Die Idee, dass die CDU ihren eigenen Kanzlerkandidaten – in diesem Fall Friedrich Merz – zur Abstimmung im Bundestag stellt, ist theoretisch durchaus schlüssig und könnte den Weg für eine neue Regierungsbildung schnell ebnen. Doch es gibt mehrere strategische und politische Gründe, warum sich die Union derzeit zögert, diesen Schritt zu gehen.
1. Keine eigene Mehrheit im Bundestag
Die CDU/CSU verfügt momentan nicht über die erforderliche Mehrheit, um Friedrich Merz direkt zum Kanzler wählen zu lassen. Selbst wenn die FDP und die AfD einem Kandidaten Merz ihre Unterstützung zusichern würden, was bereits politisch höchst umstritten wäre, reichten die Stimmen rechnerisch nicht aus, um eine Mehrheit zu sichern. Dazu müsste die CDU/CSU entweder die Grünen oder Teile der SPD auf ihre Seite ziehen – ein Szenario, das derzeit unrealistisch erscheint.
2. Strategisches Abwarten
Indem die CDU Druck auf Olaf Scholz ausübt, die Vertrauensfrage zu stellen, möchte sie die Verantwortung für das Scheitern der Regierung auf ihn abwälzen. Eine eigene Initiative zur Kanzlerwahl könnte der Union den Vorwurf einbringen, sie wolle die politische Krise aktiv verschärfen, anstatt zur Stabilität beizutragen. Merz und seine Partei scheinen darauf zu setzen, dass Scholz von selbst stolpert – eine Situation, die der Union in der öffentlichen Wahrnehmung mehr Legitimation verschaffen könnte, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen.
3. Angst vor dem politischen Risiko
Ein gescheiterter Versuch, Friedrich Merz zum Kanzler zu machen, könnte die CDU/CSU politisch erheblich schwächen. Eine Abstimmungsniederlage im Bundestag wäre nicht nur eine Blamage, sondern würde auch Merz‘ Position als Oppositionsführer gefährden. Die Partei könnte als machtlos wahrgenommen werden, was gerade in einer Phase, in der es auf Geschlossenheit und Führungsstärke ankommt, schwer wiegt.
4. Fehlende Koalitionsoptionen
Selbst wenn Merz im Bundestag gewählt würde, stünde die Frage im Raum, mit wem er regieren soll. Eine Minderheitsregierung ist in Deutschland historisch selten und äußerst schwierig. Koalitionen mit der AfD oder eine Zusammenarbeit mit dieser Partei würden die Union politisch isolieren und zu internen Zerwürfnissen führen. Gleichzeitig ist eine Zusammenarbeit mit den Grünen oder der SPD angesichts der aktuellen politischen Differenzen und gegenseitigen Vorbehalte kaum denkbar.
5. Taktik: Die Regierung weiter unter Druck setzen
Für die Union könnte es taktisch klüger sein, Scholz und seine Regierung weiter zu destabilisieren, indem sie regelmäßig die fehlende Mehrheit der SPD-geführten Regierung im Bundestag thematisiert. Dieses Szenario würde Scholz zunehmend als handlungsunfähig darstellen und die CDU/CSU in eine Position der Stärke bringen, ohne selbst das Risiko eines Scheiterns einzugehen.
6. Die Neuwahlen-Karte
Letztlich könnte die CDU darauf setzen, dass die Vertrauensfrage von Scholz früher oder später ohnehin zu Neuwahlen führt. Eine solche Wahl könnte der Union ermöglichen, gestärkt und mit einer klaren Mehrheit aus der Krise hervorzugehen – ein deutlich sichererer Weg, als sich im aktuellen Bundestag auf wackelige Mehrheiten zu verlassen.
Fazit: Politisches Kalkül und Vorsicht
Die CDU scheint derzeit zu zögern, Friedrich Merz selbst zur Kanzlerwahl im Bundestag aufzustellen, weil das politische Risiko hoch und die Erfolgsaussichten gering sind. Stattdessen versucht die Partei, Olaf Scholz in die Defensive zu drängen und die politische Verantwortung für die Krise bei ihm zu belassen. Die Union wartet ab, ob sich die Situation so entwickelt, dass sie ohne eigenes Risiko in eine bessere Ausgangsposition für mögliche Neuwahlen oder eine Regierungsübernahme gelangt.
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