Frankreichs politische Landschaft steht vor einem möglichen Erdbeben. Die zweite Runde der Parlamentswahlen am kommenden Sonntag könnte Präsident Emmanuel Macron in eine prekäre Lage bringen, die in Frankreich als „Cohabitation“ bekannt ist.
Nach dem ersten Wahlgang liegt der rechtspopulistische Rassemblement National (RN) vorne, gefolgt vom linken Bündnis Nouveau Front populaire (NFP). Macrons Ensemble-Bündnis rutschte überraschend auf den dritten Platz ab. Dies könnte zu einer Situation führen, in der Macron gezwungen wäre, mit einem Premierminister aus den Reihen der Opposition zu regieren.
Die Cohabitation ist in Frankreich kein Novum. Dreimal gab es diese Konstellation bereits, zuletzt zwischen 1997 und 2002 mit Jacques Chirac als Präsident und Lionel Jospin als Premierminister. Allerdings waren die Voraussetzungen damals anders: Trotz politischer Differenzen gab es einen grundlegenden Konsens in Bezug auf Europa und die Verfassung.
Im Falle einer RN-geführten Regierung wäre die Situation deutlich angespannter. Die Partei unter Führung von Jordan Bardella vertritt euroskeptische und nationalistische Positionen, die in starkem Kontrast zu Macrons pro-europäischer Ausrichtung stehen. Besonders in der Außen- und Sicherheitspolitik, etwa bezüglich des Ukraine-Kriegs und der Rolle der EU, könnten erhebliche Konflikte entstehen.
Macron scheint sich bereits auf dieses Szenario vorzubereiten. Berichten zufolge erwägt er, dem RN einen Teil der Macht zu überlassen, um deren Chancen bei den Präsidentschaftswahlen 2027 zu schmälern. Gleichzeitig hat er zu einem breiten demokratischen Bündnis gegen den RN aufgerufen.
Die Auswirkungen einer Cohabitation wären weitreichend. Während Macron weiterhin die Außen- und Verteidigungspolitik bestimmen würde, lägen innenpolitische Themen wie Wirtschaft, Haushalt und Einwanderung in den Händen des Premierministers. Dies könnte zu politischen Blockaden und Verzögerungen bei wichtigen Reformen führen.
Sollte keines der Lager eine absolute Mehrheit erreichen, drohen Frankreich langwierige Koalitionsverhandlungen oder sogar eine Übergangsregierung mit Technokraten. Premier Gabriel Attal hat bereits den Vorschlag gemacht, in diesem Fall Ad-hoc-Allianzen für einzelne Gesetzesvorhaben zu bilden.
Die Wahl am Sonntag wird nicht nur über die Zusammensetzung der Nationalversammlung entscheiden, sondern auch über Macrons Handlungsfähigkeit in den kommenden Jahren. Sie könnte zudem einen Vorgeschmack auf die Präsidentschaftswahlen 2027 geben und die politische Landschaft Frankreichs nachhaltig verändern.
Unabhängig vom Ausgang steht Frankreich vor turbulenten Zeiten. Die traditionellen politischen Lager sind im Umbruch, und neue Allianzen könnten die politische Kultur des Landes grundlegend verändern. Die Auswirkungen dieser Wahl werden weit über die Grenzen Frankreichs hinaus spürbar sein und könnten auch die Zukunft der Europäischen Union beeinflussen.
Kommentar hinterlassen