Az.: 3 OH 2767/22 KapMuG(3 O 5875/20)
wegen KapMug-Verfahren
erlässt das Landgericht München I – 3. Zivilkammer – durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht Falk, die Richterin am Landgericht Zobel und den Richter Weiß am 14.03.2022 folgenden
Beschluss
I.
Vorlage
Dem Bayerischen Obersten Landesgericht werden gemäß § 6 Abs. 1 KapMuG folgende Feststellungsziele zur Herbeiführung eines Musterentscheids
vorgelegt:
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II.
Lebenssachverhalt (§ 6 Abs. 3 Nr. 2 KapMuG)
Die Kläger nehmen die Beklagten auf Schadensersatz in Bezug auf Aktienerwerbe von Aktien der Wirecard AG (WKN: DE0007472060) in Anspruch. |
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Die Klägerin zu 1) begehrt im Wege des Schadensersatzes in Bezug auf Aktiengeschäfte zwischen dem 11.07.2017 und 19.06.2020 einen sogenannten Kursdifferenzschaden in Höhe von € 1.105.664,75 (Berechnung Anlage K1.3 neu). |
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Die Klägerin zu 1) sieht als Anspruchsgrundlage für eine Haftung der Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Delikt wegen der Erstellung falscher Bestätigungsvermerke sowie wegen Beihilfe zu kapitalmarktrechtlichen Pflichtverletzungen der Wirecard AG gemäß §§ 826, 31 BGB, § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 332 Abs. 1 HGB, 31 BGB, §§ 830 Abs. 1, Abs. 2, 840, 31 BGB, §§ 325 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 331 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 HGB, § 400 AktG, §§ 37b, 37c WpHG, § 37v WpHG, §§ 97, 98 WpHG. |
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Die Kläger zu 2) bis 11) schließen sich insoweit den Ausführungen der Klägerin zu 1) an. |
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Der Beklagte Dr. Markus Braun war Vorstandvorsitzender der Wirecard AG, die Beklagte Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Abschlussprüferin für die Jahres- und Konzernabschlüsse der Wirecard AG für die Jahre 2014 bis 2018, wobei sie jeweils einen uneingeschränkten Bestätigungsvermerk erteilt hatte. |
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Die Klägerin zu 1) macht Schadensersatzansprüche gegen den Beklagten Dr. Markus Braun wegen unterlassener unverzüglicher Veröffentlichung von Kapitalmarktinformationen sowie Veröffentlichung unwahrer Ad hoc-Mitteilungen in Zusammenhang mit dort zu verantwortender Finanzmanipulation geltend. |
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Bei der zwischenzeitlich insolventen Wirecard AG handelte es sich um ein 1999 gegründetes Zahlungsdiensteunternehmen. Nach Übernahme der Xcom Bank verfügte sie über eine Bank mit Banklizenz. Die Wirecard AG arbeitete im Rahmen ihrer Geschäfte auch mit Partnerunternehmen in Ländern zusammen, in welchen sie keine Lizenz als Zahlungsdienstleister hatte, um Zahlungen abzuwickeln, wobei der Begriff „Third Party Acquiring“ (TPA) benutzt wird. Hierbei sahen die Verträge vor, dass die Partnerunternehmen Kreditkartentransaktionen für Kunden abwickeln, die durch die Wirecard AG vermittelt wurden. Die Wirecard AG verpflichtete sich hierbei, die Partner von Vermögensverlusten aus der Geschäftsbeziehung schadlos zu halten, wodurch insbesondere Schäden aus der Rückabwicklung von Zahlungsvorgängen umfasst sein sollten. Die Besicherung sollte hierbei über die Stellung treuhänderisch verwalteter Barsicherheiten auf Treuhandkonten erfolgen. Die Bilanzen der Wirecard AG seien in verschiedenen Eskalationsstufen manipuliert gewesen, wobei in eklatantem Ausmaß Umsatzerlöse erfunden worden seien. Insbesondere manipuliert gewesen sei die Darstellung des Bestands an liquiden Mitteln. |
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Bei der Wirecard AG habe es drei Gesellschaften gegeben, über die das TPA-Geschäft abgewickelt worden sei. Diese wiederum hätten das TPA-Geschäft mit drei TPA-Partnern betrieben. Die drei sogenannten „Wirecard-Gesellschaften“ seien gewesen: die „Wirecard UK & Ireland Ltd.“ mit Sitz in Dublin, die „Wirecard Technologies GmbH“ mit Sitz in Aschheim sowie die „Cardsystems Middle East FZ LLC“ mit Sitz in Dubai. Diese drei sogenannte „Wirecard-Gesellschaften“ hätten das TPA-Geschäft mit den TPA-Partnern „Al Alam Solution Provider FZ-LLC“ mit Sitz in Dubai, der „Senjo Payments Asia Pte. Ltd.“ mit Sitz in Singapur sowie mit der„PayEasy Solutions Inc“. mit Sitz Metro Manila betrieben. |
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Die Leistung der Wirecard AG selbst sei gewesen, Kunden an die TPA-Partner vermittelt und Ausfallrisiken übernommen zu haben. |
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Die von der Wirecard AG zu leistenden Sicherheiten seien sehr hoch gewesen, bereits im Jahr 2015 hätten sie mehr als 100 Mio. € betragen, der Betrag zur Absicherung von Forderungsausfällen hätte im Jahr 2020 1,9 Mrd. € betragen. |
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Die hohen Gewinne von Wirecard mit dem TPA-Geschäft seien unplausibel gewesen. Treuhandkonten für Sicherheiten seien nicht in Deutschland und Europa eingerichtet worden. Als Treuhänder sei eine „Citadelle Corporate Services Pte. Ltd.“ in Singapur eingesetzt gewesen, deren Inhaber Herr Rajaratnam Shanmugaratnam gewesen sei, der in Singapur eine Tanzbar betrieben habe. Die in Singapur erforderliche Lizenz habe nicht bestanden. Durch die Beklagte Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft sei die Verlässlichkeit des Treuhänders nicht hinterfragt gewesen. |
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Ende des vierten Quartals 2019, zur Zeit einer von der Wirecard AG veranlassten Prüfung durch die KPMG, sei als neuer Treuhänder Herr Mark Christopher Tolentino aus Makati City auf den Philippinen eingesetzt gewesen, ein Rechtsanwalt für Familienrecht. |
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Der Vertragspartner des TPA-Partners PayEasy sei ein Unternehmen namens Maxcone (später ConePay), Centurion Online Payment International gewesen, dessen Büro eine verlassene Lagerhalle in Las Piñas auf den Philippinen gewesen sei. |
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Die Fragwürdigkeit von Geschäftspartnern sei nicht durch die Beklagte Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft ausreichend hinterfragt gewesen. |
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Im Rahmen des TPA-Geschäfts seien Umsatzerlöse von Wirecard fingiert worden. Im Geschäftsjahr 2015 hätten sich fingierte Gelder in Höhe von 113,5 Mio. € auf Treuhandkonten befunden, darüber hinaus seien 250 Mio. € an Forderungen fingiert gewesen. Damit sei der Geschäftsbericht des Jahres 2015 grob unrichtig gewesen. Fingierte Umsatzerlöse und fingierte Forderungen hätten in den Folgejahren zugenommen. |
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Die Beklagte Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft habe gegenüber Wirecard im Jahr 2015 angeregt, das Problem nicht bezahlter Forderungen mithilfe von Treuhandkonten zu lösen. Gleichzeitig habe diese Gelder auf den Treuhandkonten als Zahlungsmittel und Zahlungsmitteläquivalente akzeptiert. So sei für bilanzkundige Leser der falsche Eindruck entstanden, dass Wirecard über eine große Menge an Bargeld verfüge. Insgesamt sei das TPA-Geschäft nicht plausibel gewesen. Im Übrigen seien die Treuhandkonten falsch bilanziert gewesen, die Wirecard AG habe von 2016 bis 2018 keine Saldenbestätigungen für Treuhandkonten über rund 1 Mrd. € vorgelegen können. Damit sei die Bilanzierung als Zahlungsmitteläquivalente falsch gewesen. |
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Die Beklagte Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft habe bedingt vorsätzlich öffentlich geäußerte Vorwürfe ignoriert und sich entgegen Prüfungsstandards nicht, wie es notwendig gewesen wäre, in Unterlagen vertieft und ausreichend Einsicht genommen. Sie habe ihre Aufgabe als Abschlussprüferin nicht zureichend wahrgenommen. Insbesondere Risiken seien niemals hinterfragt gewesen. Nicht hinterfragt worden sei auch das unangemessene Risikomanagementsystem für das TPA-Geschäft. |
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In Bezug auf das Indien-Geschäft von Wirecard sei im Jahr 2016 von einem Informanten aus den eigenen Reihen über massive Unregelmäßigkeiten die Beklagte Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft in Kenntnis gesetzt gewesen, insbesondere, dass leitende Mitarbeiter von Wirecard möglicherweise Betrug begangen haben könnten. Dies sei per Brief im Mai 2016 der Unternehmenszentrale der Beklagten Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft in Stuttgart gemeldet gewesen. Die Beklagte Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft habe unter dem Codenamen „Projektring“ eine Untersuchung durch ihr EY Fraud Team durchgeführt. Die Feststellungen dieses Teams seien sodann vom Prüfungsteam von Ernst & Young für das Jahr 2017 nicht ordnungsgemäß geprüft gewesen. Dem Verdacht hätte weiter nachgegangen werden müssen, insbesondere hätte sie über diese Angelegenheit im Bestätigungsvermerk Angaben machen und aufklären müssen. Auch hätte zwingend offengelegt werden müssen, dass es Wirecard an einem internen Kontrollsystem gemangelt habe. Die Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft habe der Wirecard AG vorsätzlich für die Jahre 2015 bis 2018 falsche Bestätigungsvermerke erteilt. |
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Der Beklagte Dr. Markus Braun sei als Vorstandsvorsitzender für betrügerische Handlungen der Wirecard AG verantwortlich. Die Beklagte Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft habe durch unzureichende Prüfungshandlungen und falsche Bestätigungsvermerke diese Art der Unternehmungsführung aufrechterhalten. Insbesondere sei nicht einmal die Echtheit und Existenz von Kontoauszügen von Treuhandkonten bzw. Banksaldenbestätigungen geprüft gewesen. |
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Die Kläger benennen u. a. einzelne handelnde Prüfer als Zeugen. Im Übrigen verweisen die Musterkläger u. a. auf den Abschlussbericht des dritten Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages vom 22.06.2021 einschließlich des von den Ermittlungsbeauftragten erstellten sogenannten „Wambach-Bericht“. Weiter verweisen die Kläger auf den im Auftrag der Wirecard AG selbst erstellten sogenannten KPMG-Bericht. |
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Bei zutreffender Berichterstattung hätten die Musterkläger die getätigten Aktiengeschäfte nicht durchgeführt und die vorgetragenen Verluste, die einen deliktischen Schaden darstellten, nicht erlitten. Der Lagebericht habe kein zutreffendes Bild von der Lage der Gesellschaft gezeichnet, Testate in Formen von uneingeschränkten Bestätigungsvermerken hätten nicht erteilt werden dürfen. |
III.
Öffentliche Bekanntmachung
Dieser Vorlagebeschluss ist gemäß § 6 Abs. 4 KapMuG im Klageregister öffentlich bekanntzumachen.
Gründe:
A. Übersicht von Daten des Verfahrens und Beteiligten
Verbliebene Beklagte
1. Dr. Braun Markus, Am Fliegerhorst 1, 86456 Gablingen,
2. Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, vertreten durch die Geschäftsführer, Flughafenstraße 61, 70629 Stuttgart.
Betroffener Emittent oder Anbieter von Kapitalanlagen
Wirecard AG, Einsteinring 35, 85609 Aschheim
Prozessgericht nebst Aktenzeichen:
Landgericht München I, 3 O 5875/20
Eingang des Musterfeststellungsantrags beim Prozessgericht:
13.07.2021.
Eingang des Erweiterungsantrags beim Prozessgericht:
11.08.2021.
B. Begründung
I. Verlauf des Verfahrens
In dem beim Landgericht München I anhängigen Rechtsstreit 3 O 5875/20, für dessen Gegenstand auf den unter Tenor Ziffer II dargestellten Lebenssachverhalt verwiesen wird, hat die Klagepartei zu 1) zunächst unter dem 12.05.2020 Klage gegen die Wirecard AG erhoben und einen Musterverfahrensantrag nach § 3 KapMuG gestellt. Diese Klage erweiterte sie mit Schriftsatz vom 30.06.2020 betragsmäßig sowie um weitere Beklagte zu 2) Dr. Markus Braun, zu 3) Jan Marsalek, zu 4) Alexander von Knoop und zu 5) Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft und stellte einen weiteren Musterverfahrensantrag.
Der Rechtsstreit geriet infolge des Versterbens des Klägervertreters und folgender einverständlicher Gewährung von Schriftsatzfristen in faktischen Stillstand.
Unter dem 08.07.2021, eingegangen bei Gericht am 13.07.2021, hat sodann die Klageseite mit Schriftsatz den Rechtsstreit um neue Klageparteien zu 2) bis 11), welche allesamt die Beklagte Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft in Anspruch nehmen, erweitert. Mit gleichem Schriftsatz legte sie einen vollständig überarbeiteten und erweiterten Musterfeststellungsantrag vor (Bl. 441 RS ff, 3 O 5875/20). Mit Schriftsatz vom 11.08.2021 erweiterten die Kläger den Musterfeststellungsantrag um weitere Feststellungsziele (Bl. 459, 3 O 5875/20).
Die Kammer hat aufgrund des Umfangs und der Schwierigkeit des Verfahrens unter Gewährung von Schriftsatzfristen mit Beschluss vom 10.02.2022 (Bl. 571/575) die Frist gemäß § 3 Abs. 3 KapMuG für die Bekanntgabe von Musterverfahrensanträgen im Klageregister bis zum 22.03.2022 verlängert. Dies war unter anderem auch damit begründet, dass auf Ebene des Berichterstatters zum 01.01.2022 ein Personalwechsel in der Kammer stattgefunden hat. Gleichzeitig ist im Februar 2022 in der Kammer bedauerlicherweise eine COVID-Problematik mit einer häuslichen Quarantänesituation aufgetreten.
Aufgrund der Komplettüberarbeitung der Musterfeststellungsanträge ist maßgebliches Eingangsdatum der 13.07.2021 (vgl. Vorwerk/Wolf, KapMuG, 2020, § 3, Rdzi. 49).
Die Klage war zunächst gerichtet gegen die Wirecard AG als ursprüngliche Beklagte zu 1). Gegen die Beklagte Wirecard AG wurde nach Zustellung der Klage mit Beschluss vom 25.08.2020 durch das Amtsgericht München, Geschäftszeichen 1542 IN 1308/20, das Insolvenzverfahren über deren Vermögen wegen Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung eröffnet. Mit Beschluss vom 23.02.2022 wurde insoweit der Rechtsstreit gegen die ursprüngliche Beklagte zu 1) abgetrennt.
Ursprünglich Beklagter zu 2) war Herr Dr. Markus Braun. Ursprünglich Beklagter zu 3) war Herr Jan Marsalek. Die Klage gegen Herrn Jan Marsalek wurde durch die Klagepartei mit Schriftsatz vom 28.09.2020 zurückgenommen.
Ursprünglich Beklagter zu 4) war Herr Alexander von Knoop. Die Klage gegen Herrn Alexander von Knoop wurde mit Schriftsatz vom 26.01.2021 zurückgenommen.
Verbliebene Beklagte im Rechtsstreit sind somit Herr Dr. Markus Braun und die Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft.
Der Beklagte Dr. Markus Braun verkündete Herrn James H. Freis den Streit. Der Streitverkündete trat mit Schriftsatz vom 26.10.2021 (Bl. 463, 3 O 5875/20) dem Rechtsstreit auf Seiten der Klägerin zu 1) bei.
Seitens der Beklagten ist dem Musterverfahrensantrag entgegengetreten:
Der Beklagte Dr. Markus Braun bestreitet die Zulässigkeit des Kapitalmusterverfahrens, pflichtwidriges Verhalten sowie eine haftungsrechtliche Kausalität.
Die Beklagte Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft ist der Ansicht, der Kapitalmusterantrag sei unzulässig, dies insbesondere auch aufgrund des Charakters von Bestätigungsvermerken. Im Übrigen seien die erteilten Bestätigungsvermerke nicht unrichtig. Die Abschlussprüfaufträge entfalteten keine drittschützende Wirkung für die Klagepartei. Die berufsspezifischen Abschlussprüfpflichten seien erfüllt und eine etwaige aus ihrer Sicht tatsächlich nicht vorhandene Pflichtverletzung nicht fahrlässig, vorsätzlich oder sittenwidrig erfolgt.
II. Inhalt der Musterverfahrensanträge wie zuletzt gestellt
Der Antrag und die Erweiterung haben folgenden Inhalt
(seitens des Gerichts wurden hinsichtlich der Parteibezeichnungen redaktionell deren tatsächlichen Namen eingefügt):
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III. Zulässigkeit – Zuständigkeit
1.
Das Landgericht München I ist für die Entscheidung über den Vorlagebeschluss nach § 6 Abs. 2 KapMuG zuständig. Ausweislich des Klageregisters sind keine zeitlich vorhergegangenen Musterverfahrensanträge zum vorliegenden Gegenstand bekannt gemacht worden.
Innerhalb des Landgerichts München I ist die 3. Zivilkammer zuständig. § 2 Abs. 2 KapMuG sieht vor, dass für den Vorlagebeschluss das Prozessgericht zuständig ist, bei dem der erste bekannt gemachte Musterverfahrensantrag gestellt wurde. Bei der 3. Zivilkammer ist in der Sache der erste Musterverfahrensantrag eingegangen.
2.
Es liegen in diesem Verfahren 11 gleichgerichtete Musterverfahrensanträge von 11 Klageparteien vor. Das Gericht hat daher gem. § 3 Abs. 4 KapMuG davon abgesehen, die klägerischen Musterverfahrensanträge öffentlich bekanntzumachen, weil die Voraussetzungen für die Einleitung eines Musterverfahrens nach § 6 Abs. 1 Satz 1 KapMuG bereits vorliegen. Insbesondere ist mit 11 Klageparteien das erforderliche Quorum erreicht (vgl. weiter Kruis in Kölner Kommentar zum KapMuG, § 3 Rn 125). Die Klageparteien haben mitgeteilt, dass eine vorherige Bekanntmachung entbehrlich sei.
IV. Zulässigkeit der Antragstellung
Der Musterverfahrensantrag einschließlich seiner Ergänzung ist mit allen Feststellungszielen zulässig.
1.
Der Anwendungsbereich des Kapitalanlegermusterverfahrensgesetzes ist eröffnet, weil es sich bei den Geschäftsberichten 2014 bis 2018 und den Bestätigungsvermerken um öffentliche Kapitalmarktinformationen im Sinne von § 1 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 5 KapMuG handelt. Damit ist die Kapitalmusterantragstellung statthaft. Die Aufzählung in § 1 Abs. 2 Satz 2 KapMuG („insbesondere“) ist offen unvollständig und bezieht in der Parallelität zu den übrigen Regelbeispielen „Jahresabschlüsse, Lageberichte, Konzernabschlüsse, Konzernlageberichte sowie Halbjahresfinanzberichte“ die dazugehörenden Bestätigungsvermerke ein, die diese Unterlagen als zutreffend bewerten (siehe OLG Stuttgart, Beschluss vom 28.06.2021, Gz. 12 AR 6/21 sowie 12 AR 17/21 jeweils TZ 15ff; Beschluss OLG München, Gz. 3 U 6014/21, Seite 11 ff.; Hinweise OLG München, Gz. 8 U 6063/21, Seite 11, Argument aus Vorwerk/Wolf, KapMuG 2020, § 1, Rdzi. 32 a.E. zu der bewusst nicht abschließend gefassten Aufzählung der Beispiele). Gestützt wird dies durch den Beschluss Bayerisches Oberstes Landesgericht vom 28.10.2021, Gz. 102 AR 97/21, der in einem Parallelverfahren (Landgericht München I, 27 O 2514/21) die Zuständigkeit des Landgerichts München I bestimmt und ausführt: „Hätte die Beklagte…“ (hier die Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft) „… pflichtgemäß gehandelt und kein fehlerhaftes Testat erteilt, wäre es nicht zum Schaden gekommen. Die rechtliche Bewertung des Sachverhalts durch das Amtsgericht, wonach damit streitgegenständlich ein Anspruch sei, der (unmittelbar) auf einer unrichtigen Kapitalmarktinformation beruhe, ist weder fernliegend noch unverständlich, mag sich das Amtsgericht im Verweisungsbeschluss auch nicht näher damit befasst haben, wer nach Rechtsprechung unter welchen Voraussetzungen für eine fehlerhafte öffentliche Kapitalmarktinformation i.S.d. § 1 Abs. 2 KapMuG haftungsrechtlich verantwortlich ist. Weder hat das Amtsgericht den Gesetzeswortlaut missachtet, noch entgegenstehende gefestigte Rechtsprechung ignoriert, die sich ihm hätte aufdrängen müssen.“ Der Bundesgerichtshof hat sich dahingehend geäußert, dass Bestätigungsvermerken von Abschlussprüfern aufgrund verschiedener Publizitätsvorschriften die Bedeutung zukommt, allgemein Dritten einen Einblick in die wirtschaftliche Situation des publizitätspflichtigen Unternehmens zu gewähren und ihnen – sei es als künftigen Kunden beziehungsweise Gläubigern, sei es als an einer Beteiligung Interessierten – für ihr beabsichtigtes Engagement eine Beurteilungsgrundlage zu geben (BGH, Urteil vom 24.04.2014 – III ZR 156/13, TZ 21 – , juris).
Mit der Klage werden Schadensersatzansprüche wegen der Verwendung dieser nach dem Musterklagevortrag falschen oder irreführenden Kapitalmarktinformationen geltend gemacht (§ 1 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2 KapMuG). Zu klären sind damit die Anspruchsvoraussetzungen.
2.
Der Musterverfahrensantrag erfüllt die formellen Voraussetzungen von § 2 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3 KapMuG. Er wurde von den Musterklägern in einem erstinstanzlichen Verfahren bei dem zuständigen Prozessgericht im Sinne von § 32b ZPO gestellt und bezeichnet sowohl die Feststellungsziele und die öffentliche Kapitalmarktinformation als auch die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel.
In laufenden Verfahren sind insgesamt 11 Fälle gleich gelagerter Musteranträge anhängig. Im Übrigen sind wegen des Lebenssachverhalts eine Vielzahl von Schadensersatzklagen, welche sich gegen die hiesigen Beklagten, aber auch gegen weitere Beklagte richten, anhängig. Für das vorliegende wie für alle weiteren gleichgelagerte Rechtsstreitigkeiten hat die Entscheidung über die Feststellungsziele im Musterverfahren Bedeutung (§ 2 Abs. 3 KapMuG).
3.
Gegenstand des Antrags ist die Feststellung von anspruchsbegründenden Voraussetzungen für die geltend gemachte Haftung der Wirtschaftsprüfer wegen mindestens pflichtwidrig vorsätzlich sittenwidrigen Prüfungshandelns in Bezug auf behauptete Manipulationen des im Bereich der Wirecard AG. Dies sind taugliche Feststellungsziele im Sinne von § 2 Abs. 1 KapMuG bezüglich anspruchsbegründender oder auch anspruchsausschließender Voraussetzungen sowie weiterhin der notwendigen Klärung von Rechtsfragen.
4.
Die Entscheidung des zugrunde liegenden Rechtsstreits hängt im Sinne von § 3 Abs. 1 Ziffer 1 KapMuG von den geltend gemachten Feststellungszielen ab, die aufgrund der komplexen Situation verwoben sind und tatsächlich faktisch ineinander greifen müssen. So spielen Fragen der Korrektheit der Handlungsweise der Wirecard AG bzw. ihrer Repräsentanten wie des Vorstands in Fragestellungen der Prüfungsebene immer ein (vgl. zur Fragestellung zulässiger Feststellungsziele auch BGH Beschluss vom 17.12.2020, II ZB 31/14 nach WM 2021, 285ff).
a) Dies betrifft zunächst die Anträge A I. 1. bis 5 betreffend vorgetragener unrichtiger Wiedergabe der Verhältnisse der Wirecard AG in den Geschäftsberichten für die Jahre 2014 bis 2018. Sollten die Geschäftsberichte nämlich richtig gewesen sein, würden die begehrten Schadensersatzpflichten entfallen.
b) Hinsichtlich der Vorsatzfragen betrifft dies weiter die Feststellungsziele A I. 6. bis 7 bezüglich der Kenntnisse der Wirecard AG oder des Vorstandsvorsitzenden bzw. die Verursachung der vorgetragenen Unrichtigkeit der Geschäftsberichte dieser Jahre aufgrund vorsätzlichen oder mindestens grob fahrlässigen Verhaltens der Wirecard AG oder deren Vorstandsvorsitzenden. Dies ermöglichte jedenfalls auch Rückschlüsse auf etwaige prüferische Fehlleistungen.
c) Dies betrifft weiter das Feststellungsziel zu A II. 1 zu den Kenntnissen der Wirecard AG seit 07.04.2015, also dem Datum der Veröffentlichung des Geschäftsberichts für 2014, zur Diskrepanz der Treuhandkonten sowie die Qualifikationen als Insiderinformationen im Zusammenhang mit dem Drittpartnergeschäft, die vorgetragenerweise nicht die in den Konzernbilanzen der Wirecard AG ausgewiesenen Zahlungsmittel oder Zahlungsmitteläquivalente ausgewiesen hätten. Auch die Erkenntnisse aus diesen Feststellungszielen können ebenso wie die Klärung von Fragen sittenwidrigen vorsätzlichen Handelns ggfs. Rückschlüsse auf Pflichtwidrigkeiten im Rahmen des Prüfungshandelns zulassen.
d) Dies betrifft weiter die Feststellungsziele A. II 2, 3, 4 zu den Fragestellungen der Geschäftsberichte 2014 bis 2018 als Jahresfinanzberichte, Jahresabschlüsse oder Gesellschaftsverhältnisse mit weiteren rechtlichen und tatsächlichen Fragestellungen zu den Voraussetzungen deliktrechtlicher Haftung.
e) Dies betrifft weiter die Feststellungsziele A. II. 5., 6., 7., also vorgetragene unrichtige Wiedergaben und Verschleierungen in Geschäftsberichten 2014 bis 2018, Konzernabschlüssen bzw. Lageberichten des Vorstandsvorsitzenden als Mitglied eines vertretungsberechtigten Organs der Wirecard AG und damit verbundener handelsrechtlicher Verstöße; gerade Verschleierungen können Prüfungshandeln beeinflusst haben.
f) Dies betrifft weiter die Rechtsfrage in A. II. 8, 9 der Einwertung von Veröffentlichungshandlungen der Geschäftsberichte der Jahre 2014 bis 2018 durch Gesellschaft wie Vorstand als vorsätzlich sittenwidrig im Sinne des Deliktrechts.
g) Die Zulässigkeit ist weiter gegeben bei den Fragestellungen in B. I, II der vorgetragenen Teilnahmehandlungen der Wirtschaftsprüferin zu Fragestellungen der vorgetragenen Förderung von Verletzungen von gesetzlichen Publizitätspflichten der Wirecard AG, etwa durch Unterlassung unverzüglicher Veröffentlichung von Insiderinformationen oder Veröffentlichung unwahrer Informationen, durch die Wirtschaftsprüferin durch Erteilung uneingeschränkter Bestätigungsvermerke in den Konzernabschlüssen und rechtlichen Folgerungen des Deliktsrechts. Weiter betrifft dies die Fragestellung von etwaigen Förderungshandlungen der Wirtschaftsprüferin von Verletzungen der Publizitätspflichten durch unrichtige Bestätigungsvermerke.
h) Weiter ist dies gegeben hinsichtlich der vorgetragenen pflichtwidrigen Unterlassung, sich Originalkontoauszüge und Banksaldenbestätigungen zu Treuhandkonten zeigen zu lassen bzw. die Treuhandkonten zu prüfen (B. III.).
i) Weiter betrifft dies die Fragestellung C. der Ersatzfähigkeit eines sogenannten „Kursdifferenzschadens“ (BGH, WM 2021, 285ff TZ 340ff) ohne konkreten Kausalitätsnachweis.
j) Die Fragestellung in den Feststellungszielen D. zur Zulässigkeit des Rechtsstreits vor dem Landgericht im Sinne von § 71 Abs. 2 Ziffer 3 GVG (Antrag Ziffer D) ist ein zulässiges Feststellungsziel der Klärung der sachlichen Zuständigkeit. In einem Parallelverfahren mit zwischen Gerichten unterschiedlichen Ansichten zur Zuständigkeit hatte das Bayerische Oberste Landesgericht Gz. 102 AR 97/21) in einem Fall in Abgrenzung zum Amtsgericht München das Landgericht München I als zuständiges Gericht bestimmt. Auf Ebene der Oberlandesgerichte bzw. des Bayerischen Obersten Landesgerichts gibt es vorliegend lediglich fallbezogene Entscheidungen zur Klärung von Zuständigkeitsfragen (so OLG Stuttgart Gz. 12 AR 6/21, 12 AR 17/21, BayObLG 102 AR 97/21) sowie Hinweise des OLG München in nicht abgeschlossenen Verfahren (so 3 U 6014/21, 8 U 6063/21). Weitere eine generalisierende Rechtsprechung begründende Entscheidungen sind nicht bekannt.
5.
Die Entscheidung des Rechtsstreit hängt vorliegend nicht von vorab zu tätigenden Prüfungen der individuellen Kausalität ab. Bei der Wirecard AG handelt es sich um ein sogenanntes „DAX-Unternehmen“. Bei einem DAX-Unternehmen hätte, unterstellt, es wäre ein Testat verweigert oder auch nur eingeschränkt worden, sofort und unmittelbar eine massive Publizität mit durchschlagender Massenwirkung eingesetzt mit gegebenenfalls etwaigen insolvenzrechtlichen Folgespekulationen. Bei Darstellung von erheblichen Fehlbeträgen und unkontrollierten Scheingeschäften wäre also nicht nur eine erhebliche öffentliche Publizität entstanden, gegebenenfalls hätten sich die Folgen von Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit bereits vorher realisiert. Bei einem derartigen hypothetischen Kausalverlauf spricht ein Erfahrungssatz dafür, dass die jeweilige Klagepartei die vorgetragenen streitgegenständlichen Aktienkäufe dann nicht getätigt hätte. Dies betrifft sowohl Durchschnittsanleger, die in einem derartigen Fall die öffentliche mediale Berichterstattung mitbekommen hätten, wie auch erfahrene Anleger. Bei Kenntnis der behaupteten Machenschaften hätten gegebenenfalls Anleger nach aller Lebenserfahrung nicht gekauft (vgl. vertiefend OLG München, 3 U 6014/21, Beschluss vom 13.12.2021, Seite 5 ff.).
Dies gilt erst Recht für die vorliegenden vergleichsweise späten Aktienkaufzeiträume zwischen dem 11.07.2017 und dem 04.05.2020.
6.
Im Übrigen sind durch die Musterkläger zum Beweis der Feststellungsziele geeignete Beweismittel angeboten (§ 2 Abs. 3 KapMuG).
7.
Es bestehen keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Musterverfahrensantrag zum Zwecke der Prozessverschleppung gestellt worden wäre. Vielmehr wurden die jeweiligen Musterverfahrensanträge zeitgleich mit Klage- und Klageerweiterungsschriftsätzen gestellt. Vorliegend ist gerichtsbekannt eine erhebliche Anzahl von Parallelrechtsstreitigkeiten anhängig. Daher kann die Konzentration auf ein Musterverfahren in vorliegender Konstellation entscheidungsbeschleunigend wirken.
8.
Einreden gegen den Anspruch wie etwa Verjährung sind nicht vorgetragen.
9.
Die erfolgte Vorlage ist mit Rechtsmitteln nicht anfechtbar (§§ 3 Abs. 1, 6 Abs. 1 Satz 2 KapMuG).
Falk | Zobel | Weiß |
Vorsitzender Richter am Landgericht |
Richterin am Landgericht |
Richter |
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