Vielleicht startet es eine Diskussion, die aus meiner Sicht längst überfällig ist: Das Vertriebs-Bashing bei gescheiterten oder gefährdeten Kapitalanlagen, zuletzt im Gold-Segment. Zugegeben, einige Produkt-Strukturen sind sonderbar, hohe Kosten, schuldrechtlich-sachenrechtliche Fragen, Konkurrenz, manchmal Ermittlungsverfahren. Die Ausgangslage ist zum Teil sehr fragwürdig. Geschenkt. Und auch während eines Angebots gibt es regelmäßig Zweifler und Warner – und das ist auch gut so. Dementsprechend gibt es hinterher natürlich diejenigen, die, zum Teil oberlehrerhaft, verlauten: „Ich habe es ja schon immer gesagt“. Auch das: Geschenkt.
Doch was dann regelmäßig einsetzt, ist weniger klug: Das Vertriebs-Bashing. Es lässt einiges außer Acht. Dabei will ich nicht verhehlen, dass es schlechte Vermittler und Berater gibt. Auch das wäre zu unbedacht. Aber kritikwürdig ist der Umstand, dass in zivilrechtlicher, kommunikativer und leider auch moralischer Hinsicht der Vertrieb allgemeinhin vor den Skandal geschoben wird, als hauptsächliche Zielscheibe. In den Hintergrund treten die tatsächlichen Vorgänge, die Verantwortlichen für die Mittelverwendung, die mutmaßlichen Betrüger, von mir aus auch der Staat mit mangelhafter Regulierung. Da man in einem Skandal mit vielleicht strafrechtlich relevanten Inhalten und schlimmstenfalls Auslandsbezügen typischerweise noch keine frühen Fakten erhält, ist die natürliche Reaktion der Geschädigten einerseits: „Wo ist mein Geld?“. Und die Empörung, das Aufklärungsbedürfnis, die Wut natürlich. Andererseits führt dies viel zu pauschal zur Reflexkultur: „Ist doch egal, solange der Vertrieb haftet!“.
Dieser Reflex wiederum wird durch die rechtpolitische und in der Rechtsprechung gelebte Kultur „Anlegerschutz durch Regress des Vertriebs“ gestützt. Es gibt kaum eine vorvertragliche Pflichtverletzung, die noch nicht erkannt und zum Grund für Schadensersatz geformt wurde. Und wer seinen Schaden vom Vertrieb ersetzt bekommt, muss und darf ihn sich nicht von jemand anderem holen. Wie praktisch! Das führt soweit, dass Vermittler und Berater im Rahmen der sog. Plausibilitätsprüfung (!) für komplizierte rechtliche (!) Eigenheiten der Anlageverträge einzustehen haben oder für wirtschaftliche Fehlberechnungen, obwohl sie weder Juristen sind, noch Wirtschaftsprüfer. Sie sollen etwas erkennen, was auch der Anleger nicht erkennt. Wegen des sog. strukturellen informatorischen Ungleichgewichts zwischen Berater und Beratenem.
Ist klar. Nur wo ist dieses Ungleichgewicht, wenn es um Betrüger geht? Täuschung ist das Wesen des Betrugs. Je geschickter der Betrüger, umso besser die Täuschung und umso größer ist die eingeworbene Geldsumme – und umso größer natürlich der Skandal und die Empörung. Und umso getäuschter ist eben auch der Vertrieb. Doch der soll gerade den Betrüger besser erkannt haben? Warum? Weil für ihn die Täuschung offensichtlicher ist? Gerade nicht. In aller Regel wird der Vertrieb in Betrugskonstellationen als Werkzeug benutzt (mittelbare Täterschaft des Betrügers). Er wird sogar noch viel früher getäuscht und viel plausibler.
Dieses strukturelle Ungleichgewicht lässt sich freilich noch abstrakter in Frage stellen. Denn ist es heutzutage wirklich noch so, dass die Anlegerschaft – beispielsweise im Bereich der stillen Beteiligungen, im Bereich der Schiffsfonds, der Medienfonds, der kapitalbildenden Versicherungen und eben auch im Bereich Gold – so völlig unbedarft ist und sich gegen den dolosen Vertrieb stellen kann? Es ist nicht nur der alte Spruch, dass die Gier das Hirn frisst. Denn über welchen Skandal wurde denn nicht berichtet in den letzten – sagen wir – 15 Jahren? Wer hat denn noch nie gehört von der Göttinger Gruppe, Phoenix Kapitaldienst, S&K, INFINUS, Lombardium, Deutsche Biofonds, EN Storage, P&R, Wölbern Invest, Carpe Diem, Selfmade Capital/NCI, ACI, BWF, PIM Gold, PICAM/PICCOR usw.? Wer weiß denn in Zeiten von Dieselskandalen, miesen Rückkaufswerten, ewigen und gesetzlich beschränkten Widerspruchs-/Widerrufsrechten nicht von dem Umstand, dass im Kapitalanlagebereich nicht alles Gold ist, was glänzt? Der ewige Kapitalanleger etwa, dessen Ausführungen im Gerichtsprozess immer gleich, einstudiert und inhaltsleer wirken („Es war zur Altersvorsorge und es sollte absolut sicher sein, weil ich meinem Berater vertraut habe“)? Ganz sicher nicht. Denn heutzutage kann als Allgemeinwissen gelten – gerade durch die Regress- und Berichts- und Empörungskultur –, dass Kapitalanlagen scheitern können und exorbitante Renditeversprechen nur ganz, ganz selten eingelöst werden.
Nochmals: Die aktuelle Kultur und mit ihr auch das Vertriebs-Bashing sind kaum zu leugnen und sicher auch zum Teil geboten. Aber überwiegend ist das auch allzu billig. Viele Anleger werden das erleben, wenn der Vermittler oder Berater haften soll, aber nicht versichert ist und/oder insolvent wird. Dann ist der Geschädigte doppeltes Opfer, fiel erst auf eine Kapitalanlage herein und dann tappte er in die Regressfalle (bei hohen eigenen Kosten). Aber danach erfolgt üblicherweise ein anderer Reflex: Der Ruf nach dem Staat. Der muss handeln. Sich schützend vor seinen Bürger stellen. Gegen den Vertrieb. Nur die sind auch Bürger. Kaum zu glauben, aber wahr. Und wenn das aktuell nicht hilf? Natürlich, Staatshaftung. Sie glauben, dass ist absurd? Schonmal etwas von Wirecard gehört?
tiefer kann der See nicht ruhen
Fast 6 Jahre ist es nun her und nie was gehört!! Immer wieder der Hammer…