört und auch das Zitiergebot des Art. 61 Abs. 1 Satz 3 LV beachtet.
Die Corona-Verordnung vom 17. März 2020 und nachfolgende Änderungsverordnungen waren jedoch zwischenzeitlich formell rechtswidrig. Das Verfahren zu ihrem Erlass – in der Reihenfolge: Beschlussfassung im Kabinett im schriftlichen Umlaufverfahren, Feststellung des ordnungsgemäßen Zustandekommens des Kabinettsbeschlusses und Prüfung auf Richtigkeit und Vollständigkeit durch den Chef der Staatskanzlei, telefonische Unterrichtung des Ministerpräsidenten durch den Chef der Staatskanzlei, Prüfung und telefonische Freigabe zur Notverkündung durch den Ministerpräsidenten, Notverkündung der Verordnung auf den Internetseiten des Landes, Unterschrift des Ministerpräsidenten und der Minister auf der Urschrift der Verordnungen, Verkündung im Gesetzblatt – genügte im Zeitpunkt der Notverkündung im Internet nicht den Anforderungen an eine wirksame Ausfertigung. Die Ausfertigung einer Rechtsverordnung gemäß Art. 63 Abs. 2 Halbs. 1 LV ist die Herstellung der Originalurkunde der Rechtsverordnung, mit der die Authentizität des Norminhalts bestätigt und der Verkündungsbefehl erteilt wird. Sie setzt voraus, dass die erlassende Stelle die Originalurkunde unterzeichnet. Für die Ausfertigung einer Rechtsverordnung der Landesregierung nach Art. 63 Abs. 2 Halbs. 1 LV reicht dabei die Unterschrift des Ministerpräsidenten aus.
Die Ausfertigung einer Rechtsverordnung muss vor der Verkündung erfolgen. Dies gilt auch im Fall einer Notverkündung nach § 4 VerkG. Die Corona-Verordnung vom 17. März 2020 und die nachfolgenden Änderungsverordnungen des ersten Lockdowns genügten dem Erfordernis, dass die Ausfertigung der Verordnung vor der Verkündung erfolgen muss, im Zeitpunkt der Notverkündung jeweils nicht. Eine ausgefertigte Originalurkunde lag allerdings jeweils wenige Tage später vor der anschließenden regulären Verkündung der Verordnungen im Gesetzblatt vor. Damit wurde der formell-rechtliche Fehler jeweils mit Wirkung ex nunc, d.h. ab dem Zeitpunkt der Verkündung im Gesetzblatt geheilt. Die Verordnungen erlangten daher jeweils am Folgetag der Verkündung im Gesetzblatt Wirksamkeit. Eine rückwirkende Heilung des Mangels trat hingegen nicht ein.
Ermächtigungsgrundlage und Parlamentsvorbehalt
Der 1. Senat des VGH führt in den Urteilsgründen zur materiellen Rechtmäßigkeit der Corona-Verordnungen des Frühjahrs 2020 aus: Die Betriebsuntersagung für Fitnessstudios, Gaststätten und den nicht grundversorgungsrelevanten Einzelhandel war materiell rechtmäßig. Für sie kam als gesetzliche Ermächtigungsgrundlage einzig § 32 IfSG i.V.m. § 28 Abs. 1 IfSG in Betracht. Die Vorschrift des § 28 Abs. 1 IfSG ermächtigt auch zu Maßnahmen der Gefahrenvorsorge, die tatbestandlich bereits weit im Vorfeld einer konkreten oder abstrakten Gefahr ansetzen. Sie eröffnet die Möglichkeit zum Erlass von Maßnahmen gegenüber der Allgemeinheit, ohne dass hierfür die strengen Anforderungen der gefahrenabwehrrechtlichen Nichtstörerinanspruchnahme erfüllt sein müssen. Auf die Frage, ob es in den Betrieben der Antragstellerinnen zu Infektionen mit dem Coronavirus kam, kommt es daher nicht an.
§ 32 Satz 1 IfSG i.V.m. § 28 Abs. 1 IfSG war für die Betriebsuntersagungen des ersten Lockdowns eine dem Vorbehalt des Gesetzes in seiner Ausprägung als Parlamentsvorbehalt genügende Ermächtigungsgrundlage. Generalklauseln des Gefahrenabwehrrechts wie § 32 Satz 1 IfSG i.V.m. § 28 Abs. 1 IfSG ermöglichen es den zuständigen Behörden, auf unvorhergesehene Gefahrensituationen auch mit im Grunde genommen näher regelungsbedürftigen Maßnahmen vorläufig zu reagieren, und ermöglichen es zugleich dem Gesetzgeber, eventuelle Regelungslücken zu schließen. Der Infektionsschutz zählt zur Regelungsmaterie der Gefahrenabwehr und ist in besonderem Maße durch sich in tatsächlicher Hinsicht ständig wandelnde Umstände geprägt. Denn es treten immer wieder Krankheitserreger auf, deren Ansteckungsrisiken und gesundheitlichen Folgen zunächst nicht oder nicht vollständig bekannt sind. Es liegt in der Natur übertragbarer – insbesondere neu auftretender – Krankheiten, dass sich die Art der Schutzmaßnahmen, die sich im konkreten Fall als notwendig erweisen, nicht von vornherein vorhersehen lassen. Daher sind Generalklauseln wie § 28 Abs. 1 IfSG für einen Beobachtungs- oder Übergangszeitraum verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Jedoch können Maßnahmen, die – wie die Betriebsuntersagungen des sog. ersten Lockdowns – eine hohe Eingriffsintensität aufweisen und daher „wesentliche“ Fragen betreffen, nicht auf Dauer auf die Generalklausel des § 28 Abs. 1 IfSG gestützt werden. Der dem Gesetzgeber nach dem Auftreten neuer Gefahren – hier neuer übertragbarer Krankheiten – verbleibende sog. Beobachtungs- oder Übergangszeitraum lief in der Corona-Pandemie in Bezug auf die Entscheidung, ob die Exekutive weiterhin zu schwerwiegenden Grundrechtseingriffen in der Gestalt von landesweiten Betriebsschließungen ermächtigt sein sollte, vor dem Beginn der sog. zweiten Welle im Herbst 2020 – wobei viel für den 30. September 2020 als Enddatum spricht – ab. Im Zeitraum der Betriebsuntersagungen des Lockdowns vom Frühjahr 2020 war der dem Gesetzgeber zustehende Beobachtungs- und Überprüfungszeitraum jedoch noch nicht abgelaufen.
Berufsfreiheit
Die Betriebsuntersagung für Fitnessstudios, Gaststätten und den nicht grundversorgungsrelevanten Einzelhandel verstieß nicht gegen das Grundrecht der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG. In der Gesamtschau durfte der Antragsgegner bei Erlass der streitgegenständlichen Verordnungen ex ante aufgrund der regelmäßig von ihm ausgewerteten Daten des Robert Koch-Instituts und des Landesgesundheitsamts ohne Rechtsfehler davon ausgehen, dass bei weiterem Ansteigen der Infektionszahlen eine Überlastung der medizinischen Versorgungskapazitäten zu befürchten war. Denn sowohl die Modellierungen der wissenschaftlichen Berater des Antragsgegners als auch das tatsächliche Anwachsen der Patientenzahlen stellten eine ausreichende Beurteilungsgrundlage im Hinblick auf die befürchteten Engpässe bei der Gesundheitsversorgung dar. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus anderen europäischen Ländern wie Italien und Frankreich durfte der Antragsgegner bei seinen Maßnahmen zugrunde legen, dass eine Vielzahl krankenhauspflichtiger Infizierter, die zusammen mit den Patienten der seinerzeit noch laufenden Grippewelle und erwartbarer Krankheitsausfälle beim Krankenhauspersonal zu einer Überforderung des Gesundheitswesens führen würden, zumal neben der Versorgung von COVID19-Patienten auch die sonstige Krankenhausversorgung für akute Fälle aufrechterhalten werden musste.
Der durch die Betriebsuntersagung bewirkte Eingriff in die Berufsfreiheit der Antragstellerinnen war zumutbar. Der Eingriff hatte aufgrund der Dauer der Schließungen erhebliches Gewicht. Viele Betriebe erlitten gravierende wirtschaftliche Einbußen. Auf der anderen Seite bestand durch die exponentielle Weiterverbreitung des Coronavirus und die befürchtete Überlastung des Gesundheitswesens das Erfordernis, weitreichende kontaktbeschränkende Maßnahmen zu ergreifen, um das Infektionsgeschehen abzubremsen, dadurch Leib und Leben einer Vielzahl von Menschen zu schützen und die Erhaltung der Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems Deutschlands sicherzustellen. Abgemildert wurde der Eingriff durch verschiedene und umfangreiche staatliche Hilfsmaßnahmen für die von der Betriebsuntersagung betroffenen Unternehmen.
Eigentumsfreiheit
Die Betriebsuntersagung für Fitnessstudios, Gaststätten und den nicht grundversorgungsrelevanten Einzelhandel verletzte nicht das Eigentumsrecht nach Art. 14 Abs. 1 GG. Zwar handelte es sich bei einer mehrwöchigen Betriebsuntersagung um eine Maßnahme mit sehr erheblichen wirtschaftlichen Auswirkungen für die betroffenen Betriebe. Diese Auswirkungen betrafen jedoch lediglich die durch Art. 14 Abs. 1 GG nicht geschützten Umsatz- und Gewinnerwartungen und erreichten typischerweise nicht ein die Substanz des Betriebes angreifendes und daher ein Schutzgut i.S.v. Art. 14 Abs. 1 GG tangierendes Ausmaß. Vielmehr bewegten sie sich trotz des erheblichen Schließungszeitraums im Rahmen derjenigen Risiken unternehmerischer Tätigkeit, die – wie z.B. Naturkatastrophen, kriegerische Auseinandersetzungen, Wegbrechen von Märkten, Unterbrechung von Lieferbeziehungen, grundlegender technologischer Wandel – grundsätzlich jederzeit eintreten können und in diesem Umfang, auch wenn sie staatlicherseits veranlasst sind, ohne verfassungsrechtlichen Schutz aus Art. 14 Abs. 1 GG hinzunehmen sind. Daher ist bereits der Schutzbereich der Eigentumsfreiheit nicht berührt.
Selbst wenn – gedanklich unterstellt – ein Eingriff in das Eigentumsrecht vorläge, würde dieser nicht die Pflicht des Gesetzgebers begründen, zugunsten der von den Betriebsuntersagungen des ersten Lockdowns betroffenen Betriebe Ausgleichs- oder Entschädigungsansprüche zu normieren. Denn es bestanden hier aufgrund der außerordentlichen gesamtstaatlichen Auswirkungen der Pandemie allenfalls objektiv-rechtliche Pflichten des Staates zu Ausgleichsmaßnahmen wegen der Betriebsuntersagungen.
Gleichbehandlungsgrundsatz
Die Betriebsuntersagung für Fitnessstudios, Gaststätten und den nicht grundversorgungsrelevanten Einzelhandel verstieß auch nicht gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Soweit der Antragsgegner in Bezug auf die zu Beginn der Pandemie normierten Betriebsschließungen Differenzierungen zwischen verschiedenen Betrieben vorgenommen hat, begegnet dies keinen durchgreifenden gleichheitsrechtlichen Bedenken. Keine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes begründete insbesondere die Grundentscheidung des Antragsgegners, Einzelhandelsbetriebe und Märkte, die der Grundversorgung dienen, keinen Schließungen zu unterwerfen. Denn die Privilegierung des Grundversorgungshandels, der für das tägliche Leben nicht verzichtbare Produkte verkauft, ist durch gewichtige Belange des Gemeinwohls gerechtfertigt.
In allen drei Verfahren wurde die Revision zum Bundesverwaltungsgericht zugelassen. Sie kann binnen eines Monats nach Zustellung des jeweiligen Urteils eingelegt werden (Az. 1 S 926/20, 1 S 1067/20, 1 S 1079/20).
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