„Wo sind sie?“ fleht eine Frau. „Meine Mutter, sie ist seit 14 Jahren verschwunden. Wo ist sie? Wo ist mein Bruder, wo ist mein Mann, wo sind sie?“
Im Leichenschauhaus liegen etwa 35 Leichen, die Tage nach dem Sturz des Regimes in einem Militärkrankenhaus in der syrischen Hauptstadt gefunden wurden. Man nimmt an, dass es sich um einige der letzten Opfer des Assad-Regimes handelt. Ein Mann zeigt auf ihre zerrissene Kleidung und vermutet, dass sie Häftlinge im berüchtigten Saydnaya-Gefängnis waren.
Die Leichen sind in der hell erleuchteten Leichenhalle lediglich mit Nummern versehen. Doch da nicht genügend Platz vorhanden ist, wurde ein provisorischer Bereich außerhalb eingerichtet. Dort versammeln sich Familien, leuchten mit ihren Handys die Gesichter der Toten aus und suchen nach vertrauten Merkmalen, die ihnen Gewissheit bringen könnten.
Schockierende Folterspuren
Die Angehörigen erkennen jedoch auch die schrecklichen Wunden, die auf systematische Folter hindeuten. Eine Frau, die verzweifelt unter den Leichen nach einem Familienmitglied sucht, verlässt das Leichenschauhaus und erbricht sich vor Schock.
Dr. Ahmed Abdullah, ein Mitarbeiter des Leichenschauhauses, erhebt schwere Vorwürfe gegen das Assad-Regime. „Dies ist das Verbrechen des Regimes – die Art, wie sie Menschen gefoltert haben“, sagt er zu CNN. „Sogar im Mittelalter hat man die Menschen nicht so gefoltert.“
Assad floh am Sonntag nach Russland, nachdem die syrischen Rebellen einen schnellen militärischen Vorstoß unternommen und die Hauptstadt Damaskus zurückerobert hatten. Der Zorn der Bevölkerung auf den ehemaligen Machthaber ist überall spürbar. Eine Frau, deren einziger Sohn vor 12 Jahren vom Regime verschleppt wurde, ruft: „Ich bete zu Allah, dass er ihn und seine Söhne verbrennt. Ich hoffe, er brennt, so wie er mein Herz verbrannt hat.“
Ein düsteres Erbe systematischer Gewalt
Über Jahre hinweg hatte die syrische Regierung keinerlei Informationen über den Verbleib von Vermissten preisgegeben. Jetzt hoffen die Menschen vor dem Leichenschauhaus, dass sie zumindest Gewissheit finden – auch wenn es die grausame Form eines Leichnams ist.
Das Assad-Regime war dafür bekannt, akribische Aufzeichnungen zu führen. Ein Deserteur, der als Fotograf bei der syrischen Militärpolizei gearbeitet hatte, schmuggelte 2014 fast 27.000 Fotos aus einem Militärkrankenhaus heraus. Die Bilder zeigten „getötete Häftlinge“, deren Körper deutliche Spuren von Folter aufwiesen: Anzeichen von Hunger, Prügel, Strangulation und anderen Hinrichtungsmethoden. Diese Fotos wurden von Kriegsverbrechens-Ermittlern und forensischen Experten untersucht.
Zahlreiche Akten über Gefangene befinden sich noch immer in der sogenannten „Palästina-Abteilung“ des Militärgeheimdienstes im Südosten von Damaskus. CNN fand Beweise dafür, dass Offiziere Dokumente verbrannten und Festplatten zerstörten, bevor sie flohen. Doch die Gewalt, die sie verübten, war so massiv und systematisch, dass viele Beweise zurückblieben.
Ein ehemaliger Gefangener beschrieb in einem Bericht der Vereinten Nationen regelmäßige Schläge, Schläge mit einem Wasserschlauch und Zigarettenverbrennungen in der „Palästina-Abteilung“. Andere Häftlinge berichteten von sexuellen Übergriffen und so schweren Misshandlungen, dass sie nicht mehr gehen konnten.
Die UN berichtete außerdem, dass Zehntausende Menschen in Massengräbern vom syrischen Regime verscharrt wurden. 2017 veröffentlichte das US-Außenministerium Beweise dafür, dass im Saydnaya-Gefängnis ein Krematorium errichtet wurde. Ein US-Beamter schätzte damals, dass bis zu 50 Häftlinge täglich in Saydnaya ermordet wurden.
Spuren der Häftlinge und Hoffnung der Angehörigen
Während Ermittler nun Zugang zu den offiziellen Akten haben, hinterließen die Gefangenen selbst ihre eigenen Spuren: in die Wände der unterirdischen Zellen eingeritzte Namen, Botschaften und Graffiti – ein letzter Versuch, Spuren für jemanden da draußen zu hinterlassen.
CNN fand in einem geheimen Gefängnis innerhalb des Hauptquartiers des syrischen Luftwaffengeheimdienstes eine Zelle mit Graffiti an den Wänden, die an die Verlorenen erinnern. Einige Zellen waren so etwas wie mittelalterliche Verliese.
Die Angehörigen der Opfer hoffen nun, endlich Antworten zu erhalten. Viele sagen, sie brauchen nicht mehr als eine Bestätigung – selbst wenn es der Anblick eines zerstörten Körpers ist.
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