Der Gerichtshof bestätigt seine Rechtsprechung, wonach der rentenzahlungspflichtige Mitgliedstaat, in dem die Begünstigte sowohl vor als auch nach der Verlegung ihres Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat, in dem sie sich der Erziehung ihrer Kinder gewidmet hat, ausschließlich gearbeitet und Beiträge entrichtet hat, diese
Kindererziehungszeiten berücksichtigen muss zog im November 1987, nachdem sie eine selbständige Erwerbstätigkeit in Österreich ausgeübt hatte, nach Belgien, wo sie am 5. Dezember 1987 und am 23. Februar 1990 zwei Kinder zur Welt brachte.
Ab der Geburt ihresersten Kindes widmete sie sich der Erziehung ihrer Kinder, ohne eine Beschäftigung auszuüben, ohne Versicherungszeiten zu erwerben und ohne Leistungen für ihre Erziehung zu beziehen.
Gleiches gilt für ihren Aufenthalt in Ungarn, wo sie im Dezember 1991 lebte.
Nach ihrer Rückkehr nach Österreich im Februar 1993 widmete sich CC für 13 weitere Monate der Erziehung ihrer Kinder, unterlag jedoch der Pflichtversicherung und entrichtete Beiträge zum österreichischen Sozialversicherungssystem. Anschließend arbeitete sie in diesem Mitgliedstaat bis zu ihrem Eintritt in den
Ruhestand und entrichtete Beiträge.
Nachdem sie bei der österreichischen Pensionsversicherungsanstalt eine Altersrente beantragt hatte, wurde ihr dieser Anspruch mit Bescheid vom 29. Dezember 2017 zuerkannt. Die in Österreich zurückgelegten Kindererziehungszeiten wurden Versicherungszeiten gleichgestellt und bei der Berechnung der Höhe ihrer Rente
berücksichtigt. Die in Belgien und Ungarn zurückgelegten Zeiten wurden hingegen nicht berücksichtigt. CC focht diesen Bescheid mit der Begründung an, dass die in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegten Kindererziehungszeiten auf der Grundlage von Art. 21 AEUV, in dem das Recht der Unionsbürger auf Freizügigkeitverankert werde, Versicherungszeiten gleichzustellen seien, da sie vor und nach diesen Zeiten in Österreich
gearbeitet habe und sozialversichert gewesen sei.
Nachdem ihre Berufung zurückgewiesen worden war, legte CC Revision beim Obersten Gerichtshof (Österreich) ein. Da der Oberste Gerichtshof Zweifel daran hatte, ob in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegte Kindererziehungszeiten bei der Berechnung der Altersrente zu berücksichtigen sind, hat er den Gerichtshof um Auslegung einer Bestimmung des Sekundärrechts der Union ersucht1, die im vorliegenden Fall zeitlich anwendbarist. Es sei nämlich nicht ausgeschlossen, dass diese Bestimmung die Voraussetzungen für eine solche Berücksichtigung abschließend vorsehe, und CC erfülle diese nicht, da sie zum Zeitpunkt, zu dem ihre erste Kindererziehungszeit begonnen habe, keine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit in Österreich ausgeübt habe.
Mit seinem Urteil verneint der Gerichtshof, dass diese Bestimmung die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten, die ein und dieselbe Person in verschiedenen Mitgliedstaaten zurückgelegt hat, abschließend regelt, und bestätigt, dass diese Zeiten im vorliegenden Fall nach Art. 21 AEUV zu berücksichtigen sind.
Würdigung durch den Gerichtshof
Erstens stellt der Gerichtshof fest, dass Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009 in Anbetracht seines Wortlauts, des Zusammenhangs, in den er sich einfügt, und der Ziele, die mit der Regelung, zu der er gehört, verfolgt werden, dahin auszulegen ist, dass er die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten, die ein und dieselbe Person in
verschiedenen Mitgliedstaaten zurückgelegt hat, nicht abschließend regelt.
Zum Wortlaut von Art. 44 stellt der Gerichtshof fest, dass aus dieser Bestimmung nicht hervorgeht, dass sie diese Berücksichtigung abschließend regelt, und dass diese Bestimmung zwar eine Kodifizierung seiner hierzu ergangenen Rechtsprechung darstellt
2, das Urteil Reichel-Alber
t3 aber zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens noch nicht verkündet worden war und daher die Erkenntnisse aus diesem Urteil beim Erlass der Verordnung Nr. 987/2009
nicht im Hinblick auf ihre etwaige Kodifizierung berücksichtigt werden konnten.
Zum Regelungszusammenhang von Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009 stellt der Gerichtshof unter Verweis auf den Titel und das Kapitel dieser Verordnung, zu denen er gehört, klar, dass diese Bestimmung eine zusätzlicheRegelung enthält, die es ermöglicht, die Wahrscheinlichkeit der vollständigen Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten der betreffenden Personen zu erhöhen und somit eine Nichtanrechnung so weit wie
möglich zu vermeiden.
Was das Ziel der Verordnung Nr. 987/2009 betrifft, liefe eine Auslegung, nach der Art. 44 dieser Verordnung die Berücksichtigung von in verschiedenen Mitgliedstaaten zurückgelegten Kindererziehungszeiten abschließend regelt, darauf hinaus, dass der rentenzahlungspflichtige Mitgliedstaat, in dem eine Person ausschließlich gearbeitet und Beiträge geleistet hat, und zwar sowohl vor als auch nach der Verlegung ihres Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat, in dem sie sich der Erziehung ihrer Kinder gewidmet hat, die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten, die diese Person in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegt hat, verweigern und diese folglich benachteiligen könnte, nur weil sie ihr Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat.
Eine solche Auslegung liefe daher den mit dieser Verordnung verfolgten Zielen zuwider, insbesondere dem Ziel, die Beachtung des in Art. 21 AEUV verankerten Grundsatzes der Freizügigkeit zu gewährleisten, und könnte somit die praktische Wirksamkeit von Art. 44 dieser Verordnung gefährden.
Zweitens entscheidet der Gerichtshof, dass die Erkenntnisse aus dem Urteil Reichel–Albert, um die Beachtung dieses Grundsatzes sicherzustellen, auf einen Fall wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden übertragbar sind, in dem die betroffene Person nicht die Voraussetzung der Ausübung einer Beschäftigung oder selbständigen
Erwerbstätigkeit gemäß dieser Bestimmung erfüllt, um die Berücksichtigung der von ihr in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegten Kindererziehungszeiten bei der Gewährung einer Altersrente durch den rentenzahlungspflichtigen Mitgliedstaat zu erreichen.
Folglich ist dieser Mitgliedstaat nach Art. 21 AEUV verpflichtet, diese Zeiträume zu
berücksichtigen, sofern diese Person ausschließlich in diesem Mitgliedstaat gearbeitet und Beiträge entrichtet hat, und zwar sowohl vor als auch nach der Verlegung ihres Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat, in dem sie diese Zeiten zurückgelegt hat.
So besteht wie beim Sachverhalt, der im Urteil Reichel–Albert in Rede stand, eine hinreichende Verbindung zwischen den von CC im Ausland zurückgelegten Kindererziehungszeiten und den aufgrund der Ausübung einer Erwerbstätigkeit in Österreich erworbenen Versicherungszeiten. Folglich sind die Rechtsvorschriften
dieses Mitgliedstaats für die Berücksichtigung und Anrechnung dieser Zeiten im Hinblick auf die Gewährung einer Altersrente durch ihn anzuwenden.
Wenn CC Österreich nicht verlassen hätte, wären ihre Kindererziehungszeiten bei der Berechnung ihrer österreichischen Altersrente berücksichtigt worden. Folglich ist CC wie die betroffene Person in der Rechtssache, in der das Urteil Reichel–Albert ergangen ist, nur deshalb benachteiligt, weil sie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, was gegen Art. 21 AEUV verstößt.
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