Das System „Strukturvertrieb“, auch Multi-Level-Marketing genannt, kommt aus den USA und ist ein reines Vertriebssystem.
Nach dem Schneeballsystem werden dabei von selbständigen Mitarbeitern unter anderem Kosmetika, Finanzdienstleistungen, Motivationskurse – oft zu überhöhten Preisen – vertrieben. Ziel ist es, neue Kunden bzw. Mitarbeiter zu werben.
Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass in Deutschland bereits über 500.000 Personen Gelder im Umfang von mehr als 10 Milliarden Euro in derartige Systeme eingezahlt haben. Ca. 140 -200 Systeme operieren derzeit bundesweit, wobei eine zunehmende Verlagerung ins Ausland zu verzeichnen ist. Strukturvertriebe vertreiben konkrete Produkte oder sie stellen ein reines Geldflusssystem dar. In letzterem Fall steht das Anwerben neuer Mitglieder und die hiermit verbundene Provisionserlangung im Vordergrund. Zu berücksichtigen ist, dass Strukturvertriebe – ähnlich wie religiöse, weltanschauliche und Psychoangebote – erst ab einer bestimmten extremen Ausformung von Merkmalen (beispielsweise bei der Anwendung von manipulativen Psychotechniken) zu einer für den Einzelnen potentiellen Konfliktträchtigkeit führen.
Es gibt auch durchaus seriöse Unternehmen, die nach diesem System arbeiten. Sie bedienen sich des Schneeballsystems, vertreiben aber Waren zu angemessenen Preisen und versuchen nicht, Abhängigkeit bei ihren Mitarbeitern zu erzeugen.
Bei potentiell konfliktträchtigen Strukturvertrieben werden – ähnlich dem Vorgehen von fundamentalistischen religiösen Gruppierungen oder auch der Scientology-Organisation – manipulative Psychotechniken eingesetzt und starke emotionale und finanzielle Abhängigkeiten erzeugt.
Die psychische Beeinflussung beginnt bei der Anwerbung der potentiellen Neueinsteiger, die meist aus dem systematisch abgeklopften näheren Umfeld und Bekanntenkreis des Anwerbenden stammen. Es ist bekannt, dass Strukturvertriebe empfehlen, den Friseur, den Lehrer, den Elternbeirat, die Kegelbrüder, die Tennispartner, die Kollegen ihres Gatten/ihrer Gattin anzusprechen.
Neben der Mund-zu-Mund-Propaganda wird auch in Zeitungsanzeigen oder an Laternenpfählen geworben und das schnelle große Geld versprochen. Insbesondere Personen mit finanziellen, beruflichen oder persönlichen Problemen werden auf diese Weise angesprochen und angelockt.
Für die Werbeaktionen werden die Anwerber speziell geschult (z. B. Erscheinen in neuem, teurem „Outfit“, um Neugier zu erwecken, oder uniforme Firmenkleider, Einüben von Argumentationsmustern und Vorbereitung auf typische Einwände, firmeninterne Sprachregelungen), was in der Regel von ihnen selbst finanziert werden muss. Es findet eine totale Ausrichtung auf Geld und Erfolg statt, kleinere Geschenke suggerieren leicht erreichbaren künftigen Luxus.
Die häufig pompös angelegten Werbeveranstaltungen für Interessenten finden zumeist in Hotels der oberen Kategorie und entsprechendem Luxusambiente (Kleiderordnung, Luxusautos mit Firmenlogo vor dem Hoteleingang etc.) statt, für die vorab eine Eintrittsgebühr entrichtet werden muss: Hier findet man sich auf einer Veranstaltung wieder, in der eine euphorische Stimmung erzeugt und „phantastische Verdienstmöglichkeiten“ in Aussicht gestellt werden.
Bei jeder Veranstaltung sind mindestens die Hälfte der scheinbar Interessierten Mitglieder des Vertriebs, die sich in einer festgelegten Sitzordnung zwischen die Neuen setzen, Atmosphäre schaffen und so kritisches Hinterfragen verhindern sollen.
Banale Weisheiten des Redners über Glück, Erfolg, Beruf etc. werden mit stehenden Ovationen bedacht, bei Fragen auf das Vortragsende verwiesen (und dann nicht mehr beantwortet). Informationen, Statistiken, betriebswirtschaftliche Berechnungen werden mit Overhead-Projektor oder Computer-Animation in schneller Folge an die Wand projiziert und wieder weggenommen, so dass dem Zuschauer keine Gelegenheit zur Informationsverarbeitung bleibt, sich vielmehr ein Gefühl von Nichtwissen, der Wunsch dazuzugehören und eine generelle Bereitschaft zur Beeinflussung einstellt. In vielen Fällen unterstreichen Erfolgsberichte von Anwesenden – immer beklatscht – den Nutzen eines Beitritts und suggerieren einen schnellen Erfolg. Normale Erwerbstätigkeit wird abgewertet: sie bleibe den „loosern“, die später einmal für die „winner“ arbeiten werden. Aussprüche wie „wir wollen, dass andere für Sie arbeiten“, „Sie sind Ihr eigener Chef“ oder „Wir haben Sie für Höheres vorgesehen“ etc. schmeicheln dem Gast und erzeugen ein Gefühl des Auserwähltseins, auf Kosten der rationalen Kritik- und Denkfähigkeit.
Vor einem Vertragsabschluss wird nur eine kurze Bedenkzeit von ca. 15 Minuten eingeräumt. Zusätzlich wird weiterer Druck mit der Aussage ausgeübt, bei Nichtbeitritt in eine „Schwarze Liste“ aufgenommen zu werden, was bedeutet, zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr oder nur noch zu schlechten Bedingungen in das System einsteigen zu können.
In manchen Fällen finden die Werbeveranstaltungen gezielt am Sonntagabend statt, so dass am Montagmorgen bereits ein Banktermin zwecks Kreditaufnahme arrangiert werden kann. Das Geld wird unmittelbar an den persönlichen „Betreuer“, sprich Werber, weitergegeben. In der folgenden Woche schließen sich dann die Instruktionsveranstaltungen für weitere Anwerbungen an.
4. Finanzielle Auswirkungen
In den meisten Fällen verschulden sich die Mitarbeiter zunehmend durch kostenintensive Seminare und Schulungen, durch hohe Eingangsinvestitionen (z. B. kostet ein Software-Paket für Persönlichkeitsanalyse ca. 10.000,– Euro).
Bei bestimmten Strukturvertrieben müssen die Mitarbeiter die Produkte vorab in großen Mengen abkaufen, ohne Rückgaberecht. Oder sie erwerben sich Titel wie „Bezirksleiter“, Regionalmanager“ und teure Statussymbole, in der Hoffnung auf den zu erwartenden finanziellen Erfolg. Leidtragende sind neben den Betroffenen auch die Familienangehörigen.
5. Psychosoziale Auswirkungen
Bei manchen Mitarbeitern ist eine Persönlichkeitsveränderung und -einengung zu beobachten. Bisherige Werte, das Denken und Handeln können sich so verändern, dass jede Beziehung und jede Handlung nur noch unter dem Aspekt von Geld und Erfolg gesehen wird und Verhaltensweisen wie Fanatisierung, Rücksichtslosigkeit oder Desinteresse auftreten.Es kann dazu kommen, dass familiäre Beziehungen und Partnerschaften aufgekündigt werden oder kaputt gehen, Kinder vernachlässigt werden und die sozialen Kontakte abnehmen, da sich die Mitarbeiter durch ihr ausschließliches Werbeverhalten im Freundeskreis zunehmend isolieren. Schulische Laufbahnen oder berufliche Karrieren werden leichtfertig aufgegeben. Das Unternehmen wird zum Familienersatz, es können psychische Abhängigkeiten von Personen und Animationsveranstaltungen entstehen, in denen man sich wieder in gute Stimmung versetzen lassen kann.
Ein rechtzeitiger Ausstieg ist oft schwierig, da das soziale Netz und die berufliche Existenz zerstört sind.
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