Der Artikel bietet eine kompakte Rechtsprechungsübersicht zum Thema des Widerrufs bzw. Widerspruchs von Versicherungsverträgen. Der Autor, selbst seit Jahren auf diesem Rechtsgebiet tätig, ist der Meinung, dass hiermit dem Versicherungskunden Mut gemacht werden kann, in die Schlacht zu ziehen.
Das frühere sog. „Policenmodell“
Nach dem sog. „Policenmodell“ stellte der Versicherungsnehmer, zumeist nach Beratung durch den Versicherungsvermittler, den Antrag auf Abschluss eines Versicherungsvertrages, indem er ein ihm vom Versicherungsunternehmen bzw. dem Versicherungsvermittler vorgelegtes Antragsformular ausfüllte und unterschrieb. Dieses Vertragsangebot nahm der Versicherer dadurch an, dass er dem Versicherungsnehmer mit der Versicherungspolice die allgemeinen Versicherungsbedingungen und die für den Vertragsschluss maßgeblichen Verbraucherinformationen übersandte. Hiermit kam aber noch kein wirksamer Vertrag zustande. Nach dem früheren § 5a Abs. 1 Satz 1 des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) galt der Versicherungsvertrag vielmehr nur geschlossen, „wenn der Versicherungsnehmer nicht innerhalb von 14 Tagen nach Überlassung der Unterlagen schriftlich widerspricht“. Bis zum Ablauf dieser Frist war der Vertrag schwebend unwirksam.
Versäumte das Versicherungsunternehmen die Belehrung oder nahm es eine fehlerhafte Belehrung über das Widerspruchsrecht vor, insbesondere belehrte es den Versicherungsnehmer nicht in drucktechnisch deutlicher Form über sein Widerspruchsrecht, so erlosch nach dem ausdrücklichen Gesetzeswortlaut in § 5a Abs. 2 Satz 3 des VVG a.F. das Recht zum Widerspruch ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie. Im Rahmen der Reform des Versicherungsvertragsgesetzes wurde das Policenmodell kontrovers diskutiert. Während der Rechts- und Wirtschaftsausschuss des Bundesrates das Policenmodell als bewährt, sachgerecht und unbürokratisch lobte, wurde es seitens der Bundesregierung kritisiert, da der Versicherungsnehmer nicht frühzeitig über Rechte und Pflichten informiert wurde. Mit dem derzeit aktuellen § 7 des VVG wurde das bis zum Jahr 2007 in der Versicherungspraxis verbreitete Policenmodell abgeschafft. Im Fernabsatz ist eine nachträgliche Informationsübermittlung nach wie vor möglich. Ansonsten ist der Versicherungsnehmer bereits vor Abgabe einer Vertragserklärung mit den Einzelheiten des Vertrages vertraut zu machen.
Ewiges Widerrufsrecht
Dies hat aber nichts daran geändert, dass heutzutage noch viele nach dem Policenmodell abgeschlossene Lebens- und Rentenversicherungsverträge widerrufen werden und auch weiterhin widerrufen werden können. Hintergrund ist eine Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) aus dem Jahr 2014, mit dem der BGH hier ein unbegrenztes, d.h. ewiges Widerrufsrecht der nach dem Policenmodell abgeschlossenen Lebens- und Rentenversicherungsverträge anerkannt hat. Dogmatisch hat der Bundesgerichtshof, Urteil vom 07.05.2014, Az. IV ZR 76/11, dies damit begründet, dass der frühere § 5a des VVG europäische Richtlinien umsetzen sollte, in den Richtlinien aber gerade für den Bereich der Lebens- und Rentenversicherung und der Zusatzversicherungen zur Lebensversicherung zeitliche Begrenzungen nicht vorgesehen sind. Der frühere § 5a Abs. 2 des VVG sei daher richtlinienkonform derart auszulegen, dass die zeitliche Begrenzung im Bereich der Lebens- und Rentenversicherung und der Zusatzversicherungen zur Lebensversicherung nicht anwendbar ist.
Diese rechtlich zunächst bei den Untergerichten kaum verstandene These wurde maßgeblich durch Rechtsanwalt Dr. Sven Tintemann und sein Team von Rechtsanwälten und Experten gemeinsam mit einem Prozessfinanzierer aus der Schweiz entwickelt und setzte sich letztendlich vor dem EuGH und danach dann auch vor dem BGH durch.
Dies bedeutet: Wurde der Versicherungsnehmer zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses nicht ordnungsgemäß über sein Widerrufsrecht belehrt, so besteht noch heute ein Widerrufsrecht. Dieses kann auch heute und damit nach mehreren Jahren noch immer geltend gemacht werden. In seiner Grundsatzentscheidung hatte der Bundesgerichtshof nämlich klargestellt, dass das Recht zum Widerspruch entgegen der Sichtweise verschiedener Versicherungsunternehmen noch nicht verwirkt sei. Ein Recht sei nämlich nur verwirkt, wenn seit der Möglichkeit der Geltendmachung längere Zeit verstrichen sei (Zeitmoment) und besondere Umstände hinzutreten, die die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen (Umstandsmoment). Jedenfalls am Umstandsmoment fehle es jedoch. Das Versicherungsunternehmen sei nicht schutzwürdig, habe es die Situation doch selbst herbeigeführt, indem es keine ordnungsgemäße Widerspruchsbelehrung erteilt habe.
Diese Auslegung eines ewigen Widerrufsrechts bei Lebens- und Rentenversicherungsverträgen hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) jüngst mit Beschluss vom 23.05.2016, Az. 1 BvR 2230/15 und 1 BvR 2231/15 bestätigt. Diese steht daher auf sicherem juristischen Fundament, was der Versicherungswirtschaft wenig gefallen dürfte. Diese kann jetzt maximal über Staatshaftungsansprüche wegen fehlerhafter Umsetzung des europäischen Rechts in das deutsche Recht nachdenken.
Aus der aktuellen Rechtsprechung
Vielen Versicherungsnehmern ist dieses ewige Widerrufsrecht nicht bewusst. Kann es der Versicherungskunde erfolgreich gerichtlich durchsetzen, so besteht grundsätzlich ein Anspruch auf Rückzahlung der eingezahlten Prämien abzüglich des Wertes für den genossenen Versicherungsschutz. Jüngst hat der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 11.05.2016 zum Az. IV ZR 334/15 diesen Rückzahlungsanspruch des Versicherungsnehmers wie folgt errechnet: Summe der eingezahlten Versicherungsprämien abzgl. des Wertes des Risikoschutzes abzgl. des Aktienwertes abzgl. Kapitalertragssteuer abzgl. Solidaritätszuschlag und abzgl. des ja noch immer bestehenden restlichen Rückkaufswertes, den der Versicherungskunde aber meist schon durch Kündigung seines Versicherungsvertrages erlangt hat.
Auch sonst ergehen derzeit ständig vielfältige Gerichtsentscheidungen zu diesem Thema, welche die verschiedenen Detailfragen einer ordnungsgemäßen Belehrung beleuchten:
So hat etwa der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 13.07.2016 zum Az. IV ZR 329/15 entschieden, dass auch ein Versicherungsmakler, der für sich selbst einen Kapitallebensversicherungsvertrag abgeschlossen hat, sich auf eine wegen nicht Erwähnung der Textform des Widerspruchs unzulängliche Belehrung berufen kann, wenn nicht feststeht, dass er die Einzelheiten seines Widerspruchsrechts genau gekannt hat.
Mit Urteil vom 01.06.2016 zum Az. IV ZR 482/14 hat der Bundesgerichtshof zudem entschieden, dass eine ordnungsgemäße Widerspruchsbelehrung den Hinweis auf das gesetzliche Formerfordernis verlange. Dem genüge der Hinweis nicht, zur Fristwahrung genüge die rechtzeitige „Absendung“ der Widerspruchserklärung. Eine derartige Belehrung sei auch nicht so zu verstehen, dass dem Versicherungsnehmer eine über den gesetzlichen Standard hinausgehende Möglichkeit zum mündlichen Widerspruch eingeräumt werden sollte.
Fazit
Wer im Policenmodell einen Lebensversicherungs- oder Rentenversicherungsvertrag abgeschlossen hat, dem steht weiterhin ein ewiges Widerrufsrecht zu, sofern er nicht ordnungsgemäß über sein Widerrufsrecht belehrt wurde. Hinsichtlich der Einzelheiten einer ordnungsgemäßen Belehrung besteht eine, teils unübersichtliche Vielzahl an Gerichtsentscheidungen, sodass die Ordnungsgemäßheit der Widerrufsbelehrung nur ein Rechtskundiger, meist auf das Versicherungsrecht oder Bank- und Kapitalmarktrecht spezialisierter Rechtsanwalt prüfen kann. Für den Versicherungsnehmer heißt dies, seinen Versicherungsvertrag möglichst von einem erfahrenen Anwalt prüfen zu lassen, wenn er mit dem Gedanken spielt, den Vertrag zu widerrufen.
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