Kurse von Aktien können sich innerhalb weniger Tage verdoppeln. Ist noch mehr möglich? Müssen es Start-Ups oder können es auch Unternehmen mit abrupten Geschäftsänderungen sein?
Die Feststellung einer Sichtweise kann normal sein. Ob sie es nicht ist, kann am Aktienmarkt Grundlage trefflicher Streits sein. Können seit Jahren zweistellige Kurssteigerungen gerechtfertigt sein oder sind sie übertrieben? Es gibt Papiere, die mit dem 50- oder 100-fachen ihres Jahresgewinns an der Börse gehandelt werden. Kann das normal sein? Diese Sachverhalte können an Zeiten erinnern, in denen Börsianer träumten und die Kurse in rechnerisch nicht begründbare Höhen trieben. Kurz vor dem „New-Economy-Crash“ erschien das als neue Normalität. Neu war das Symbol für diese Übertreibung am Markt.
Technologiefirmen erwecken diesen Eindruck, wenn ihre Aktienkurse schnell steigen und die Papiere hoch bewertet sind. Vor Träumen mahnt die europäische Finanzaufsichtsbehörde ESMA: Investments mit Preisen „auf höchstem Niveau“ seien „größere Risiken“. Investmentfirmen sehen den Aktienmarkt außerhalb seines Normalbereichs und vergrößern die Riege der Pessimisten. Die Ratingagentur Morningstar hält viele europäische Wachstumsaktien für überbewertet. Vor einer gigantischen Blase bei den Tech-Aktien wird gewarnt.
Bemerkenswert sind Highflyer, die weltweit berühmt sind, den Markt „aufmischen“ und in ihren Bilanzen nachhaltig meist Verluste aufweisen. Jeder kennt diese Firmen, deren Aktienkurse auf Basis der Unternehmensumsätze eine Hürde nach der anderen nehmen, während die Verluste weiter steigen. Dennoch sind die Aussichten selten so rosig gewesen. Die IT-Branche profitiert von Themen, die unser Leben verändern: Künstliche Intelligenz, autonomes Fahren, Cloud Computing, Streaming, E-Commerce. Die auf diesen Grundlagen steigenden Kurse erscheinen normal.
„Was ist eigentlich normal?“ kann eine populistische Frage in einer durchschnittlichen Welt sein. Wie weit darf ein Unternehmen von der Verschwörungstheorie einer Normalität abweichen? Dagegen helfen Durchschnittswerte. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) definiert am Aktienmarkt als Kennzahl, ob Papiere positiv oder negativ bewertet sind und wie viel Unternehmensgewinn im Kurs enthalten ist. Je kleiner das KGV, desto besser. Hohes KGV definiert das Papier als teuer und Börsianer erhoffen steigende Gewinne, obwohl der Kurs auch sinken kann.
Im Jahr 2000 betrug das KGV des DAX 33,7. Im S-Dax liegen 13 Papier über einem KGV von 30. Der Anteil im Tec-Dax ist noch höher, wobei ein Unternehmen einen KGV auf Basis der für 2017 erwarteten Gewinne von mehr als 200 aufweist. Evotec führt die Kurssteigerungen mit 300 Prozent Kursplus in den vergangenen zwölf Monaten an.
Dagegen meinen Aktienstrategen, dass viele Bewertungen „nicht so hoch seien, wie es erscheint“, hohe KGV sollen bei Technologiefirmen nichts Ungewöhnliches sein. IT-Unternehmen lassen wegen ihrer Margen und geringer Kapitalintensität ohnehin einen höheren KGV erwarten. Einige Werte des TEC-Dax kamen in der letzten Dekade im Durchschnitt auf ein KGV von 30 (vgl. Herrmann, Felix). Individuelle Betrachtungen der Unternehmen und ihres Marktumfelds sind zu beachten.
Der Lübecker 3-D-Druckspezialist SLM Solutions stellt Maschinen fürs Rapid Prototyping, für Luft- und Raumfahrt, Energie-, Fahrzeugtechnik und Medizin her. Solche Geräte gelten wie der 3-D-Druck als einer der größten Wachstumsmärkte. Von SLM werden steigende Gewinne bei einem KGV von 259 erwartet. Die letzten Halbjahreszahlen waren schwach, obwohl ein Rekordauftrag aus China den Kurs beflügelt. Die Aktie hat den Stand von 2016 noch nicht wieder erreicht. Damals war die Übernahme durch GE geplatzt. Analysten stufen das Papier als nicht riskant ein. Das soll sich auf das Kurspotential allerdings nicht auswirken.
Bei SMA Solar aus Hessen ist es ähnlich. Das Unternehmen gilt weltweit als umsatzstärkster Hersteller von Wechselrichtern für Photovoltaikanlagen. Die Aktie legte seit Juli um 30 Prozent bei einem KGV bei 74 zu. Dennoch erscheint SMA zu hoch bewertet. Das gilt auch für SGL Carbon mit einem KGV von 144 auf Basis der Gewinne für 2018. Die Geschäftsprognosen ziehen an wie der Kurs. Die langfristigen Aussichten sollen auf Wachstum stehen, obwohl erwartet wird, dass die SGL-Aktie das Tempo nicht wird halten können, wenn Gewinnmitnahmen drohen (vgl. Oberhuber, Nadine).
Kurssteigerungen müssen nicht immer Superübertreibungen bedeuten. Aixtron verdoppelte als Anlagenbauer für LED- und Halbleiterindustrie seinen Kurs seit 2016, nachdem die in die Verlustzone gerutscht war. Übernahmeverhandlungen ohne Erfolg nutzten der Aktie nicht. Inzwischen ist Aixtron wieder gut aufgestellt und hat viele Aufträge. 2018 könnte das Unternehmen wieder profitabel sein. Deshalb steigt und schwankt der Kurs.
Zweistellige Kurssteigerungen können bei Tech-Unternehmen einen wirtschaftlichen Hintergrund haben und sind kein Zeichen für eine neue Dotcom-Blase. Eher stehen sie für Ausbau, Konsolidierung oder Übernahmen. In 2000 waren die Firmengewinne bescheiden, von der Hoffnung der Anleger beflügelt. Heute profitieren viele Firmen von der Digitalisierungswelle. „In Zukunft ist praktisch alles Technologie, denn diese Entwicklung wirkt sich auf fast alle Bereiche aus“ (Veit, Heiko – Metzler Asset Management).
Auch die Medizin technisiert sich mit der Firma Evotec ebenso. Das Biotech- und Pharma-Unternehmen ist seit 1993 in der Wirkstoffforschung mit Screening und Magnetresonanzverfahren aktiv. Allianzen mit Pharmakonzernen wie Pfizer, Sanofi oder Hoffmann-La Roche wurden gebildet. Der Umsatz wuchs zuletzt um 26 Prozent auf 164 Millionen Euro, während der Aktienkurs um 500 Prozent zulegte. Daytrader nutzen das Papier und Analysten glauben, dass der Kurs weiter steigen könnte. Nach einem Kurs-Dämpfer auf 14 Euro wäre die Aktie ein klarer Kaufanreiz.
Im Umfeld des Silikon Valley gibt es genügend vergleichbare Anreize. Das beunruhigt dort nicht, da die relevanten Firmen weltweit bekannt sind und die Börsenkurse keine Auswirkungen auf die Geschäfte mit den Unternehmen haben. Dabei stellt sich die Frage, ob ein Börsenkurs für die Zukunft aktuell strukturierter Firmen für Geschäftsbeziehungen noch relevant ist. Der Nutzen könnte dann bedeutender sein als der Ertrag. Damit ist auch die Frage der Sinnhaftigkeit von Geldwerten in der Zukunft verbunden. Das Schwergewicht der Bewertung könnte auf die psychologische Anerkenntnis eines Unternehmens hinweisen.
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