Die Veröffentlichung von Christian Lindners Grundsatzpapier zur Wirtschaftspolitik könnte in der Tat als taktischer Schritt betrachtet werden, der eine mögliche Distanzierung der FDP von der Ampel-Koalition vorbereitet. Die darin formulierten Forderungen – die teils deutliche Abkehr von bisherigen Regierungsentscheidungen und die sehr klaren Positionen zur Haushaltskonsolidierung – wirken wie ein Signal, dass Lindner und die FDP nicht mehr bereit sind, bei den Kompromissen der Ampel uneingeschränkt mitzuziehen.
Ein wesentlicher Aspekt ist, dass Lindner und die FDP mit diesem Papier im Grunde schon eine Art politische Schuldzuweisung formulieren: Sollte es zu einem Scheitern der Koalition kommen, wäre aus ihrer Sicht klar, dass dies nicht an einem „Verrat“ der FDP liegt, sondern daran, dass die anderen Partner ihre Forderungen nicht unterstützen. Diese Strategie erinnert in der Tat an das Lambsdorff-Papier von 1982, das ebenfalls klare und kompromisslose wirtschaftsliberale Positionen formulierte und damit den Bruch der damaligen sozial-liberalen Koalition provozierte.
Indem Lindner dieses Papier zunächst nur „intern“ diskutieren wollte und sich dann über die Veröffentlichung beklagte, könnte er sich absichern: Die Vorschläge wirken wie eine ernsthafte, wenn auch harte, Diskussionsgrundlage innerhalb der Koalition. Sollte die SPD oder die Grünen die darin enthaltenen Forderungen strikt ablehnen, könnte die FDP argumentieren, dass die Koalitionspartner nicht willens seien, auf dringend notwendige wirtschaftspolitische Erneuerungen einzugehen – was wiederum einen möglichen Austritt der FDP rechtfertigen würde, ohne dass sie als die „Spalter“ dasteht.
Es ist ein Balanceakt: Lindner scheint hier eine Trennung vorzubereiten, aber auf eine Weise, die es ihm ermöglicht, später zu sagen, dass die FDP bis zuletzt konstruktiv geblieben ist und dass der Bruch, falls er kommt, nicht an ihnen lag. Gerade weil die FDP innerhalb der Ampel-Koalition oft das Gefühl hat, ihre Positionen werden von SPD und Grünen ignoriert oder marginalisiert, könnte dieses Papier auch als „letzte Warnung“ gelesen werden.
Insgesamt könnte man also sagen, dass Lindner sich nicht aktiv „herausschmeißen“ lassen will, aber er könnte eine politische Situation herbeiführen, in der die FDP als Partei dasteht, die zwar für ihre Prinzipien eingestanden ist, aber letztlich von den Koalitionspartnern in eine unhaltbare Lage gebracht wurde. Ob die FDP letztlich wirklich aus der Koalition aussteigt oder sich die Partner doch noch auf einen Kompromiss einigen, wird sich voraussichtlich bei den Haushaltsberatungen im November zeigen.
Leave a comment