Heute wurden die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) 2020 zu Gewalttaten gegen Kinder und Jugendliche gemeinsam vom Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) Johannes-Wilhelm Rörig und dem Präsidenten des Bundeskriminalamtes (BKA) Holger Münch in Berlin vorgestellt.
Laut PKS sind im Jahr 2020 152 Kinder gewaltsam zu Tode gekommen. 115 von ihnen waren zum Zeitpunkt des Todes jünger als sechs Jahre. In 134 Fällen erfolgte ein Tötungsversuch. Mit 4.918 Fällen von Misshandlungen Schutzbefohlener wurde eine Zunahme um 10 % im Vergleich zum Vorjahr registriert. Kindesmissbrauch ist um 6,8 % auf über 14.500 Fälle gestiegen. Stark angestiegen sind mit 53 % auf 18.761 Fälle die Zahlen bei Missbrauchsabbildungen, sogenannter Kinderpornografie. Auch die starke Zunahme bei der Verbreitung von Missbrauchsabbildungen durch Minderjährige war in 2020 besorgniserregend: Laut PKS hat sich die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die Missbrauchsabbildungen – insbesondere in Sozialen Medien – weiterverbreiteten, erwarben, besaßen oder herstellten, in Deutschland seit 2018 mehr als verfünffacht – von damals 1.373 auf 7.643 angezeigte Fälle im vergangenen Jahr.
Die jährlichen PKS-Zahlen geben die der Polizei bekannt gewordenen Delikte an. Das Dunkelfeld, also der Anteil an Straftaten, von denen die Polizei keine Kenntnis erhält, ist um ein Vielfaches größer. So gehen Schätzungen davon aus, dass in Deutschland pro Schulklasse 1-2 Schüler*innen sexueller Gewalt ausgesetzt sind oder waren. Siehe auch: https://beauftragter-missbrauch.de/service/zahlen-fakten
PKS weist enormen Anstieg von Missbrauchsabbildungen im Netz aus – internationale Untersuchungen bestätigen eklatanten Anstieg in 2020
Foren im Darknet werden von Tätern zunehmend professionell organisiert, kleinere Tätergemeinschaften verstecken sich hinter verschlüsselter Kommunikation. Neben den PKS-Zahlen verweisen auch internationale Zahlen* für 2020 auf eine Zunahme der sexuellen Ausbeutung von Kindern online: Laut Europol ist im ersten Corona-Lockdown in Europa der Konsum von Missbrauchsabbildungen um rund 30 % gestiegen. Europol und die britische Internet Watch Foundation (IWF) weisen darauf hin, dass auch das Livestreaming von sexualisierter Gewalt via Webcam aus den häuslichen Kinderzimmern immer mehr nachgefragt wird. Die IWF berichtet für 2020, dass 33 % der kinderpornografischen Websites Vergewaltigungen oder sexualisierte Folter von Kindern zeigen. 55 % der abgebildeten Kinder sind unter 10 Jahre alt und 2 % sind jünger als 2 Jahre alt. Das NCMEC (National Center for Missing & Exploited Children) in den USA registrierte laut EU-Kommission im April 2020 einen Anstieg von mehr als 400 % bei verdächtigen Fällen: Waren es im April 2019 noch rund 1 Mio berichteter Fälle, so lag die Zahl im April 2020 schon bei über 4 Mio Fälle. Durch Lockdown, Homeschooling und weniger Freizeitaktivitäten seien die Kinder den Gefahren im Internet vermehrt ausgesetzt. Gleichzeitig seien auch mehr Täter durch den Lockdown im Netz aktiv.
Johannes-Wilhelm Rörig, Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), betonte, dass die PKS zu Gewaltdelikten an Kindern nicht als Rapport aus den Randbereichen der Gesellschaft missverstanden werden darf: „Sexuelle Gewalt gibt es überall, sie ist trauriger Alltag und findet meistens dort statt, wo sie niemand vermuten möchte: ganz nah dran, in Familien, in der Nachbarschaft, im Sportverein und im Netz. Rörig weiter: „Die Gefahrenabwehr muss dahin, wo die Kinder und Jugendlichen sind! Dies betrifft immer mehr auch die Sozialen Netzwerke und Online-Spiele. Zudem brauchen wir Kompetenzbündelungen bei den Staatsanwaltschaften, um Ermittlungen gezielter zu koordinieren und Verfahren zu beschleunigen. Vor allem brauchen wir eine massive Personalaufstockung bei Polizei und Justiz. Ermittlungen dürfen nicht daran scheitern, dass Durchsuchungsbeschlüsse nicht vollstreckt und Datenträger nicht ausgewertet werden oder tausende Akten bundesweit auf Halde liegen, weil es keine Kapazitäten für ihre Bearbeitung gibt. Hier ist ein Kipppunkt erreicht – wir müssen verhindern, dass das System kollabiert!“
Rörig forderte, dass der nächste Bundestag eine Enquête-Kommission einsetzt. Dort sollten Datenschützer*innen, Kinderschützer*innen, Cyberkriminolog*innen und Ermittler*innen, Vertreter*innen der großen Online-Unternehmen und Gamingplattformen, zusammen eine Grundsatzstrategie zur Bekämpfung sexueller Gewalt im Netz erarbeiten.
Das BKA hat für die Zunahme von Hinweisen auf den Besitz und die Verbreitung von Kinder- und Jugendpornografie verschiedene Erklärungen. Zum einen meldet das NCMEC vermehrt Fälle, bei denen der Tatort in Deutschland liegt. Außerdem ist der Polizei im Zuge der großen Missbrauchsverfahren in Lügde, Bergisch Gladbach und Münster die Identifizierung zahlreicher weiterer Tatverdächtiger im In- und Ausland gelungen. Tausende Hinweise auf Kinderpornografie führten aber nicht zur Ermittlung der Täter, weil die vom Provider mitgelieferten IP-Adressen mangels in Deutschland praktizierter Vorratsdatenspeicherung bereits gelöscht waren, eine Identifizierung der Täter damit nicht möglich war. Auch arbeiten die Strafverfolgungsbehörden weltweit immer enger zusammen, hinzu kommt die stetige Verbesserung der Detektionstechnologien im Internet.
Außerdem beobachtet das BKA den Trend, dass vor allem Kinder und Jugendliche über ihre Smartphones immer häufiger kinder- und jugendpornografische Bilder teilen. Ihnen ist die Strafbarkeit häufig nicht bewusst, sie werden von ihren Eltern dafür nicht sensibilisiert oder leiten die pornografischen Dateien als „Mutprobe“ weiter.
Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamts (BKA): „Schwerste Straftaten an Kindern wie der sexuelle Missbrauch oder Misshandlungen geschehen zumeist hinter verschlossenen Türen. Darum sind wir alle aufgefordert, wachsam zu sein und Verantwortung zu übernehmen. Jeder, der Anzeichen strafbarer Handlungen an Kindern wahrnimmt, sollte deshalb nicht zögern, die Polizei zu informieren und Strafanzeige zu erstatten oder Hilfestellen oder das Jugendamt zu kontaktieren. Bestimmte Formen des sexuellen Missbrauchs wie Cybergrooming geschehen im Internet. Daher ist es ebenso wichtig, dass wir unsere Kinder für diese Gefahren sensibilisieren und sie zu einem sicherheitsbewussten Umgang mit dem Netz anleiten.“
Nationaler Rat gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen befasst sich auch mit einer Strategie zur Häufigkeitsforschung
Der im Dezember 2019 unter dem Vorsitz der damaligen Bundesfamilienministerin Franziska Giffey und dem Missbrauchsbeauftragten Rörig und unter Beteiligung des BKA eingerichtete Nationale Rat gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen (https://www.nationaler-rat.de) ist das zentrale nationale Forum für den langfristigen und interdisziplinären Dialog von politischen und gesellschaftlichen Akteuren. Bereits im Sommer 2021 wird er zu einer ersten Verständigung zu konkreten Zielen und Maßnahmen kommen. Hierbei wird es auch um eine die Entwicklung einer Strategie für eine kontinuierliche Prävalenz- bzw. Häufigkeitsforschung in Deutschland gehen, also regelmäßige repräsentative Befragungen zu Gewalt an Kindern. Dann wird es künftig auch möglich sein, neben Hellfeldzahlen wie zum Beispiel der PKS weitere verlässliche Zahlen aus dem Dunkelfeld zu haben, die Aufschluss darüber geben können, welche Maßnahmen wie ankommen und wo nachgesteuert werden muss.
https://beauftragter-missbrauch.de/presse/pressemitteilungen
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