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Thüringer Landtag Versuch der Zweite

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jorono (CC0), Pixabay
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Spannend dürfte es heute im Thüringer Landtag werden, denn heute muss sich der AfD-Alterspräsident an die einstweilige Verfügung des Thüringer Verfassungsgerichtshofs halten. Aber ob Jürgen Treutler, Höckes Marionette, das auch tatsächlich tun wird, ist die spannende Frage. Jürgen Treutler hat das Amt des Alterspräsidenten schwer beschädigt und muss möglicherweise nun auch mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen, da einige Abgeordnete sich seine Amtsführung nicht gefallen lassen wollen.

Die Frage ist jedoch generell, wie lange Treutler überhaupt im Thüringer Landtag bleibt. Seitens der AfD hatte man ihn nur deshalb in den Landtag geschickt, weil man wusste, dass er das älteste Mitglied des Landtags sein würde. Treutler selbst ist politisch unbekannt und sicherlich nicht für herausragende Leistungen in seinem bisherigen Leben, was die Politik betrifft, bekannt. Es ist möglich, dass Jürgen Treutler nach wenigen Wochen sein Landtagsmandat zurückgeben wird.

Der Beschluss

VerfGH 36/24
THÜRINGER VERFASSUNGSGERICHTSHOF
VerfGH 36/24
Im Namen des Volkes
Beschluss
In dem einstweiligen Anordnungsverfahren
1. der CDU-Fraktion im Thüringer Landtag,
vertreten durch den Fraktionsvorsitzenden,
Prof. Dr. Mario Voigt, MdL,
2. des Herrn Andreas Bühl, MdL,
zu 1. und 2.: Jürgen-Fuchs-Str. 1, 99096 Erfurt,
Antragsteller,
zu 1. und 2. bevollmächtigt:
Prof. Dr. Philipp Austermann,
c/o Fraktion der CDU im Thüringer Landtag,
Jürgen-Fuchs-Str. 1, 99096 Erfurt,
beigetreten:
1. SPD-Fraktion im Thüringer Landtag,
VerfGH 36/24 2
vertreten durch den Fraktionsvorsitzenden,
Lutz Liebscher, MdL,
2. Fraktion DIE LINKE im Thüringer Landtag,
vertreten durch den Fraktionsvorsitzenden,
Christian Schaft, MdL,
3. BSW-Fraktion im Thüringer Landtag,
vertreten durch die Fraktionsvorsitzende,
Katja Wolf, MdL,
zu 1. bis 3.: Jürgen-Fuchs-Str. 1, 99096 Erfurt
Beteiligte,
gegen
den Alterspräsidenten des Thüringer Landtags,
Herrn Jürgen Treutler, MdL,
Jürgen-Fuchs-Str. 1, 99096 Erfurt,
Antragsgegner,
Anhörungsberechtigte:
1. Thüringer Landtag,
Jürgen-Fuchs-Str. 1, 99096 Erfurt,
vertreten durch den Alterspräsidenten,
2. Thüringer Landesregierung,
Regierungsstr. 73, 99084 Erfurt,
vertreten durch den Ministerpräsidenten,
dieser vertreten durch die Thüringer Ministerin für Migration, Justiz und Verbraucher-
schutz,
VerfGH 36/24 3
Werner-Seelenbinder-Str. 5, 99096 Erfurt,
wegen
Verpflichtung des Alterspräsidenten des Thüringer Landtags
hat der Thüringer Verfassungsgerichtshof durch den Präsidenten Dr. von der Weiden,
den Vizepräsidenten Dr. Schmidt und die Mitglieder Burkert, Geibert, Dr. Hinkel,
Prof. Dr. Ohler, Petermann und Wittmann sowie das stellvertretende Mitglied
Reiser-Uhlenbruch
am 27. September 2024 b e s c h l o s s e n :
1. Der Antragsgegner wird verpflichtet, bei der Fortsetzung der konstituie-
renden Sitzung des Thüringer Landtags den Namensaufruf der Abgeord-
neten durchzuführen, daran anknüpfend die Feststellung über die Be-
schlussfähigkeit des Landtags zu treffen und sodann die vorläufige Ta-
gesordnung in der Fassung vom 19. September 2024 im Plenum zur Ab-
stimmung zu stellen.
2. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
3. Der Freistaat Thüringen hat den Antragstellern die Hälfte ihrer notwendi-
gen Auslagen zu erstatten.
VerfGH 36/24 4
G r ü n d e
I .
1. Die Antragstellerin zu 1. ist eine Fraktion im 8. Thüringer Landtag; der Antragsteller
zu 2. ist Abgeordneter des 8. Thüringer Landtags und gehört der Antragstellerin zu 1.
an (nachfolgend gemeinsam „die Antragsteller“). Der Antragsgegner ist der Altersprä-
sident des 8. Thüringer Landtages.
Mit ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehren die Antragsteller
unter anderem, den Antragsgegner zu verpflichten, die Beschlussfähigkeit des 8. Thü-
ringer Landtages festzustellen und den Namensaufruf der Abgeordneten durchzufüh-
ren sowie die Anträge der Antragstellerin zu 1. und der Beteiligten zu 3. – der Fraktion
des „Bündnisses Sahra Wagenknecht“ – zur Änderung der Geschäftsordnung hinsicht-
lich des Vorschlagsrechts für die Wahl des Landtagspräsidenten für alle Fraktionen
bereits ab dem 1. Wahlgang zur Abstimmung zu stellen und hiernach zu verfahren.
Am 19. September 2024 reichten die Antragstellerin zu 1. und die Beteiligte zu 3. einen
Antrag auf Änderung der Geschäftsordnung des Thüringer Landtages ein
(LTDrucks 8/7). Der Änderungsantrag lautet wie folgt:
„Die Geschäftsordnung des Thüringer Landtags in der Fassung ihrer Bekanntmachung vom 15.
Mai 2024 (vergleiche Drucksache 8/10000 – korrigierte Fassung -) wird wie folgt geändert:
1. § 2 wird wie folgt geändert:
a) Absatz 1 erhält folgende Fassung:
„(1) Der Landtag wählt aus seiner Mitte die Präsidentin beziehungsweise den
Präsidenten für die Dauer der Wahlperiode. Die Wahl wird ohne Aussprache
und geheim durchgeführt. Gewählt ist, wer die Mehrheit der abgegebenen gül-
tigen Stimmen erhält. Ergibt sich keine solche Mehrheit, so gilt § 46 Abs. 3 Satz
2 bis 5 entsprechend.“
b) Absatz 2 erhält folgende Fassung:
„(2) Der Landtag wählt aus seiner Mitte die Vizepräsidentinnen beziehungs-
weise Vizepräsidenten in besonderen Wahlgängen für die Dauer der Wahlperi-
ode. Jede Fraktion kann eines ihrer Mitglieder für die Wahl zur Vizepräsidentin
beziehungsweise zum Vizepräsidenten vorschlagen, sodass jede Fraktion im
VerfGH 36/24 5
Vorstand des Landtags mit einem Mitglied vertreten sein soll. Das Vorschlags-
recht entfällt, wenn eine Fraktion im Ergebnis der Wahl gemäß Absatz 1 die
Präsidentin beziehungsweise den Präsidenten stellt; der Wahlvorschlag dieser
Fraktion für die Wahl einer Vizepräsidentin beziehungsweise eines Vizepräsi-
denten ist gegenstandslos. Die Wahl wird ohne Aussprache und geheim durch-
geführt.
Gewählt ist, wer die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen erhält. Ergibt
sich keine solche Mehrheit, können für weitere Wahlgänge neue Bewerberin-
nen beziehungsweise Bewerber derselben Fraktion vorgeschlagen werden.“
Unter dem 19. September 2024 lud die Präsidentin des 7. Thüringer Landtages sämt-
liche in den 8. Thüringer Landtag gewählten Abgeordneten zur konstituierenden Land-
tagssitzung ein. Die Neufassung der Einladung lautet in den ersten fünf Tagesord-
nungspunkten auszugsweise wie folgt:
„1. Eröffnung durch die Alterspräsidentin bzw. den Alterspräsidenten
2. Ernennung von vorläufigen Schriftführerinnen beziehungsweise Schriftführern
3. Aufruf der Namen der Abgeordneten und Feststellung der Beschlussfähigkeit
4. Änderung der Geschäftsordnung des Thüringer Landtags, Antrag der Fraktionen der CDU
und des BSW – Drucksache 8/7 –
5. Wahl der Präsidentin beziehungsweise des Präsidenten des Landtags, Wahlvorschlag der
Fraktion der AfD – Drucksache 8/.. –
Im Anschluss an die Wahl der Präsidentin beziehungsweise des Präsidenten des Landtags:
Amtsübernahme durch die Präsidentin bzw. den Präsidenten des Landtags“
Am 26. September 2024 trat der am 1. September 2024 gewählte 8. Thüringer Landtag
um 12:00 Uhr zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Der Antragsgegner er-
öffnete die Sitzung des 8. Thüringer Landtages, stellte die Anzahl der Fraktionsmitglie-
der fest und nannte die Namen der Fraktionsvorsitzenden sowie der parlamentari-
schen Geschäftsführer. Im Anschluss bat der Antragsteller zu 2. den Antragsgegner,
die Beschlussfähigkeit des 8. Thüringer Landtages festzustellen. Der Antragsgegner
kam dem nicht nach, unterbrach die Sitzung und teilte nach einer Beratung mit den
Parlamentarischen Geschäftsführern mit, dass er nun seine Rede halten dürfe. Nach
dem Ende der Rede des Antragsgegners erinnerte der Antragsteller zu 2. erneut an
seinen gestellten Antrag zur Beschlussfähigkeit und bat um dessen Behandlung. Im
VerfGH 36/24 6
weiteren Verlauf unterbrach der Antragsgegner mehrfach die Sitzung, ohne dem An-
trag des Antragstellers zu 2. nachzukommen. Nachdem die Fraktionen Gelegenheit
zur Äußerung erhalten hatten, teilte der Antragsgegner mit, dass er sich der von der
Fraktion der AfD geäußerten Rechtsauffassung anschließe. Dem Thüringer Landtag
sei es solange verwehrt, über die Ausgestaltung der Tagesordnung abzustimmen, bis
die Wahl des Landtagspräsidenten abgeschlossen sei. Der Antragsteller zu 2. kündigte
hierauf an, den Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Thüringer Verfassungsge-
richtshof zu beantragen. Der Antragsgegner unterbrach die Sitzung mit der Ankündi-
gung, diese am 28. September 2024 fortzusetzen.
Die Antragsteller haben am 26. September 2024 beim Thüringer Verfassungsgerichts-
hof einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Sie machen gel-
tend, der Landtag habe nach Art. 57 Abs. 5 ThürVerf sowohl das Recht als auch die
Pflicht, sich eine Geschäftsordnung zu geben. Seine Geschäftsordnungsautonomie
umfasse nicht nur die generelle Organisation des Verfahrens, sondern auch den kon-
kreten Ablauf der Plenar- und Ausschusssitzungen. Der konkrete Sitzungsablauf, ein-
schließlich der Tagesordnung, liege in den Händen des Landtags. Die Tagesordnung
könne zu Beginn jeder Sitzung mit einfacher Mehrheit geändert werden. Dieses Recht
sowie die parlamentarischen Antrags- und Mitwirkungsrechte der Antragsteller aus
Art. 53 Abs. 2 i. V. m. Art. 58 ThürVerf verletze der Antragsgegner, indem er sich wei-
gere, entsprechend der Tagesordnung zu verfahren und über die beantragte Änderung
der Geschäftsordnung abstimmen zu lassen. Die Geschäftsordnungsautonomie gelte
auch im Hinblick auf die konkrete Verfahrensausgestaltung bei Plenarsitzungen. Diese
beinhalte auch die zeitliche Dimension der Verfahrensgestaltung. Soweit das Thürin-
ger Geschäftsordnungsgesetz eine Weitergeltung der Geschäftsordnung des vorheri-
gen Landtags anordne, handele es sich lediglich um ein „Angebot“ an den neu gewähl-
ten Landtag. Er könne jederzeit davon abweichen. Die Aufgabe des Antragsgegners
erschöpfe sich darin, bis zur Wahl des Landtagspräsidenten durch die Sitzung zu füh-
ren. Er dürfe weder die Geschäftsordnung noch die Tagesordnung selbst festlegen.
Die Sitzung habe er neutral und unparteiisch zu leiten. Der von der Antragstellerin zu
1. und der Beteiligten zu 3. eingebrachte Antrag auf Änderung der Geschäftsordnung
sei auch nicht verfassungs- oder geschäftsordnungswidrig. Er bewege sich in den weit
VerfGH 36/24 7
gezogenen verfassungsrechtlichen Grenzen der Geschäftsordnungsautonomie. Er be-
schränke weder die verfassungsrechtlichen Rechte der Abgeordneten noch der ein-
zelnen Fraktionen noch des Landtags in seiner Gesamtheit. Art. 57 Abs. 1 ThürVerf
spreche ausdrücklich davon, dass der Landtagspräsident aus der Mitte des Landtags
gewählt werde. Ein Vorschlagsrecht für sämtliche Fraktionen sei hiervon gedeckt. Bei
dem bisherigen Vorschlagsrecht der stärksten Fraktion handele es sich lediglich um
eine Regelung auf der Ebene der Geschäftsordnung, hingegen nicht um eine Vorgabe
der Verfassung. Ebenso ergebe sich aus der Verfassung keine Pflicht, zuerst einen
Landtagspräsidenten zu wählen, bevor über Änderungen der Geschäftsordnung ab-
gestimmt werden könne.
Die Antragsteller beantragen:
1. Der Alterspräsident des 8. Thüringer Landtages, Abg. Jürgen Treutler,
wird verpflichtet, gemäß Punkt 3 der neu gefassten Tagesordnung vom
19. September 2024, welche die bisherige Landtagspräsidentin allen ge-
wählten Mitgliedern des 8. Thüringer Landtages übersandte, zu verfah-
ren, die Beschlussfähigkeit festzustellen und den Namensaufruf der Ab-
geordneten durchzuführen.
2. Der Alterspräsident des 8. Thüringer Landtages, Abg. Jürgen Treutler,
wird verpflichtet, die Tagesordnung in der neuen Fassung vom 19. Sep-
tember 2024, wie sie die bisherige Landtagspräsidentin allen gewählten
Mitgliedern des 8. Thüringer Landtages übersandte, festzustellen.
3. Der Alterspräsident des 8. Thüringer Landtages, Abg. Jürgen Treutler,
wird sodann verpflichtet, gemäß Punkt 4 der neu gefassten Tagesord-
nung vom 19. September 2024, welche die bisherige Landtagspräsiden-
tin allen gewählten Mitgliedern des 8. Thüringer Landtages übersandte,
zu verfahren und den Antrag der Fraktionen der CDU und des „Bündnis-
ses Sahra Wagenknecht“ auf Änderung der Geschäftsordnung des
Landtages vom 19. September 2024 auf Landtagsdrucksache Nr. 8/7 im
Landtag unverzüglich aufzurufen und zur Abstimmung zu stellen.
VerfGH 36/24 8
4. Der Alterspräsident des 8. Thüringer Landtages, Abg. Jürgen Treutler,
wird sodann verpflichtet, gemäß Punkt 5 der neu gefassten Tagesord-
nung vom 19.09.2024, welche die bisherige Landtagspräsidentin allen
gewählten Mitgliedern des 8. Thüringer Landtages übersandte, zu ver-
fahren und die Wahl der Landtagspräsidentin oder des Landtagspräsi-
denten zu eröffnen. Dabei ist er verpflichtet, Wahlvorschläge aller Frak-
tionen zuzulassen, sofern der Landtag zuvor dem Antrag der Fraktionen
der CDU und des „Bündnisses Sahra Wagenknecht“ zugestimmt hat.
Der Antragsgegner beantragt,
die Anträge als unzulässig zu verwerfen.
Die Anträge seien unzulässig. Es fehle insbesondere am erforderlichen Rechtsschutz-
interesse. Der Antragsgegner habe die Anträge der Antragsteller zu einem späteren
Zeitpunkt zulassen wollen. Er habe bereits zur Abarbeitung des 2. Tagesordnungs-
punktes (Ernennung vorläufiger Schriftführer) angesetzt. Ebenso habe er erklärt, dass
zu einem späteren Zeitpunkt über die Änderung der Geschäftsordnung abgestimmt
werden könne. Eine endgültige Vereitelung des Rechts, Anträge zur Geschäftsord-
nung zu stellen, sei damit nicht verbunden. Die Antragsteller handelten daher rechts-
missbräuchlich. Anträge zur Geschäftsordnung seien erst nach abgeschlossener Kon-
stituierung möglich. Die Konstituierungsphase sei abschließend durch § 1 der Ge-
schäftsordnung vorgegeben. Ferner sei die vorläufige Tagesordnung durch die Präsi-
dentin des 7. Thüringer Landtags aufgestellt worden. Hierzu fehle ihr die Befugnis. Im
Übrigen gehe es allein um die Auslegung von Geschäftsordnungsrecht.
Dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sind die Fraktion der SPD, die
Fraktion DIE LINKE und die Fraktion des „Bündnisses Sahra Wagenknecht“ als Betei-
ligte zu 1. bis 3. beigetreten.
VerfGH 36/24 9
I I .
Die Entscheidung ergeht nach § 26 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über den Thüringer
Verfassungsgerichtshof (Thüringer Verfassungsgerichtshofsgesetz – ThürVerfGHG)
ohne mündliche Verhandlung.
Der Verfassungsgerichtshof entscheidet gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1, § 8 Abs. 1 Satz 1
ThürVerfGHG unter Mitwirkung des stellvertretenden Mitglieds Reiser-Uhlenbruch an
Stelle des verhinderten Mitglieds Prof. Dr. Klafki.
I I I .
Nach § 26 Abs. 1 ThürVerfGHG kann der Verfassungsgerichtshof im Streitfall einen
Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwe-
rer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen
Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.
1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist aus dem im Tenor ersicht-
lichen Umfang zulässig, im Übrigen ist er unzulässig.
Ein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz setzt nicht voraus, dass das Hauptsache-
verfahren bereits anhängig gemacht wurde (ThürVerfGH, Beschluss vom 6. März 2013
– VerfGH 25/12 –, juris Rn. 14 m. w. N.). Ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung gemäß § 26 ThürVerfGHG kann auch im Vorfeld eines noch zu erheben-
den Hauptsacheverfahrens gestellt werden, sofern ein solches nicht von vornherein
unzulässig oder offensichtlich unbegründet wäre (vgl. BVerfG, Beschluss vom 15. Juni
2005 – 2 BvQ 18/05 –, BVerfGE 113, 113 [120] = juris Rn. 24).
a) Die Antragsteller sind antragsbefugt. Die Antragstellerin zu 1. ist als Fraktion des
Thüringer Landtags durch die Thüringer Verfassung mit eigenen Rechten ausgestattet
(vgl. Art. 58 und Art. 59 Abs. 2 ThürVerf). Sie ist nach § 38 i.V.m. § 11 Nr. 3
VerfGH 36/24 10
ThürVerfGHG beteiligtenfähig und kann im Wege der Prozessstandschaft eine Verlet-
zung der Rechte des Landtags nach § 39 Abs. 1 ThürVerfGHG geltend machen
(ThürVerfGH, Urteil vom 2. Februar 2011 – VerfGH 20/09 –, LVerfGE 22, 537 [542] =
juris Rn. 28). Der Antragsteller zu 2. verfügt als Abgeordneter über die Rechte, die
Ausfluss des freien Mandats aus Art. 53 Abs. 1 und 2 ThürVerf sind.
b) Der Zulässigkeit steht keine Verfristung entgegen. Im Verfahren der einstweiligen
Anordnung gibt es keine Antragsfrist. Sofern sich der Antragsgegner darauf beruft, das
Thüringer Geschäftsordnungsgesetz finde seit dem Jahr 1994 unverändert Anwen-
dung, führt dies nicht zur Unzulässigkeit des Antrags. Die Antragsteller machen eine
Verfassungswidrigkeit des Thüringer Geschäftsordnungsgesetzes nicht geltend. Sie
vertreten die Auffassung, das Gesetz stehe der Änderung der Geschäftsordnung nicht
entgegen.
c) Eine ordnungsgemäße Vollmacht bezüglich des Bevollmächtigten der Antragsteller
liegt vor (§ 17 Abs. 4 ThürVerfGHG).
d) Die Anträge sind zulässig, soweit sie zum Gegenstand haben, den Antragsgegner
zu verpflichten,
 den Namensaufruf der Mitglieder des Landtags durchzuführen (Antrag zu 1.),
 die Beschlussfähigkeit des Landtags festzustellen (Antrag zu 1.) und
 die vorläufige Tagesordnung in der Fassung vom 19. September 2024 („Neu-
fassung der Einladung zur 1. Plenarsitzung“) zur Abstimmung durch das Ple-
num zu stellen, die ein notwendiger Verfahrensschritt für die darüber hinaus
beantragte Feststellung der Tagesordnung ist (Antrag zu 2.).
Hinsichtlich dieser Antragsgegenstände besteht ein Rechtsschutzinteresse der An-
tragsteller. Der Antragsgegner hat es in der 1. Sitzung des Thüringer Landtags am
VerfGH 36/24 11
26. September 2024 trotz mehrfacher Anträge der Antragsteller abgelehnt, die Be-
schlussfähigkeit des Landtags festzustellen (die den vorherigen Namensaufruf der Mit-
glieder des Landtags zur Voraussetzung hat). Der Antragsgegner hat es außerdem
abgelehnt, über die Tagesordnung durch das Plenum abstimmen zu lassen. Er hat die
Rechtsauffassung vertreten, dass der Landtag erst nach der Wahl des Präsidenten
(Art. 57 Abs. 1 ThürVerf) in der Lage sei, Beschlüsse zu fassen.
Diese durch den Antragsgegner vorzunehmenden Verfahrenshandlungen sind eine
unabdingbare Voraussetzung dafür, dass der Landtag seine Geschäftsordnungsauto-
nomie, wozu die Festlegung der Tagesordnung gehört, realisieren und darüber ent-
scheiden kann, mit welchen weiteren Beratungsgegenständen in welcher Reihenfolge
er sich in seiner konstituierenden Sitzung befasst. Aufgrund der Geschäftsordnungs-
autonomie des Landtags (vgl. hierzu die nachfolgenden Ausführungen unter 3 b) kön-
nen Abgeordnete bereits zu Beginn der Konstituierung beanspruchen, dass über einen
hierauf gerichteten Antrag abgestimmt wird. Die Auffassung des Antragsgegners, dass
er ein Bestimmungsrecht über den Zeitpunkt der Abstimmung über einen solchen An-
trag hat, würde die Geschäftsordnungsautonomie des Landtags aushöhlen.
e) Soweit die Antragsteller die Verpflichtung des Antragsgegners beantragen,
 die vorläufige Tagesordnung in der Fassung vom 19. September 2024 („Neu-
fassung der Einladung zur 1. Plenarsitzung“) bereits festzustellen (Antrag
zu 2.),
 den unter Ziffer 4 der vorläufigen Tagesordnung enthaltenen Antrag der Frakti-
onen der CDU und des BSW zur Änderung der Geschäftsordnung (LTDrucks
8/7) zur Abstimmung zu stellen (Antrag zu 3.) und
 für den Fall, dass die unter Ziffer 4 der vorläufigen Tagesordnung beantragte
Änderung der Geschäftsordnung durch den Landtag beschlossen worden ist,
VerfGH 36/24 12
bei der daran anschließenden Wahl des Landtagspräsidenten (Ziffer 5 der vor-
läufigen Tagesordnung) Wahlvorschläge sämtlicher Fraktionen zuzulassen
(Antrag zu 4.),
fehlt es zum gegenwärtigen Zeitpunkt an dem erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis.
Diese Anträge antizipieren bereits eine bestimmte Willensbildung des Landtags. Eine
Feststellung der Tagesordnung in der Fassung vom 19. September 2024 würde vo-
raussetzen, dass das Plenum des Landtags bereits eine entsprechende Willensbil-
dung vollzogen hätte. Diese Willensbildung hat bisher nicht stattgefunden. Sie kann
erst erfolgen, wenn der Antragsgegner die vorläufige Tagesordnung zur Abstimmung
durch das Plenum stellt. Gleiches gilt für die hieran anknüpfenden Anträge bezüglich
der Abstimmung über Ziffer 4 der vorläufigen Tagesordnung sowie die Zulassung von
Wahlvorschlägen im Rahmen der Wahl des Landtagspräsidenten gemäß Ziffer 5 der
vorläufigen Tagesordnung. Die Abgeordneten sind in der Ausübung ihres Mandats frei
(Art. 53 Abs. 1 Satz 2 ThürVerf). Die Entscheidung darüber, in welcher Fassung die
Tagesordnung beschlossen wird, und gegebenenfalls die Beschlüsse zu den Punkten
4 und 5 der vorläufigen Tagesordnung, obliegen allein dem Plenum des Landtags im
Rahmen seiner Parlamentsautonomie (vgl. BVerfG, Urteil vom 21. Juli 2000 – 2 BvH
3/91 –, BVerfGE 102, 224 [234 ff.] = juris Rn. 45 ff.).
f) Soweit die Anträge zulässig sind, liegt zwar eine Vorwegnahme der Hauptsache vor.
Diese Vorwegnahme ist jedoch ausnahmsweise zulässig, weil mit der Konstituierung
eine Entscheidung in der Hauptsache zu spät käme und den Antragstellern in anderer
Weise gebotener und ausreichender Rechtsschutz nicht gewährt werden könnte (vgl.
ThürVerfGH, Beschluss vom 29. Mai 2006 – VerfGH 20/06 -, juris Rn. 31). Nach dem
erfolgten Namensaufruf der Mitglieder des Parlaments, der Feststellung der Be-
schlussfähigkeit und der Abstimmung über die Tagesordnung im Rahmen der konsti-
tuierenden Sitzung bestünde zu einem späteren Zeitpunkt kein Raum mehr für eine
Wiederholung dieser Verfahrensschritte. Daher dürfen die Antragsteller ausnahms-
weise vorbeugenden Rechtsschutz begehren (vgl. ThürVerfGH, Beschluss vom 21.
VerfGH 36/24 13
Dezember 2018 – VerfGH 32/18 –, juris Rn. 22; Beschluss vom 14. Oktober 2020 –
VerGH 106/20 –, ThürVBl 2021, 121 [123] = juris Rn. 30).
g) Die Anträge sind entgegen der Auffassung des Antragsgegners nicht rechtsmiss-
bräuchlich. Für einen Rechtsmissbrauch bestehen keinerlei tatsächliche Anhalts-
punkte. Denn der Antragsgegner hat in der 1. Sitzung des Thüringer Landtags am
26. September 2024 geäußert, dass die Wahl des Landtagspräsidenten unmittelbar
nach der Feststellung der Beschlussfähigkeit zu erfolgen habe. Seiner Ansicht nach
sei zum Zeitpunkt der Stellung der Anträge zur Geschäftsordnung eine Beschlussfä-
higkeit des Landtags nicht festgestellt und es seien weder eine Abstimmung über die
Auslegung der Geschäftsordnung noch über die Tagesordnung selbst möglich und zu-
lässig.
2. Die Verfahrensbeitritte der Beteiligten zu 1. bis 3. – die SPD-Fraktion, die Fraktion
DIE LINKE und die Fraktion des BSW im Thüringer Landtag – sind zulässig. Sie haben
als Fraktionen des Thüringer Landtags die gleiche organschaftliche Stellung wie die
Antragstellerin zu 1. (§ 40 Abs. 1 ThürVerfGHG).
3. Die Anträge sind – soweit sie zulässig sind – auch begründet.
Bei der Frage nach der Erforderlichkeit einer vorläufigen Regelung ist ein strenger
Maßstab anzulegen. Dies gilt in besonderer Weise für Anträge auf einstweiligen
Rechtsschutz innerhalb eines Organstreitverfahrens, da dann im Erlass einer einst-
weiligen Anordnung ein Eingriff des Verfassungsgerichtshofs in die Kompetenz eines
anderen Staatsorgans liegt (ThürVerfGH, Beschluss vom 29. Mai 2006 – VerfGH
20/06 –, juris Rn. 39; Urteil vom 25. Mai 2000 – 6/00 EA –, LKV 2000, 450 [451] = juris
Rn. 35; ständige Rechtsprechung des ThürVerfGH; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom
25. März 2003 – 2 BvQ 18/03 –, BVerfGE 108, 34 [41] = juris Rn. 26 m. w. N.). Die
Autonomie eines jeden Verfassungsorgans und der Grundsatz der gegenseitigen Res-
pektierung oberster Staatsorgane erfordern, dass sich der Verfassungsgerichtshof bei
Eingriffen in die Entscheidungsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht des Parla-
ments – jedenfalls im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung – Zurück-
haltung und Selbstbeschränkung auferlegt (ThürVerfGH, Beschluss vom 21. Juni
VerfGH 36/24 14
2016 – VerfGH 31/16 –, ThürVBl 2016, 289 [290] = juris Rn. 21; BayVerfGH, Entschei-
dung vom 11. Juli 1996 – Vf. 81-IVa-96 –, NVwZ-RR 1997, 203 [203] = juris Rn. 35).
Bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 26 Abs. 1 ThürVerfGHG bleiben die
Gründe, die für oder gegen die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme
sprechen, grundsätzlich außer Betracht. Etwas anderes gilt nur, wenn das Haupt-
sacheverfahren von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet wäre. In
den übrigen Fällen sind die Nachteile, die eintreten, wenn die einstweilige Anordnung
nicht ergeht, die Maßnahme später aber für verfassungswidrig erklärt wird, gegen die
Folgen abzuwägen, die entstehen, wenn die Anordnung erlassen wird, die Maßnahme
sich im Hauptsacheverfahren aber als rechtmäßig erweist (st. Rspr. des Thüringer Ver-
fassungsgerichtshofs, vgl. ThürVerfGH, Beschluss vom 24. Juni 2020 – VerfGH 17/20
–, juris Rn. 70 f.; Beschluss vom 14. Oktober 2020 – VerfGH 106/20 –, ThürVBl 2021,
121 [123] = juris Rn. 33).
Darüber hinaus ist einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung aber auch
dann stattzugeben, wenn ein Antrag in der Hauptsache zulässig und offensichtlich be-
gründet wäre und die Rechtsverletzung bei Verweigerung des einstweiligen Rechts-
schutzes nicht mehr rückgängig gemacht werden könnte (vgl. ThürVerfGH, Beschluss
vom 14. Oktober 2020 – VerfGH 106/20 –, ThürVBl 2021, 121 [123] = juris Rn. 34 f.;
Beschluss vom 13. Mai 2021 – VerfGH 18/21 eAO –, juris Rn. 47).
Auch von anderen Landesverfassungsgerichten wird teilweise die offensichtliche Be-
gründetheit der Hauptsache in die Betrachtung einbezogen (bei „überschlägiger Prü-
fung“: BayVerfGH, Entscheidung vom 8. Mai 2020 – Vf. 34-VII-20 –, juris Rn. 15;
grundsätzlich für Organstreitverfahren: LVerfG M-V, Beschluss vom 24. September
2015 – 5/15 –, LVerfGE 26, 240 [246] = juris Rn. 25; für Organstreitverfahren:
SächsVerfGH, Beschluss vom 13. Dezember 2007 – Vf. 149-I-07 (eA) –, juris Rn. 9).
Vom Bundesverfassungsgericht werden die Erfolgsaussichten in der Hauptsache teil-
weise bei Vorwegnahme der Hauptsache in Betracht gezogen, insbesondere wenn die
behauptete Rechtsverletzung bei Verweigerung einstweiligen Rechtsschutzes nicht
mehr rückgängig gemacht werden könnte, die Entscheidung damit zu spät käme (für
Verfassungsbeschwerden: BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2004 – 1 BvQ 19/04 –,
VerfGH 36/24 15
BVerfGE 111, 147 [153] = juris Rn. 14; vgl. auch für summarische Prüfung bei einem
völkerrechtlichen Vertrag: BVerfG, Beschluss vom 12. September 2012 – 2 BvE 6/12
–, BVerfGE 132, 195 [233] = juris Rn. 88).
Ein Hauptsacheverfahren wäre vorliegend zulässig und offensichtlich begründet.
Der Antragsgegner hat die Rechte der Antragsteller und der Beteiligten zu 1. bis 3. aus
Art. 53 Abs. 2 Satz 1 ThürVerf i. V. m. Art. 58 ThürVerf dadurch verletzt, dass er nicht
– wie durch die Antragsteller in der konstituierenden Sitzung des Landtags beantragt
– den Namensaufruf der Abgeordneten durchgeführt, nicht hieran anknüpfend die Be-
schlussfähigkeit des Landtags festgestellt und schließlich die vorläufige Tagesordnung
in der Fassung vom 19. September 2024 nicht zur Abstimmung durch das Plenum ge-
stellt hat. Es besteht mithin nicht lediglich Streit über die Verletzung von Vorschriften
der Geschäftsordnung des Thüringer Landtags (ThürGOLT).
Der Alterspräsident ist nicht berechtigt, den beantragten Namensaufruf der Abgeord-
neten, daran anknüpfend die Feststellung der Beschlussfähigkeit des Landtags und
schließlich die Abstimmung des Plenums über die vorläufige Tagesordnung in der Fas-
sung vom 19. September 2024 zu verweigern.
a) Das Amt des Alterspräsidenten wird durch die Thüringer Verfassung nicht vorgege-
ben. § 1 Abs. 2 ThürGOLT beschreibt das Amt des Alterspräsidenten als „das an Jah-
ren älteste“ Mitglied des Landtags.
Das Amt des Alterspräsidenten entspringt allein der Notwendigkeit, dass ein neu ge-
wähltes Parlament noch über keine Leitungsorgane verfügt und sich zunächst eine
Binnenorganisation geben muss. Das Amt des Alterspräsidenten hat daher die Funk-
tion eines vorläufigen Leitungsorgans (Köhler, ZParl 1991, 177 [177]). Bei der Eröff-
nung der konstituierenden Sitzung eines neu gewählten Parlaments durch den Alters-
präsidenten handelt es sich um einen Parlamentsbrauch (Klein/Schwarz, in: Dürig/Her-
zog/Scholz, GG, Art. 39 Rn. 48; Hölscheidt, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kom-
mentar zum Grundgesetz, Art. 39 Rn. 138 m. w. N.; Limanowski, VBlBW 2023, 56 [56];
VerfGH 36/24 16
zur rechtlichen Einordnung dieser Tradition: Payandeh, in: Morlok/Schliesky/Wie-
felspütz, Parlamentsrecht, § 7 Rn. 9).
Der Anknüpfung an das Lebensalter liegt die historisch überkommene Erwartung zu-
grunde, dass das Lebensalter und die diesem zugeschriebene Würde Garanten für die
der Amtsführung nötige Autorität darstellen (zum historischen Hintergrund siehe Köh-
ler, ZParl 1991, 177 [177 f.] m. w. N. einschließlich der Kritik an diesem Merkmal).
Inzwischen stellen jedoch die Geschäftsordnungen einiger Länderparlamente und
auch des Bundestages nicht mehr auf das Lebensalter, sondern das Dienstalter als
maßgebliches Anknüpfungskriterium ab (zum Beispiel: Schleswig-Holstein und Sach-
sen-Anhalt; vgl. Hölscheidt, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grund-
gesetz, Art. 39 Rn. 138 m. w. N.). In der Freien und Hansestadt Bremen wird hingegen
traditionell durch interfraktionelle Abstimmung bestimmt, wer die erste Sitzung der
neuen Bürgerschaft leitet (vgl. Haberland, in: Fischer-Lescano, Verfassung Bremen,
Art. 81 BremVerf, Rn. 9). Letztlich ist es eine Entscheidung im Rahmen des Selbstor-
ganisationsrechts des Parlaments, welcher Abgeordnete die konstituierende Sitzung
eröffnen soll (vgl. auch Brocker, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 39 Rn. 15; Hölscheidt,
in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 39 Rn. 140).
Das Amt des Alterspräsidenten ist allein durch seine funktionelle Notwendigkeit ge-
prägt, das Verfahren bis zur Wahl des Landtagspräsidenten durchzuführen und das
Amt an den gewählten Präsidenten zu übergeben (vgl. StGH BW, Urteil vom 19. März
2021 – 1 GR 93/19 –, LVerfGE 32, 3 [16 f.] = juris Rn. 85).
Darüber hinausgehende Befugnisse hat der Alterspräsident nicht. Er ist weder demo-
kratisch legitimiert – er übt seine Funktion nicht aufgrund eines Wahlakts aus – noch
ist eine bestimmte Qualifikation Voraussetzung für dieses Amt. Der Alterspräsident ist,
anders als der Landtagspräsident, gerade nicht oberster Repräsentant des Landtags.
Er hat allein eine „dienende Aufgabe“ gegenüber dem Parlament, indem er die Hand-
lungs- und Arbeitsfähigkeit des neu gewählten Landtags herbeiführt. Aus dieser Stel-
lung folgt insbesondere, dass er weder zu einer Entscheidung über die Auslegung der
Geschäftsordnung befugt ist noch Anträge des Plenums ablehnen darf.
VerfGH 36/24 17
b) Notwendiger Bestandteil der Konstituierung eines neu gewählten Parlaments ist,
dass es eine Entscheidung über seine Geschäftsordnung trifft (vgl. Hölscheidt, in:
Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 39 Rn. 135; Ma-
giera, in: Sachs, GG, Art. 39 Rn. 22; Klein/Schwarz, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG,
Art. 39 Rn. 51; a. A. Brocker, in: BeckOK GG, Art. 39 Rn. 11, wonach die Konstituie-
rung bereits mit dem Abschluss des Namensaufrufs der Abgeordneten abgeschlossen
sei).
Die parlamentarische Geschäftsordnung sichert das geordnete Funktionieren des Par-
laments im Staats- und Verfassungsleben. Sie regelt das Verfahren für die Abwicklung
der Parlamentsgeschäfte (BVerfG, Urteil vom 6. März 1952 – 2 BvE 1/51 –, BVerfGE
1, 144 [148] = juris Rn. 21) und ist daher unabdingbare Voraussetzung dafür, dass
Abgeordnete ihr freies Mandat aus Art. 53 Abs. 1 Satz 2 ThürVerf auch tatsächlich und
effektiv wahrnehmen können. Gemäß Art. 53 Abs. 2 ThürVerf hat jeder Abgeordnete
das Recht, im Landtag das Wort zu ergreifen, Anfragen und Anträge zu stellen sowie
an Wahlen und Abstimmungen teilzunehmen. Damit Abgeordnete diese und weitere
durch die Verfassung garantierten Rechte auch tatsächlich wahrnehmen können, be-
darf es verfahrensausgestaltender Regelungen durch eine Geschäftsordnung.
Das Bundesverfassungsgericht hat zur Geschäftsordnung des Bundestages ausge-
führt: „Die Geschäftsordnung des Bundestages ist eine autonome Satzung. Ihre
Bestimmungen binden nur die Mitglieder des Bundestages. Sie gelten nur für die
Dauer der Wahlperiode des Bundestages, der die Geschäftsordnung beschlossen hat,
obwohl es möglich und sogar in der Praxis die Regel ist, dass der nächste Bundestag
die in Kraft befindliche Geschäftsordnung des früheren Parlamentes übernimmt“
(BVerfG, Urteil vom 6. März 1952 – 2 BvE 1/51 –, BVerfGE 1, 144 [148] = juris Rn. 20).
Diese Geschäftsordnungsautonomie ist zentraler Ausdruck der Parlamentsautonomie
(BVerfG, Beschluss vom 10. Mai 1977 – 2 BvR 705/75 –, BVerfGE 44, 308 [314 f.] =
juris Rn. 23 ff.; Urteil vom 16. Juli 1991 – 2 BvE 1/91 –, BVerfGE 84, 304 [321 f.] = juris
Rn. 94 ff.; BVerfG, Urteil vom 28. Februar 2012 – 2 BvE 8/11 –, BVerfGE 130, 318
[348] = juris Rn. 115). Parlamentsautonomie bedeutet damit vor allem das Recht und
die Pflicht des Parlaments, selbst „das Ideal seines guten Funktionierens zu definieren“
(Brocker, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 40
VerfGH 36/24 18
Rn. 84 m. w. N.). Sie unterliegt aufgrund der Parlamentsautonomie des jeweils ge-
wählten Parlaments verfassungsrechtlich der Diskontinuität (BVerfG, Urteil vom 6.
März 1952 – 2 BvE 1/51 –, BVerfGE 1, 144 [148] = juris Rn. 20; VerfGH RP, Urteil vom
23. Januar 2018 – VGH O 17/17 –, NVwZ-RR 2018, 546 [553] = juris Rn. 104;
Schliesky, in: Huber/Voßkuhle, GG Art. 40 Rn. 17; Magiera, in: Sachs, GG, Art. 40
Rn. 22; Austermann, JuS 2018, 760 [761] m. w. N.). Die Diskontinuität gewährleistet,
dass der Landtag bzw. Bundestag der jeweiligen Legislaturperiode seine Geschäfts-
ordnungsautonomie allein für sich in Anspruch nehmen kann. Er vermag keine Rege-
lungen zu treffen, die über seine eigene Existenz hinausgehen (vgl. Limanowski,
VBlBW 2023, 56 [59] m. w. N.). Kein Parlament kann das spätere durch parlamentari-
sche Interna binden (Dette, in: Brenner/Hinkel/Hopfe/Poppenhäger/von der Weiden,
Verfassung des Freistaats Thüringen, Art. 50 Rn. 10). Ferner hat die Diskontinuität zur
Folge, dass bei dem erstmaligen Zusammentritt eines neu gewählten Parlaments au-
ßer der Verfassung noch keine organisations- und verfahrensrechtlichen Regelungen
existieren, die die Grundlage für dessen Konstituierung und auch dessen weitere Ar-
beit bilden könnten (vgl. BVerfG, Urteil vom 6. März 1952 – 2 BvE 1/51 –, BVerfGE 1,
144 [148] = juris Rn. 20 ff.; ganz h. M. vgl. Köhler, ZParl 1991, 177 [180] m. w. N. sowie
Limanowski, VBlBW 2023, 56 [59]).
Aus diesem Grund ist es beispielsweise bei der jeweiligen Konstituierung des Bundes-
tages üblich, dass diejenige Person, die den Vorsitz in der konstituierenden Sitzung
führt, den Anwesenden zu Beginn der Sitzung mitteilt, dass bis zur Beschlussfassung
über eine (neue) Geschäftsordnung vorläufig nach der Geschäftsordnung des letzten
Bundestages verfahren wird. Das wird regelmäßig ohne Widerspruch hingenommen
und damit die Geschäftsordnung stillschweigend gebilligt (vgl. Hölscheidt, in: Kahl/
Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 39 Rn. 142; vgl. auch
Köhler, BayVBl. 1993, 680 [681] zum Bayerischen Landtag).
c) Zu Beginn der konstituierenden Sitzung des 8. Thüringer Landtags galt die Ge-
schäftsordnung des 7. Thüringer Landtags fort.
aa) Der Alterspräsident war bereits nach Maßgabe dieser fortgeltenden Geschäftsord-
nung des 7. Thüringer Landtags nicht berechtigt, den beantragten Namensaufruf der
VerfGH 36/24 19
Abgeordneten, daran anknüpfend die Feststellung der Beschlussfähigkeit des Land-
tags und schließlich die Abstimmung des Plenums über die vorläufige Tagesordnung
in der Fassung vom 19. September 2024 zu verweigern.
Unter Anwendung der fortgeltenden Geschäftsordnung hat der Alterspräsident zu fra-
gen, ob der vorläufigen Tagesordnung – hier die vorläufige Tagesordnung in der Fas-
sung vom 19. September 2024 („Neufassung der Einladung zur 1. Plenarsitzung“) –
widersprochen wird (§ 21 Abs. 2 Satz 1 ThürGOLT). Erfolgt kein Widerspruch, so gilt
die Tagesordnung als festgestellt (§ 21 Abs. 2 Satz 2 ThürGOLT). Wird hingegen der
vorläufigen Tagesordnung widersprochen, stellt das Plenum des Landtags die Tages-
ordnung fest (§ 21 Abs. 3 Satz 1 ThürGOLT). Die Feststellung der Tagesordnung ob-
liegt mithin nicht dem Alterspräsidenten, sondern dem Plenum. Dies entspricht inso-
weit der Parlaments- und Geschäftsordnungsautonomie des Parlaments. Das Parla-
ment entscheidet im Rahmen seiner autonomen Willensbildung selbst, über welche
Gegenstände es berät. Ein Prüfungs- oder gar Absetzungsrecht des Alterspräsidenten
ist damit unvereinbar. Der Parlamentsautonomie unterfällt auch die Entscheidung dar-
über, zu welchem Zeitpunkt sich das Parlament mit Anträgen befasst. Im Hinblick auf
diese zeitliche Autonomie ist es vorliegend nicht entscheidungserheblich, ob der An-
tragsgegner möglichweise zu einem späteren Zeitpunkt eine Befassung des Plenums
mit den gestellten Anträgen beabsichtigt hatte.
Da allein dem Plenum die Feststellung der Tagesordnung obliegt, spielt es – anders
als der Antragsgegner meint – vorliegend keine Rolle, dass die vorläufige Tagesord-
nung vom 19. September 2024 von der Präsidentin des 7. Thüringer Landtags über-
mittelt worden ist.
Sofern der Antragsgegner Bedenken gegen Ziffer 4 der vorläufigen Tagesordnung
hegt, ist er aufgrund der Parlamentsautonomie verpflichtet, einen Beschluss des Ple-
nums hierüber herbeizuführen.
bb) Etwas anderes würde sich auch nicht aus § 1 Abs. 4 ThürGOLT ergeben. Hiernach
wählt der Landtag nach Feststellung seiner Beschlussfähigkeit die Präsidentin bezie-
hungsweise den Präsidenten. Diese Regelung steht einer Beratung und Beschluss-
fassung über den Antrag der Fraktionen der CDU und des BSW zur Änderung der
VerfGH 36/24 20
Geschäftsordnung des Thüringer Landtags (LTDrucks 8/7) vor der Wahl des Präsiden-
ten nicht entgegen.
Eine Änderung der Geschäftsordnung ist bereits in der Konstituierungsphase des
Landtags (1) und noch vor der Wahl des Präsidenten möglich (2).
(1) Eine Entscheidung des neu gewählten Thüringer Landtags über eine Geschäfts-
ordnung kann bereits in der Konstituierungsphase erfolgen.
(a) Gemäß Art. 50 Abs. 3 Satz 1 ThürVerf endet die (vorangegangene) Wahlperiode
mit dem Zusammentritt eines neuen Landtags. Bei diesem erstmaligen Zusammentritt
befindet sich der Landtag in seinem „Naturzustand“. Zur Herstellung seiner Arbeitsfä-
higkeit muss er sich zunächst eine eigene Organisation geben (Köhler, ZParl 1991,
177 [177] m. w. N.).
Die Konstituierungsphase wird in der Thüringer Verfassung nicht ausdrücklich be-
schrieben (vgl. Dette, in: Brenner/Hinkel/Hopfe/Poppenhäger/von der Weiden, Verfas-
sung des Freistaats Thüringen, Art. 50 Rn. 15). Die zwingenden Elemente der Konsti-
tuierung ergeben sich aus dem Zweck der Sitzung, die Arbeitsfähigkeit des Parlaments
als Gesamtorgan herzustellen (vgl. Haug, in: Verfassung des Landes Baden-Württem-
berg, Art. 30 BWVerf, Rn. 26). Zudem lassen sich ihr Inhalt und ihr Ablauf auch partiell
aus dem Zusammenspiel einer Reihe von Bestimmungen der Verfassung des Frei-
staats Thüringen ableiten: Der Landtag wählt aus seiner Mitte den Präsidenten, die
Vizepräsidenten und die Schriftführer (Art. 57 Abs. 1 ThürVerf). Er gibt sich eine Ge-
schäftsordnung (Art. 57 Abs. 5 ThürVerf). Ferner ist der Landtag beschlussfähig, wenn
mehr als die Hälfte seiner Mitglieder anwesend ist (Art. 61 Abs. 1 Satz 1 ThürVerf).
Zudem bestellt der Landtag in seiner konstituierenden Sitzung einen für die Angele-
genheiten der Europäischen Union zuständigen und beschließenden Ausschuss (Art.
62a Satz 1 ThürVerf).
(b) Die aus dem Grundsatz der Diskontinuität resultierenden Verfahrensschritte der
(konkludenten) Anwendung der bisherigen Geschäftsordnung sowie der Beschluss ei-
ner neuen Geschäftsordnung können im Freistaat Thüringen aufgrund § 1 des Thürin-
ger Geschäftsordnungsgesetzes (ThürGOG) vom 19. Juli 1994 (ThürGVBl. S. 911)
VerfGH 36/24 21
entfallen. Dieses formelle und damit im Rang unter der Thüringer Verfassung stehende
Gesetz ordnet an, dass die Geschäftsordnung des Landtags solange fortgilt, bis der
Landtag eine neue Geschäftsordnung beschlossen hat. Die Gesetzesbegründung
führt hierzu aus, dass ein Überleitungsgesetz sinnvoll sei, weil damit zeitintensive Ver-
handlungen über die Geschäftsordnung vermieden werden könnten. Einem neuen
Landtag stehe hierdurch bereits zu Beginn der Legislaturperiode eine Geschäftsord-
nung zur Verfügung (LTDrucks 1/3456, S. 2).
Das Thüringer Geschäftsordnungsgesetz dient der bloßen Arbeitserleichterung eines
neu gewählten Landtags. Es ist weder sein Zweck noch wäre es aufgrund seines Ran-
ges unterhalb der Verfassung in der Lage, die durch die Thüringer Verfassung gewähr-
leistete Parlaments- und Geschäftsordnungsautonomie zu beschränken (vgl. auch
Linck/Hopfe, in: Brenner/Hinkel/Hopfe/Poppenhäger/von der Weiden, Verfassung des
Freistaats Thüringen, Art. 50 Rn. 40). Daraus folgt, dass ein neu gewählter Landtag
nach wie vor dieselben Konstituierungshandlungen durchlaufen kann, die er auch
ohne das Bestehen des Thüringer Geschäftsordnungsgesetzes zu durchlaufen hätte.
Der Beschluss einer neuen Geschäftsordnung ist damit nach wie vor eine Verfahrens-
handlung, die ein neu gewählter Thüringer Landtag im Rahmen seiner Konstituierung
vornehmen kann. Die sich unmittelbar aus der Verfassung ergebenden Konstituie-
rungsbestandteile – zu denen auch die Entscheidung des Landtags gehört, welche
Verfahrensregeln er sich gibt – werden durch das Thüringer Geschäftsordnungsgesetz
nicht beschnitten.
(2) Die Thüringer Verfassung trifft keine Regelung zur Reihenfolge der einzelnen Kon-
stituierungshandlungen. Die Verfassung gibt insbesondere nicht vor, dass die Wahl
des Landtagspräsidenten noch vor dem Beschluss einer Geschäftsordnung zu erfol-
gen hat. Die Abgeordneten haben demnach das Recht, auch in der konstituierenden
Sitzung über die Tagesordnung zu bestimmen und dabei sowohl die Gegenstände als
auch die Reihenfolge der Tagesordnung festzulegen. Damit ist eine Debatte und Be-
schlussfassung über eine Änderung der Geschäftsordnung bereits vor der Wahl des
Landtagspräsidenten zulässig.
(a) Aus der Reihenfolge der einzelnen Bestimmungen der Thüringer Verfassung, die
einen Bezug zur Konstituierung des Landtags aufweisen, lässt sich nicht ableiten, dass
VerfGH 36/24 22
vor der Wahl des Landtagspräsidenten eine Änderung der Geschäftsordnung unzuläs-
sig ist.
Die Bestimmung zur Beschlussfähigkeit des Landtags findet sich in Art. 61 Abs. 1
ThürVerf. Hingegen sind die Wahlen des Präsidenten, der Vizepräsidenten, der
Schriftführer und die Geschäftsordnung bereits in Art. 57 ThürVerf geregelt. Das Vor-
liegen der Beschlussfähigkeit ist jedoch denknotwendig eine Voraussetzung, die be-
reits vor jeglichen Wahlakten und sonstigen Entscheidungen des Landtags gegeben
und damit festgestellt sein muss.
(b) Auch die Binnenstruktur des Art. 57 ThürVerf gebietet nicht, die Wahl eines Präsi-
denten vor dem Beschluss über eine Geschäftsordnung durchzuführen. Zwar ist die
Wahl des Präsidenten in Absatz 1 der Verfassungsbestimmung, die Regelung zur Ge-
schäftsordnung hingegen erst in deren Absatz 5 enthalten. Hieraus lässt sich aber
keine zwingende Reihenfolge ableiten. Die Absätze 2 bis 4 des Art. 57 ThürVerf ent-
halten Regelungen zu den Aufgaben und Befugnissen des Präsidenten, die sich vor-
nehmlich auf die Zeit nach Abschluss der Konstituierung beziehen. Beispielsweise lei-
tet der Präsident die Sitzungen des Landtags nach Maßgabe der Geschäftsordnung
(Art. 57 Abs. 2 Satz 3 ThürVerf), obgleich sich die Rechtsgrundlage für den Beschluss
einer Geschäftsordnung erst in Art. 57 Abs. 5 ThürVerf findet.
(c) Unter der Prämisse des Grundsatzes der Diskontinuität, dass ein neu gewählter
Landtag zunächst nicht über eine Geschäftsordnung als Arbeitsgrundlage verfügt,
wäre es – sofern es das Thüringer Geschäftsordnungsgesetz nicht gäbe – notwendig,
sich bereits unmittelbar nach dem namentlichen Aufruf der Mitglieder und der Feststel-
lung der Beschlussfähigkeit des neu gewählten Landtags eine neue Geschäftsordnung
als weitere Arbeitsgrundlage zu geben (in diesem Sinne wohl ebenso: Hölscheidt, in:
Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 39 Rn. 137 ff.; fer-
ner: Haug, in: Verfassung des Landes Baden-Württemberg, Art. 30 BWVerf, Rn. 26)
oder die bisherige Geschäftsordnung konkludent zu übernehmen. Das bedeutet, dass
auch vor der Durchführung der Wahl des Landtagspräsidenten nach Art. 50 Abs. 1
ThürVerf Anträge zur Geschäftsordnung gestellt werden können (vgl. auch Leunig,
ZParl 2023, 554 [556]; beispielsweise wurden in den konstituierenden Sitzungen des
VerfGH 36/24 23
10. und 11. Bundestages noch vor der Wahl des Bundestagspräsidenten Geschäfts-
ordnungsdebatten geführt, vgl. die Plenarprotokolle 10/1 [S. 3 ff.] und 11/1 [S. 1 f.] des
Deutschen Bundestages).
Der beispielsweise im Bundestag beschrittene Weg, dass zu Beginn der Sitzung mit
konkludentem Einverständnis des Plenums zunächst die bisher geltende Geschäfts-
ordnung Anwendung findet, ist letztlich nichts anderes als eine konkludente Beschluss-
fassung über eine temporäre Anwendung des bisherigen Geschäftsordnungsrechts.
(d) Aus alledem folgt, dass der unter Ziffer 4 der vorläufigen Tagesordnung vorgese-
hene Antrag der Fraktionen der CDU und des BSW zur Änderung der Geschäftsord-
nung des Thüringer Landtags (LTDrucks 8/7) hinsichtlich seiner Stellung vor Ziffer 5
der Tagesordnung – der Wahl der Präsidentin beziehungsweise des Präsidenten des
Landtags – einen in der Reihenfolge zulässigen Tagesordnungspunkt darstellt. Die
Geschäftsordnung darf bereits vor der Wahl der Präsidentin beziehungsweise des Prä-
sidenten geändert werden. Dies folgt auch aus dem Recht zur Selbstorganisation der
Legislative. Der Landtag ist bereits in der Phase der Konstituierung beschlussfähig.
Im Hinblick darauf kann sich der Antragsgegner nicht erfolgreich darauf berufen, er
habe § 1 ThürGOLT ohne „in irgendeiner Weise überschießende Auslegungen etc.
angewendet“.
d) Der Inhalt des Antrags der Fraktionen der CDU und des BSW zur Änderung der
Geschäftsordnung des Thüringer Landtags (LTDrucks 8/7) ist mit der Verfassung ver-
einbar. Eine Nichtbehandlung des Antrags durch den Antragsgegner kommt unter kei-
nem rechtlichen Gesichtspunkt in Betracht.
Gegenstand des Antrags ist insbesondere die Änderung von § 2 ThürGOLT. Nach der
bisherigen Regelung schlägt die stärkste Fraktion ein Mitglied des Landtags für die
Wahl zur Präsidentin beziehungsweise zum Präsidenten vor (§ 2 Abs. 2 Satz 1 Thür-
GOLT). Der Änderungsantrag sieht hingegen vor, dass der Landtag die Präsidentin
beziehungsweise den Präsidenten aus seiner Mitte für die Dauer der Wahlperiode
wählt.
VerfGH 36/24 24
Diese Änderung verstößt weder gegen Bestimmungen der Thüringer Verfassung noch
gegen verfassungsrechtliches Gewohnheitsrecht. Ein ausschließlicher Anspruch der
stärksten Fraktion im Thüringer Landtag zur Unterbreitung von Vorschlägen (exklusi-
ves Vorschlagsrecht) für die Wahl des Landtagspräsidenten oder gar einen Anspruch
dieser Fraktion auf die Wahl einer von ihr vorgeschlagenen Person (Benennungsrecht
oder Besetzungsrecht) für dieses Amt ergibt sich weder aus geschriebenem (aa) noch
aus ungeschriebenem (bb) Verfassungsrecht.
aa) Gemäß Art. 57 Abs. 1 ThürVerf wählt der Landtag aus seiner Mitte den Präsiden-
ten, die Vizepräsidenten und die Schriftführer.
(1) Dem Wortlaut („wählt“) ist unmittelbar das zwingende Erfordernis einer Wahl zu
entnehmen (zur Wahl als rechtliche Verpflichtung vgl. Bieler/Poschmann/Schulte, in:
Dressel/Poschmann [Hrsg.], Die Verfassung des Freistaats Thüringen, Art. 57 Rn. 11
m. w. N.). Dies steht einem Anspruch auf „Wahl“ eines bestimmten Kandidaten entge-
gen. Dem Begriff der Wahl wohnt inne, eine Entscheidung treffen zu dürfen, d. h. sich
auch gegen einen Kandidaten entscheiden zu können. Der Grundsatz der Freiheit der
Wahl (vgl. Art. 46 Abs. 1 ThürVerf sowie Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG) steht einer Veren-
gung dieser Entschließungsfreiheit entgegen (vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 15.
Februar 1978 – 2 BvR 134/76 –, BVerfGE 47, 253 [282] = juris Rn. 62). Eine echte
Wahl liegt nur dann vor, wenn sowohl das aktive als auch das passive Wahlrecht ge-
währleistet sind und die Wahl frei ist. Die Freiheit der Wahl würde untergraben, wenn
keine Auswahlmöglichkeiten und ein faktischer Zwang zur Zustimmung bestünde
(Hemmer, Der Präsident des Landtags Nordrhein-Westfalen, S. 56 f. m. w. N.). Die
Wahl wäre ihres Sinns entleert, wenn eine Fraktion das Recht auf ein bestimmtes
Wahlergebnis hätte (BVerfG, Urteil vom 18. September 2024 – 2 BvE 1/20, 2 BvE
10/21 –, Rn. 118, abrufbar unter www.bverfg.de).
Darüber hinaus steht die Formulierung „aus seiner Mitte“ ebenfalls einem ausschließ-
lichen Vorschlagsrecht einer bestimmten Fraktion entgegen. Daraus ist gerade nicht
zu entnehmen, dass das Vorschlagsrecht Beschränkungen dergestalt unterliegt, dass
lediglich eine bestimmte, namentlich die stärkste Fraktion Wahlvorschläge unterbrei-
VerfGH 36/24 25
ten dürfte. Zwar dürfte die Formulierung „aus seiner Mitte“ vornehmlich darauf abzie-
len, dass allein Mitglieder des Landtags (und nicht Außenstehende) in das Präsiden-
tenamt gewählt werden können (zum Bundestagspräsident vgl. Brocker in: Kahl/Wald-
hoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 40 Rn. 141 m. w. N.). Gleich-
wohl läge keine Wahl mehr „aus seiner Mitte“ vor, wenn der Kreis derjenigen, die Vor-
schläge für mögliche Kandidaten unterbreiten dürfen, von vornherein begrenzt wäre.
Für eine derartige Begrenzung bietet der Wortlaut des Art. 57 Abs. 1 ThürVerf keine
Anknüpfungspunkte.
(2) Die Entstehungsgeschichte der Thüringer Verfassung spricht ebenfalls gegen ein
ausschließliches Vorschlags- bzw. Besetzungsrecht. Aus der Verfassungsgenese
ergibt sich, dass der Verfassungsgeber keiner bestimmten Fraktion einen Anspruch
oder ein ausschließliches Vorschlagsrecht bezüglich des Amtes des Parlamentspräsi-
denten einräumen wollte. Die Besetzung dieses Amtes sollte vielmehr einem demo-
kratischen Entscheidungsprozess überlassen werden.
(a) Die jeweiligen Vorentwürfe der Fraktionen zur Thüringer Verfassung sahen über-
einstimmend vor, dass der Landtagspräsident vom Landtag gewählt wird (vgl. Thürin-
ger Landtag [Hrsg.], Die Entstehung der Verfassung des Freistaats Thüringen 1991 –
1993, Dokumentation, S. 149). Sie gingen damit übereinstimmend ebenso von dem
Erfordernis eines Wahlakts aus.
(b) Der Vorentwurf der CDU-Fraktion sah zusätzlich noch vor, dass das Präsidium des
Landtags aus dem Präsidenten, den Vizepräsidenten und drei weiteren vom Landtag
zu wählenden Mitgliedern zu bestehen habe, sodass sich die Sitzverhältnisse im Land-
tag wie bei der Bildung von Ausschüssen widerspiegeln (vgl. Thüringer Landtag
[Hrsg.], Die Entstehung der Verfassung des Freistaats Thüringen 1991 – 1993, Doku-
mentation, S. 149 [Art. 53 Abs. 7 des Vorentwurfs]). Der Vorentwurf der Fraktion der
LL/PDS sah ferner vor, dass jede Fraktion oder Parlamentariergruppe, der der Präsi-
dent nicht angehört, einen Vizepräsidenten stellt (vgl. LTDrucks 1/678, S. 27 [Art. 60
Abs. 1 Satz 2 des Vorentwurfs]). Die Vorentwürfe der übrigen Fraktionen enthielten
keine derartigen Bestimmungen.
VerfGH 36/24 26
Der Wahlmodus des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Schriftführer wurde am
10. April 1992 in der 12. Sitzung des Unterausschusses des Verfassungs- und Ge-
schäftsordnungsausschusses (VerfUA) ausführlich erörtert. Der Abgeordnete Geißler
(Bündnis 90/Grüne) schlug vor, dass jede Fraktion einen Anspruch auf einen Präsidi-
umssitz haben solle (vgl. Protokoll des VerfUA, S. 11 f.). Er vertrat die Auffassung,
dass jede Fraktion das Recht haben müsse, im Präsidium präsent zu sein. Dies wurde
insbesondere vom Abgeordneten Enkelmann (SPD) kritisch gesehen: Er führte aus,
es sei „jedesmal neu und aufgrund des Wahlergebnisses möglich, hier interparlamen-
tarisch zu einer Lösung zu kommen“. Ein Präsidium, das zwingend aus Vertretern
sämtlicher parlamentarischen Gruppen bestehe, unterscheide sich kaum noch vom
Ältestenrat (vgl. Protokoll des VerfUA, S. 13 f.). Der Abgeordnete Dr. Pietzsch (CDU)
wandte noch ein, dass es sich bei der Wahl des Präsidiums um eine reine Personen-
wahl handele: „Sollte von einer kleinen Fraktion jemand im Landtag so viel Reputation
haben, dass die anderen Fraktionen der Meinung sind, der sollte Vizepräsident werden
oder gar Präsident, dann [sei das] (…) möglich“. Es sei gerade nicht Inhalt des Verfas-
sungsentwurfs, „dass nur aus der stärksten Fraktion oder aus der Koalition oder von
der stärksten Fraktion und der Opposition (…) gewählt werden muss“ (vgl. Protokoll
des VerfUA, S. 15). Schließlich empfahl der Unterausschuss, die Problematik noch-
mals im Verfassungsschuss zu erörtern (Thüringer Landtag [Hrsg.], Die Entstehung
der Verfassung des Freistaats Thüringen 1991 – 1993, Dokumentation, S. 151).
Der Verfassungsausschuss lehnte in seiner 9. Sitzung vom 27. Juni 1992 schließlich
einen derartigen Anspruch ab (vgl. Protokoll des Verfassungs- und Geschäftsord-
nungsausschusses, S. 111 bis 113). Es verblieb bei dem Vorschlag des Unteraus-
schusses des Verfassungs- und Geschäftsordnungsausschusses: „Der Landtag wählt
aus seiner Mitte den Präsidenten, die Vizepräsidenten und die Schriftführer. Der Prä-
sident und die Vizepräsidenten bilden das Präsidium.“, wobei der zweite Satz schließ-
lich auf Anregung der Landtagsverwaltung (vgl. das Protokoll der 19. Sitzung des Ver-
fassungs- und Geschäftsordnungsausschusses vom 16. März 1993, S. 85) gestrichen
wurde (vgl. auch Bieler/Poschmann/Schulte, in: Dressel/Poschmann [Hrsg.], Die Ver-
fassung des Freistaats Thüringen, Art. 57 Rn. 4).
VerfGH 36/24 27
(3) Die systematische sowie verfassungsvergleichende Interpretation der Norm stützt
dieses Ergebnis.
(a) Die in Art. 57 Abs. 1 ThürVerf verwendete Formulierung „aus seiner Mitte“ findet
sich ebenfalls im fünften Abschnitt („Die Gesetzgebung“) des Zweiten Teils der Thü-
ringer Verfassung. In Art. 81 Abs. 1 ThürVerf ist bestimmt, dass Gesetzesvorlagen
„aus der Mitte des Landtags“ eingebracht werden können. Inhaltsgleiche Bestimmun-
gen finden sich außerdem im Grundgesetz (Art. 76 Abs. 1 GG) und in nahezu sämtli-
chen Landesverfassungen (vgl. Art. 71 BayVerf; Art. 59 Abs. 2 VvB; Art. 75 Verf Bbg;
Art. 123 Abs. 1 BremVerf; Art. 48 Abs. 1 HambVerf; Art. 117 HessVerf; Art. 55 Abs. 1
Satz 1 Verf M-V; Art. 42 Abs. 3 NdsVerf; Art. 65 Verf NRW; Art. 108 Verf RP; Art. 70
Abs. 1 SächsVerf; Art. 77 Abs. 2 Verf LSA). Die Formulierung „aus der Mitte“ wird bei
sämtlichen dieser Bestimmungen jeweils dahingehend verstanden, dass jedenfalls
eine Fraktion entsprechende Gesetzesvorlagen einreichen kann (vgl. Fibich, in: Bren-
ner/Hinkel/Hopfe/Poppenhäger/von der Weiden, Verfassung des Freistaats Thürin-
gen, Art. 81 Rn. 14 f.; Poschmann/Hyckel, in: Dressel/Poschmann [Hrsg.], Die Verfas-
sung des Freistaats Thüringen, Art. 81 Rn. 8; jeweils m. w. N.; ferner: Kersten, in:
Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 76 Rn. 46; Mann, in: Sachs, GG, Art. 76 Rn. 9; Brosius-
Gersdorf, in: Dreier, GG, Art. 76 Rn. 54). Daher spricht die in Art. 57 Abs. 1 ThürVerf
verwendete Formulierung „aus seiner Mitte“ ebenfalls dafür, dass jede Fraktion des
Thüringer Landtags Vorschläge für die Wahl des Landtagspräsidenten unterbreiten
kann.
Zwar hat die Formulierung „aus der Mitte“ in Art. 81 Abs. 1 ThürVerf eine andere Funk-
tion als in Art. 57 Abs. 1 ThürVerf. Art. 81 Abs. 1 ThürVerf beschreibt den Kreis derje-
nigen, die Gesetzesvorlagen einreichen dürfen. Art. 57 Abs. 1 ThürVerf zielt hingegen
auf eine zu wählende Person ab. Es sind jedoch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich,
dass den in Art. 57 Abs. 1 und Art. 81 Abs. 1 ThürVerf verwendeten Formulierungen
ein verschiedener Bedeutungsgehalt zukommen soll.
(b) Das Grundgesetz enthält mit Art. 40 Abs. 1 Satz 1 eine zu Art. 57 Abs. 1 ThürVerf
gleichartige Norm. Gemäß Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG wählt der Bundestag seinen Prä-
sidenten, dessen Stellvertreter und die Schriftführer.
VerfGH 36/24 28
(aa) Bei der Auslegung dieser bundesrechtlichen Verfassungsbestimmung geht eine
weit überwiegende herrschende Meinung davon aus, dass eine – namentlich die
stärkste – Fraktion im Bundestag keinen Rechtsanspruch auf Stellung des Parlaments-
präsidenten hat (Brocker, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 40 Rn. 9 sowie in: Kahl/Wald-
hoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 40 Rn. 142; Klein/Schwarz, in:
Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 40 Rn. 93; Schliesky, in: Huber/Voßkuhle, GG, Art. 40
Rn. 7; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 40 Rn. 1; Magiera, in: Sachs, GG, Art. 40
Rn. 5; Lang, in: Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 40 Rn. 12; Gröpl, in:
Gröpl/Windthorst/v. Coelln, Studienkommentar GG, Art. 40 Rn. 2; Kluth, in: Schmidt-
Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 40 Rn. 55; Burghart, in: Leibholz/Rinck, GG,
Art. 40 Rn. 81; jeweils m. w. N.). Als zentrales Argument für diese Auffassung wird vor
allem das ausdrückliche Erfordernis einer Wahl angeführt; es steht dem Rechtsan-
spruch einer einzelnen Fraktion entgegen (a. A. Achterberg, Parlamentsrecht, S. 67;
Austermann JuS 2018, 760 [761]; Austermann/Waldhoff, Parlamentsrecht, S. 50 Rn.
119; Blum, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 21 Rn. 2; Bollmann,
Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen
des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S. 138 f.; Schulze-Fielitz, in: Schnei-
der/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland,
§ 11 Rn. 10; im Wesentlichen jeweils unter Verweis auf Gewohnheitsrecht).
(bb) Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht zur Frage des Vorschlags-
rechts und der Wahl im Rahmen des Art. 40 GG ausgeführt, dass das Recht zur gleich-
berechtigten Berücksichtigung einer Fraktion bei der Besetzung des Präsidiums inso-
weit unter dem Vorbehalt der Wahl durch die Abgeordneten steht und daher nur ver-
wirklicht werden kann, wenn die von dieser Fraktion vorgeschlagenen Kandidatinnen
und Kandidaten die erforderliche Mehrheit erreichen. Das Grundgesetz sieht aus-
drücklich eine Wahl vor und gerade kein von einer Wahl losgelöstes Besetzungsrecht
der Fraktionen. Weitere ausdrückliche verfassungsrechtliche Vorgaben für diese Wahl
bestehen nicht. Die Ausgestaltung des Wahlverfahrens stellt sich daher als eine innere
Angelegenheit des Parlaments dar, die dieses im Rahmen der verfassungsmäßigen
Ordnung autonom regeln kann (vgl. BVerfG, Urteil vom 13. Juni 1989 – 2 BvE 1/88 –,
BVerfGE 80, 188 [219] = juris Rn. 104; Urteil vom 21. Juli 2000 – 2 BvH 3/91 –,
BVerfGE 102, 224 [235 f.] = juris Rn. 42 ff.; Urteil vom 28. Februar 2012 – 2 BvE 8/11
VerfGH 36/24 29
–, BVerfGE 130, 318 [348] = juris Rn. 115; Urteil vom 22. März 2022 – 2 BvE 2/20 –,
BVerfGE 160, 368 [396] = juris Rn. 80).
Dabei ist die Wahl nach Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG frei. Wahlen zeichnen sich gerade
durch die Wahlfreiheit aus, wenngleich die Wählbarkeit von der Erfüllung bestimmter
Voraussetzungen abhängen kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 20. September 2016 –
2 BvR 2453/15 –, BVerfGE 143, 22 [33] = juris Rn. 28). Der mit einer Wahl einherge-
hende legitimatorische Mehrwert könnte nicht erreicht werden, wenn es eine Pflicht
zur Wahl eines bestimmten Kandidaten oder einer bestimmten Kandidatin gäbe. Die
freie Wahl entspricht dem freien Mandat der Abgeordneten nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2
GG und dem Demokratieprinzip nach Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG. Nach Art. 38
Abs. 1 Satz 2 GG üben die Abgeordneten des Bundestages ihr Mandat in Unabhän-
gigkeit aus, sind an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen
unterworfen (vgl. BVerfG, Urteil vom 4. Juli 2007 – 2 BvE 1/06 –, BVerfGE 118, 277
[324] = juris Rn. 206; Beschluss vom 17. September 2013 – 2 BvE 6/08 –, BVerfGE
134, 141 [172] = juris Rn. 93).
Zu den Statusrechten des Abgeordneten gehört auch das Stimmrecht und insbeson-
dere das Recht, sich an Wahlen zu beteiligen (vgl. BVerfG, Urteil vom 13. Juni 1989 –
2 BvE 1/88 –, BVerfGE 80, 188 [218] = juris Rn. 102; Urteil vom 28. Februar 2012 – 2
BvE 8/11 –, BVerfGE 130, 318 [342] = juris Rn. 104; Urteil vom 22. September 2015 –
2 BvE 1/11 –, BVerfGE 140, 115 [150 f.] = juris Rn. 92). Hierzu gehört auch das Recht,
Personalvorschläge im Rahmen von Wahlen zu unterbreiten (BVerfG, Urteil vom 22.
März 2022 – 2 BvE 2/20 –, BVerfGE 160, 368 [391 ff.] = juris Rn. 66 ff.). Bestandteil
dieser Wahlfreiheit ist auch, an Organisationsentscheidungen des Parlaments mitzu-
wirken, insbesondere durch Beteiligung an Wahlakten innerhalb des Parlaments
(BVerfG, Urteil vom 22. März 2022 – 2 BvE 2/20 –, BVerfGE 160, 368 [384] = juris Rn.
50; Urteil vom 18. September 2024 – 2 BvE 1/20, 2 BvE 10/21 –, Rn. 92, abrufbar
unter www.bverfg.de). Daher kommen keine Maßnahmen in Betracht, die dazu führen
würden, dass einzelne Abgeordnete unmittelbar oder mittelbar verpflichtet wären, ihre
Wahlabsicht oder ihre Stimmabgabe offenzulegen oder zu begründen (vgl. BVerfG,
Beschluss vom 20. September 2016 – 2 BvR 2453/15 –, BVerfGE 143, 22 [35] = juris
VerfGH 36/24 30
Rn. 34; Beschluss vom 22. März 2022 – 2 BvE 9/20 –, BVerfGE 160, 411 [420 f.] =
juris Rn. 29 ff.).
Insbesondere gilt der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit – wonach grundsätzlich jeder
Ausschuss des Parlaments ein verkleinertes Abbild des Plenums sein muss (vgl.
BVerfG, Urteil vom 13. Juni 1989 – 2 BvE 1/88 –, BVerfGE 80, 188 [222] = juris
Rn. 114; Urteil vom 16. Juli 1991 – 2 BvE 1/91 –, BVerfGE 84, 304 [323 f.] = juris
Rn. 100) – nicht für Gremien und Funktionen, die lediglich organisatorischer Art sind
und daher nicht dem Einfluss des Prinzips gleichberechtigter Teilnahme an den dem
Parlament und der Verfassung übertragenen Aufgaben unterliegen (vgl. BVerfG, Be-
schluss vom 17. September 1997 – 2 BvE 4/95 –, BVerfGE 96, 264 [280] = juris
Rn. 69; Urteil vom 22. September 2015 – 2 BvE 1/11 –, BVerfGE 140, 115 [151 f.] =
juris Rn. 94; Beschluss vom 4. Mai 2020 – 2 BvE 1/20 –, BVerfGE 154, 1 [12] = juris
Rn. 29). Das freie Mandat (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG bzw. Art. 53 Abs. 1 Satz 2
ThürVerf) begründet folglich für sich genommen keinen Anspruch auf Zugang zu Lei-
tungsämtern, bei denen es nicht zur inhaltlichen Vorformung der parlamentarischen
politischen Willensbildung kommt. Die Wahl von Präsident und Stellvertretern kann
nicht im Sinne des Benennungsrechts, sondern als Recht jeder Fraktion, einen Abge-
ordneten zur Wahl zu stellen, verstanden werden (BVerfG, Beschluss vom 22. März
2022 – 2 BvE 9/20 –, BVerfGE 160, 411 [423 f.] = juris Rn. 39 f.; Urteil vom 18. Sep-
tember 2024 – 2 BvE 1/20, 2 BvE 10/21 –, Rn. 96 f., abrufbar unter www.bverfg.de).
(c) Auch hinsichtlich inhaltsgleicher Bestimmungen zur Wahl des Parlamentspräsiden-
ten in den Verfassungen anderer Länder wird weit überwiegend davon ausgegangen,
dass ein Anspruch einer Fraktion auf ausschließliche Benennung oder gar auf Wahl
eines bestimmten Kandidaten nicht besteht (vgl. Möstl, in: Lindner/Möstl/Wolff, Verfas-
sung des Freistaats Bayern, Art. 20 BayVerf, Rn. 5; Lieber, in: Lieber/Iwers/Ernst, Ver-
fassung des Landes Brandenburg, Art. 69 Verf Bbg, Ziff. 2.1; Brocker, in: Knops/Jäni-
cke, Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg, Art. 18 HambVerf, Rn. 12; Hollo,
in: Butzer et al., Hannoverscher Kommentar zur Niedersächsischen Verfassung, Art.
18 NdsVerf, Rn. 15; Langner, in: Ogorek/Poseck, BeckOK Verfassung Hessen, Art. 84
HessVerf, Rn. 67, 70; Kober, in: Ogorek/Dauner-Lieb, BeckOK Verfassung für das
VerfGH 36/24 31
Land Nordrhein-Westfalen, Art. 38 Verf NRW, Rn. 4; Thesling, in: Heusch/Schönen-
broicher, Die Landesverfassung Nordrhein-Westfalen, Art. 38 Verf NRW, Rn. 11; Teb-
ben, in: Classen/Sauthoff, Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Art. 29
Verf M-V, Rn. 2; Perne, in: Brocker/Droege/Jutzi, Verfassung für Rheinland-Pfalz,
Art. 85 Verf RP, Rn. 20; Schulte/Kloos, in: Baumann-Hasske, Die Verfassung des Frei-
staats Sachsen, Art. 47 SächsVerf, Rn. 1; Waak, in: Becker/Brüning/Ewer/Schliesky,
Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Art. 20 SchlHVerf, Rn. 13).
(4) Schließlich stehen auch Funktion und Aufgaben des Landtagspräsidenten sowie
die Bedeutung seines Amts einem solchen Anspruch entgegen.
(a) Die zentrale Aufgabe des Landtagspräsidenten besteht darin, durch die operative
Handhabung der Geschäftsordnung die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Landtags
und damit die effektive Wahrnehmung des individuellen Mandats seiner Mitglieder zu
sichern (VerfGH RP, Urteil vom 19. August 2002 – VGH O 3/02 –, NVwZ 2003, 75 [76]
= juris Rn. 26; LVerfG M-V, Urteil vom 23. Januar 2014 – 3/13 –, LVerfGE 25, 367
[373] = juris Rn. 30). Er führt unter anderem die Geschäfte des Landtags (Art. 57 Abs. 3
Satz 1 ThürVerf) und leitet dessen Sitzungen (Art. 57 Abs. 2 Satz 3 ThürVerf). Ferner
fungiert er als Schnittstelle zur Landesregierung. Darüber hinaus weist ihm die Verfas-
sung des Freistaats Thüringen die Aufgabe zu, die vom Landtag beschlossenen Ge-
setze auszufertigen (Art. 85 Abs. 1 ThürVerf; ausführlich zu den Aufgaben des Land-
tagspräsidenten: Linck, in: Linck/Jutzi/Hopfe, Die Verfassung des Freistaats Thürin-
gen, Art. 57 Rn. 8 ff.). Er trägt damit die vorrangige Verantwortung für den störungs-
freien Ablauf der Arbeit des Parlaments (BVerfG, Urteil vom 22. März 2022 – 2 BvE
2/20 –, BVerfGE 160, 368 [402] = juris Rn. 98).
Damit können ohne die Besetzung des Präsidentenamtes weder Gesetze verkündet
noch die Kontrollfunktion des Landtags gegenüber der Landesregierung effektiv wahr-
genommen werden. Der Landtag als Organ ist erst dann voll handlungsfähig, wenn
der Landtagspräsident gewählt ist (vgl. Langner, in: Ogorek/Poseck, BeckOK Verfas-
sung Hessen, Art. 84 HessVerf, Rn. 51, 65).
VerfGH 36/24 32
Die Funktionsfähigkeit des Landtags kann im Übrigen auch für die Funktionsfähigkeit
der weiteren Verfassungsorgane bedeutsam sein: Ohne einen funktionsfähigen Land-
tag können beispielsweise keine Wahl des Ministerpräsidenten nach Art. 70 Abs. 3
ThürVerf und damit keine Bildung einer neuen Landesregierung erfolgen. Zudem
kommt ohne einen funktionsfähigen Landtag auch keine (Nach-)Wahl von Mitgliedern
und Stellvertretern des Verfassungsgerichtshofs zustande (§ 3 ThürVerfGHG).
Schließlich hat der Landtagspräsident das Parlament in seiner Gesamtheit – und nicht
etwa nur die Anliegen einer parlamentarischen Minderheit (vgl. BVerfG, Beschluss
vom 15. Februar 1952 – 2 BvE 1/51 –, BVerfGE 1, 115 [116] = juris Rn. 4) – zu vertre-
ten und ist zu einer unparteiischen Amtsführung verpflichtet (vgl. BVerfG, Urteil vom
13. Juni 1989 – 2 BvE 1/88 –, BVerfGE 80, 188 [227] = juris Rn. 125; Urteil vom
22. März 2022 – 2 BvE 2/20 –, BVerfGE 160, 368 [402] = juris Rn. 98; vgl. auch Bro-
cker, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 40 Rn. 5).
(b) Die Wahl des Präsidenten ist ein zwingendes Element der Konstituierung des Par-
laments (h. M. vgl. Linck/Hopfe, in: Brenner/Hinkel/Hopfe/Poppenhäger/von der Wei-
den, Verfassung des Freistaats Thüringen, Art. 57 Rn. 15a m. w. N.; Hölscheidt, in:
Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 39 Rn. 135, 148;
Magiera, in: Sachs, GG, Art. 39 Rn. 22; weitere Nachweise bei: Bieler/Posch-
mann/Schulte, in: Dressel/Poschmann [Hrsg.], Die Verfassung des Freistaats Thürin-
gen, Art. 57 Rn. 12).
(c) Aus dieser besonderen Bedeutung des Landtagspräsidenten folgt, dass er einer
entsprechenden Legitimation bedarf, die durch Wahlvorschläge „aus der Mitte“ des
Landtags und den erforderlichen Wahlakt hergestellt wird. Der Präsident benötigt das
Vertrauen des Parlaments, um das Organ nach außen zu vertreten, seine Würde und
seine Rechte zu wahren, seine Verhandlungen „gerecht und unparteiisch“ zu leiten
und die Ordnung im Hause zu wahren (vgl. Klein/Schwarz, in: Dürig/Herzog/Scholz,
GG Art. 40 Rn. 98). Er muss über eine breite Vertrauensgrundlage im Parlament ver-
fügen (vgl. BVerfG, Urteil vom 22. März 2022 – 2 BvE 2/20 –, BVerfGE 160, 368 [402]
= juris Rn. 98; Wilrich, DÖV 2002, 152 [158]).
VerfGH 36/24 33
Dieses Maß an Legitimation würde durch ein auf eine einzelne Fraktion beschränktes
Vorschlagsrecht oder gar einen Anspruch dieser Fraktion auf „Wahl“ einer bestimmten
Person nicht gewährleistet. Der mit einer Wahl einhergehende legitimatorische Mehr-
wert könnte nicht erreicht werden, wenn es eine Pflicht zur Wahl einer bestimmten
Kandidatin oder eines bestimmten Kandidaten gäbe (vgl. BVerfG, Beschluss vom
20. September 2016 – 2 BvR 2453/15 –, BVerfGE 143, 22 [33] = juris Rn. 28; Be-
schluss vom 22. März 2022 – 2 BvE 9/20 –, BVerfGE 160, 411 [420 f.] = juris
Rn. 29 ff.).
Nach alledem ergibt sich aus Art. 57 Abs. 1 ThürVerf weder ein ausschließliches Vor-
schlagsrecht einer einzelnen Fraktion noch ein Recht auf Wahl einer bestimmten Kan-
didatin oder eines Kandidaten.
bb) Ein Anspruch auf ein ausschließliches Vorschlagsrecht für das Amt des Landtags-
präsidenten oder ein Anspruch dieser Fraktion auf die Wahl einer von ihr vorgeschla-
genen Person für dieses Amt ergibt sich schließlich nicht aus Verfassungsgewohn-
heitsrecht.
(a) Die Bildung von Gewohnheitsrecht erfordert, dass eine über längere Zeit „geübte
Staatspraxis“ vorliegt, die zur Überzeugung der Beteiligten als rechtlich verbindlich an-
gesehen wird (vgl. Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine ver-
fassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S. 138;
Lohse, in: Stern/Sodan/Möstl, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland im eu-
ropäischen Staatenverbund, § 38 Rn. 34 m. w. N.; Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh,
Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, § 11 Rn. 8
m. w. N.; Wolff, Ungeschriebenes Verfassungsrecht unter dem Grundgesetz, S. 438 ff.,
der jedenfalls einen Zeitraum von 50 Jahren als ausreichend erachtet; siehe im Übri-
gen v. Arnauld in v. Münch/Kunig, GG, Art. 54 Rn. 4 zu den ungeschriebenen Verfas-
sungskompetenzen des Bundespräsidenten im Hinblick auf einen Zeitraum von 70
Jahren; zum Gewohnheitsrecht im Allgemeinen: BVerfG, Beschluss vom 8. Januar
1959 – 1 BvR 296/57 –, BVerfGE 9, 109 [117] = juris Rn. 21; Beschluss vom 28. Juni
1967 – 2 BvR 143/61 –, BVerfGE 22, 114 [121] = juris Rn. 25; Beschluss vom 15. Ja-
nuar 2009 – 2 BvR 2044/07 –, BVerfGE 122, 248 [269] = juris Rn. 62).
VerfGH 36/24 34
(b) Im Falle der Wahl des Präsidenten des Thüringer Landtags kann offen bleiben, ob
sich überhaupt eine solche „geübte Staatspraxis“ etabliert hat.
Bezüglich der Wahl des Bundestagspräsidenten wird dies teilweise unter Verweis auf
die seit 1920 praktizierte Verfahrensweise angenommen (vgl. Achterberg, Parlaments-
recht, S. 67; Austermann, JuS 2018, 760 [761]; Austermann/Waldhoff, Parlaments-
recht, S. 50 Rn. 119; Blum, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 21
Rn. 2; Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungs-
rechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S. 138 f.;
Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bun-
desrepublik Deutschland, § 11 Rn. 10; weitere Nachweise bei: Hemmer, Der Präsident
des Landtags Nordrhein-Westfalen, S. 57).
Für die Herausbildung von Gewohnheitsrecht wird hierzu auch auf die Regelung des
§ 7 Abs. 6 der Geschäftsordnung des Bundestages (GOBT) verwiesen, wonach der
Stellvertreter der zweitstärksten Fraktion den Präsidenten im Verhinderungsfall vertritt
(Austermann, JuS 2018, 760 [761]; Austermann/Waldhoff, Parlamentsrecht, S. 50
Rn. 119; weitere Nachweise bei Hemmer, Der Präsident des Landtags Nordrhein-
Westfalen, S. 56). Mit der Anfügung des Absatz 6 an § 7 GOBT habe der Bundestag
diese parlamentarische Übung auch satzungsmäßig verankern wollen (vgl. Rit-
zel/Bücker/Schreiner, Handbuch für die Parlamentarische Praxis, § 2 Ziff. 1 c; letztlich
einen Rechtsanspruch jedoch ablehnend).
Anders als im Fall der Wahl des Bundestagspräsidenten fehlt bei der Thüringer Ver-
fassung jedoch bereits ein derart weit zurückliegender zeitlicher Anknüpfungspunkt.
Die Thüringer Verfassung ist am 30. Oktober 1993 in Kraft getreten. Nach ihrem In-
krafttreten wurde dann insgesamt sieben Mal eine Präsidentin bzw. ein Präsident des
Thüringer Landtags gewählt.
(c) Darüber hinaus fehlt es an den erforderlichen Anhaltspunkten für die notwendige
Rechtsüberzeugung einer solchen (verfassungs-)rechtlichen Verpflichtung („opinio
iuris sive necessitatis“). Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Wahlen der jeweiligen
Landtagspräsidentin bzw. des jeweiligen Landtagspräsidenten mit dem Willen einer
VerfGH 36/24 35
Bindung auf verfassungsrechtlicher Ebene erfolgt sind (vgl. zur Problematik auch
StGH BW, Urteil vom 19. März 2021 – 1 GR 93/19 –, LVerfGE 32, 3 [20] = juris
Rn. 101).
Zum einen handelt es sich bei der Geschäftsordnung des Thüringer Landtags um
Recht unterhalb der Thüringer Verfassung. Zum anderen ist den Protokollen des Ver-
fassungsausschusses und des Unterausschusses des Verfassungs- und Geschäfts-
ordnungsausschusses zu den Beratungen über die Verfassung des Freistaats Thürin-
gen zu entnehmen, dass an eine solche gegebenenfalls im Bund oder anderen Län-
dern „geübte Staatspraxis“ gerade nicht angeknüpft werden sollte. Unter dem Eindruck
der Beratungen im Verfassungsausschuss bzw. dem Unterausschuss des Verfas-
sungs- und Geschäftsordnungsausschusses und deren Ergebnis kann gerade nicht
angenommen werden, dass die Wahl der nachfolgenden Landtagspräsidenten in der
Rechtsüberzeugung erfolgt ist, dass ein rechtliches Gebot zur Wahl des Kandidaten
der stärksten Fraktion besteht, da der Verfassungsgeber eine solche Verfahrensweise
gerade nicht etablieren wollte (vgl. oben 3 c aa [2] [b]).
(d) Schließlich könnte sich eine entsprechende „geübte Staatspraxis“ auch nicht über
geschriebenes Verfassungsrecht hinwegsetzen. Gemäß Art. 83 Abs. 1 ThürVerf kann
die Verfassung nur durch ausdrückliche Änderung ihres Wortlauts geändert werden.
Das Gebot der Textänderung hindert die Bildung von Gewohnheitsrecht, das in Wider-
spruch zu den geschriebenen Regeln der Verfassung stünde (vgl. Herdegen, in: Dü-
rig/Herzog/Scholz, GG Art. 79 Rn. 30 m. w. N.). Die Bildung von Gewohnheitsrecht
darf sich, sofern es überhaupt für zulässig gehalten wird, nur unter Wahrung der Bin-
dung an die Verfassung vollziehen (Hain, in: Huber/Voßkuhle, GG, Art. 79 Rn. 14).
Es handelt sich bei der parlamentarischen Praxis, wonach die stärkste Fraktion des
Thüringer Landtags den Präsidenten vorschlägt, lediglich um einen allgemeinen par-
lamentarischen Brauch, aus dem sich keine rechtlichen Bindungen ableiten (vgl. auch
Linck/Hopfe, in: Brenner/Hinkel/Hopfe/Poppenhäger/von der Weiden, Verfassung des
Freistaats Thüringen, Art. 57 Rn. 14 m. w. N.).
VerfGH 36/24 36
Aus alldem folgt, dass bei Fortsetzung der konstituierenden Sitzung des Thüringer
Landtags wie folgt zu verfahren ist:
1. Ernennung von vorläufigen Schriftführern.
2. Aufruf der Namen der Abgeordneten und Feststellung der Beschlussfähigkeit.
3. Abstimmung des Plenums über die vorläufige Tagesordnung in der Neufassung
der Einladung vom 19. September 2024.
4. Fortsetzung der Sitzung in der Reihenfolge der beschlossenen Tagesordnung.
I V .
Das Verfahren ist gemäß § 28 Abs. 1 ThürVerfGHG kostenfrei.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung für das einstweilige Anordnungsverfah-
ren folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 29 Abs. 1 Satz 1 ThürVerfGHG.
Die Entscheidung ist einstimmig ergangen.
Dr. von der Weiden Dr. Schmidt Burkert
Geibert Dr. Hinkel Prof. Dr. Ohler
Petermann Wittmann Reiser-Uhlenbruch

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